Brüssel
Manzano erwachte von Getöse und Geschrei, und noch während er die Augen aufschlug, bemerkte er den eigenartigen Geruch, der sogar den Gestank überlagerte.
Feuer.
Panisch rappelte er sich zwischen den Stockbetten hoch und sah sofort die Flammen, die in der Saalmitte mannshoch loderten. Schwarzer Rauch stieg an die Decke, unter der er sich sammelte.
Viele Häftlinge hatten sich an den Rand des Saals zurückgezogen, eine große Traube drängte zur Tür, andere tobten um das Feuer, schrien, warfen Matratzen darauf, ob um die Flammen zu löschen oder weiter zu nähren, konnte Manzano nicht erkennen.
Der Rauch wurde dichter, sank von der Decke langsam herab.
Fenster gab es hier nur in etwa sechs Meter Höhe, und sie waren so schmal, dass sich niemand hätte hindurchzwängen können, selbst wenn er sie erreicht hätte.
Immer mehr Häftlinge stürmten zu der großen Tür, auch zu kleineren Ausgängen, die Manzano erst jetzt erkannte, riefen um Hilfe, donnerten mit den Fäusten dagegen, versuchten, sie mit den Metallgestellen der Betten zu rammen oder aufzubrechen.
Der Rauch kratzte in seinem Hals, rundum husteten die Gefangenen, hielten sich Tücher, Kleidungsstücke vor Mund und Nase.
Einige begannen, unter den Fenstern Bettenpyramiden zu errichten, bis sie zu ihnen gelangten. Sie schlugen die Scheiben ein, bemühten sich nach Leibeskräften, ins Freie zu gelangen, doch ohne Erfolg. Sie brüllten um Hilfe, bis die Brandstifter brennendes Material auf die Betten warfen und auch die Pyramiden in Flammen aufgingen.
Fassungslos an eine Wand gepresst verfolgte Manzano den Tumult mit vom Rauch tränenden Augen. Das Gedränge an den Türen wurde immer heftiger, also hielt er sich fern, um dort nicht erdrückt oder zertrampelt zu werden.
Schüsse fielen.
Ein Flügel der großen Tür stand plötzlich offen, Männer pressten sich hindurch, weitere Schüsse übertönten kaum das ohrenbetäubende Geschrei. Immer mehr wollten flüchten, stießen auf Widerstand, kamen nicht voran, bevor der nächste Schub durchstolperte und von einer neuen Gewehrsalve empfangen wurde.
Der zweite Türflügel sprang auf, und trotz anhaltender Schüsse strömten die Männer jetzt hinaus. Im Saal wurde der Rauch dichter, der Durchzug zwischen offener Tür und eingeschlagenen Fenstern fachte das Feuer an. Die Flammen sprangen auf immer mehr benachbarte Betten über.
Fantastische Alternative, dachte Manzano, ersticken, verbrennen oder erschossen werden. Draußen jedoch schienen die Schüsse weniger zu werden und aus größerer Entfernung zu kommen. Auf allen vieren krabbelte er unter den schwarzen Schwaden zum Ausgang, ließ die letzten um die Flammen tanzenden Irren hinter sich.
Vor der Tür lagen Dutzende Verletzte oder Tote, blutüberströmt, um die sich niemand kümmerte. Manzano kam an zwei leblosen Körpern in Uniform vorbei. Hatten die Häftlinge Polizisten getötet und ihre Waffen an sich gerissen? Im Schutz der Menge gelangte er bis zum Eingang des großen Hofes. Unter dem Torbogen hockten einige Männer und zielten mit Gewehren hinaus, schossen. Sirenen übertönten in wiederkehrenden Wellen das Getöse.
Manzano ließ sich zu Boden sinken, sah sich um. In die andere Richtung gab es keinen Ausweg. Er konnte nur hier im Gedränge warten, bis alles vorbei war.
Die Bewaffneten wagten einen Ausbruch, wild um sich feuernd rannten sie ins Freie, einer wurde getroffen, strauchelte, fiel, ein anderer humpelte, stolperte weiter, bevor auch er liegen blieb. Ihre Waffen wurden von anderen ergriffen, die weitermachten, wo die anderen gestoppt worden waren.
Auf der anderen Seite des Hofes fiel ein Mann vom Gebäude, Manzano konnte nicht erkennen, ob Häftling oder Beamter. Einer der Gefangenen rannte hin, nahm ihm die Waffen ab, drückte sich gegen die Wand, feuerte.
Der Rauch aus dem brennenden Saal kam bereits bis zu Manzano gekrochen, heiß und stinkend kratzte er im Hals, brannte in seinen Augen. Er vergrub sein Gesicht in einer Armbeuge, es half nichts. Er musste weiter. Hinaus auf den Hof, auf dem es keine Verstecke gab, keine Deckung, wo noch immer von allen Seiten die Kugeln querschlugen. Er humpelte los, erwartete jeden Moment den Einschlag eines Geschosses.
Berlin
»Ich möchte endlich klare Informationen aus Philippsburg«, forderte der Bundeskanzler.
Michelsens Liste wies auch heute noch keinen positiven Eintrag auf. Wohin sie auch blickte, überall nur Hiobsbotschaften. Den Tiefpunkt hatten die Nachricht aus Philippsburg und die folgende Diskussion markiert.
»Wir bemühen uns darum«, versicherte ihm die Mitarbeiterin des Ministeriums für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit. »Aber die Verbindungen sind noch immer mangelhaft. Auch über das Land und die IAEO erhalten wir nicht laufend aktuelle Neuigkeiten. Der Letztstand von vor einer Stunde besagte, dass geringe Mengen radioaktiven Dampfes entwichen seien. Die Bevölkerung im Umkreis von fünf Kilometern wird bereits seit gestern dazu aufgefordert, die Häuser und Notquartiere nicht zu verlassen.«
»Sind sonst wenigstens alle anderen AKWs versorgt?«, bellte der Kanzler. Als die Frau nicht sofort antwortete, spürte Michelsen, wie ihre Hände zu zittern begannen.
»Was?«, fragte der Kanzler tonlos nach.
»Wie es scheint, hat es im Kraftwerk Brokdorf an der Elbe einen schweren Zwischenfall gegeben. Genaues ist noch nicht bekannt.«
»Genaues ist noch nicht bekannt?« Der Bundeskanzler explodierte förmlich. »Was wissen diese vermaledeiten Betreiber überhaupt? Sie haben keine Ahnung, wer ihnen die Würmer ins Netz gesetzt hat, warum ihre Kraftwerke nicht funktionieren, wann sie die Versorgung wieder in Gang bringen, nichts! Ich will die Vorstandsvorsitzenden der Betreiber von Philippsburg und Brokdorf hier oder auf den Bildschirmen sehen, und zwar schnell!«
»Ich … sorge dafür«, stammelte die Angefahrene.
Der Kanzler schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder.
»Verzeihen Sie«, bat er. »Sie können nichts dafür. Ich hoffe, das war alles?«
Die Frau biss sich auf die Lippen.
Abermals schloss der Bundeskanzler die Augen.
»Sagen Sie schon.«
»Das französische Werk Fessenheim am Rhein meldet ebenfalls einen schweren Zwischenfall aufgrund von nicht näher benannten Schwierigkeiten mit den Notkühlsystemen.«
Auf der Europakarte an der Wand zeigte sie auf eine Stelle an der deutschen Grenze, nahe Stuttgart. »Laut IAEO wurde schwach radioaktiver Dampf abgelassen. Für Evakuierungen gäbe es keinen Grund, sagen die Betreiber. Noch. Der Plan sähe eine Zone von bis zu fünfundzwanzig Kilometer voraus. Das beträfe unter normalen Umständen fast eine halbe Million Menschen, darunter Freiburg.«
»Eine halbe Million …«, stöhnte der Bundeskanzler.
»Und Temelín«, ergänzte die Beamtin. »Dort dürfte es, wie in Saint-Laurent, zu einer Kernschmelze gekommen sein. Die tschechischen Behörden haben mit der Evakuierung begonnen. Aber das Kraftwerk liegt rund achtzig Kilometer von der nächsten deutschen Grenze entfernt. Außerdem herrscht zurzeit Nordwestwind. Radioaktivität wird also eher nach Österreich getragen.«
»Bis der Wind dreht«, stellte der Kanzler fest.
Die Frau sagte nichts dazu.
»Wie ist der Kontakt mit den tschechischen Behörden?«
»In Ordnung.«
»Gibt es auch gute Nachrichten?«
»Die anderen Kraftwerke verhalten sich ruhig«, antwortete die Frau. »Laut unseren Informationen sind alle bis auf Grohnde und Gundremmingen C mit ausreichend Diesel für mindestens zwei weitere Wochen ausgerüstet. Der Nachschub für die zwei ist unterwegs.«
»Philippsburg, Brokdorf, Fessenheim, Temelín, Grohnde und Gundremmingen«, zählte der Kanzler auf, »ich will über alle stündlich Bericht erstattet bekommen. Und natürlich sofort, wenn sich in einem davon die Situation ändert.«
Brüssel
Mit einem lauten Klack sprang die Zellentür auf. Angström bemerkte es als Erste, weil sie als Einzige nicht versuchte, einen Blick aus dem Fenster auf den Hof zu erhaschen.
Sie packte Shannon.
»Sie machen auf!«, rief sie und zerrte die Amerikanerin auf den Flur. Dort wurden sie von den anderen fast überrannt. Mit der Menge liefen sie ins Treppenhaus, hielten erst in der Einfahrt zum Hof inne. Das Schießen hatte aufgehört. Aus den Männertrakten strömten Hunderte dem Ausgang zu. Aus den meisten Fenstern stieg Rauch, loderten Flammen.
»Sollen wir warten, bis sie weg sind?«, fragte Shannon. »Hunderte amoklaufende Männer, Schwerverbrecher darunter …«
»Nein«, erwiderte Angström. »In dem Chaos fallen wir am wenigsten auf. Komm!«
Sie liefen los, Angström betete, dass das Schießen tatsächlich vorbei war.
Unbehelligt erreichten sie das große Tor. Es war geöffnet. Schnell verteilten sich die Flüchtigen auf der Straße in alle Richtungen.
»Wo sind wir?«, fragte Shannon, während sie neben Angström herlief.
»Am Stadtrand«, antwortete Angström.
»Und jetzt?«
»Sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen. Dort wird uns die Polizei nicht so schnell suchen. Die hat schlimmere Zeitgenossen einzufangen.«
Den Haag
Hartlandt verstand Bollard über das Satellitentelefon nur undeutlich. Er war nach Ratingen zurückgekehrt, während die GSG 9 weitere Lager der Saboteure aushob.
»Wir haben die Männer identifiziert«, erklärte er. »Klassische Söldner. Ein Südafrikaner, ein Russe und ein Ukrainer. Fanden sich in den Datenbanken gleich mehrerer Nachrichtendienste. Einer war zuletzt für Blackwater im Irak, die zwei anderen waren schon früher dort gewesen.«
»Konnte der Überlebende schon befragt werden?«, erkundigte sich Bollard.
»Nein. Er wurde von zwölf Projektilen getroffen. Allein drei davon stecken im Hirn. Von dem erfahren wir nichts mehr.«
»Haben Sie sonst schon etwas?«
»Kommt demnächst. Im Wagen haben wir eine Karte mit der geplanten Route, den Anschlagszielen und Zwischenlagern gefunden. Aber weder bei ihnen noch in den Zwischenlagern waren Kommunikationsgeräte. Derzeit untersuchen mehrere Nachrichtendienste und nationale Ermittler in verschiedenen Staaten die jüngere Vergangenheit der drei und ihre finanziellen Verhältnisse. Ich persönlich würde solche Leute ja in bar bezahlen, aber wer weiß … Wie heißt es so schön? Follow the money.«
Brüssel
Manzano humpelte so schnell, wie es sein Bein zuließ, durch die Straßen. Von Weitem hörte er die Sirenen der Einsatzwagen. Während der ersten Fluchtminuten hatte purer Instinkt sein Handeln beherrscht. Jetzt kehrte langsam seine Vernunft zurück. Erst einmal brauchte er ein Versteck, dann musste er versuchen, einen Internetanschluss zu finden, an dem er die RESET-Seite genauer untersuchen konnte. Der Gedanke daran ließ ihn nicht mehr los. Er überlegte, wohin er gehen konnte. Er kannte niemanden in der Stadt. Außer Sonja Angström. Hatten die Frauen auch ausbrechen können? Er hatte nicht darauf geachtet.
Er musste es versuchen. Angströms Adresse hatte er im Kopf, seit sie ihm in Den Haag die Visitenkarte gegeben hatte. Er musste jemanden finden, der ihm den Weg beschreiben konnte. Und ein Transportmittel, falls Angströms Wohnung zu weit weg lag. Er prüfte jedes Fahrrad, das er in Ständern oder an Verkehrszeichen angekettet sah. Nach wenigen Versuchen hatte er eines gefunden, dessen Besitzer unvorsichtig genug gewesen war.
Den Haag
Wie am Vortag hatte Marie Bollard an der Lebensmittelausgabestelle vergebens auf den Lkw mit den Gütern gewartet. Irgendwann waren auch die Wucherer und Schwarzhändler vor der zunehmend zornigen Menge geflüchtet. Die wütenden Redner auf dem Platz hatten die Menge schließlich dazu angestachelt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und darin sahen sie in erster Linie die Politiker. Die Masse hatte sich so träge und unaufhaltsam in Bewegung gesetzt wie eine Schlammflut nach einem Dammbruch. Mit einer diffusen Gefühlsmischung aus Faszination, Ärger und Neugier hatte sich Bollard mittreiben lassen bis zum Binnenhof, dem Sitz des niederländischen Parlaments.
Auf dem Weg durch die Stadt hatten sich laufend Menschen angeschlossen. Sie schätzte, dass Tausende skandierend den Platz erreichten. Ein paar Polizisten versuchten, sie aufzuhalten, wurden jedoch einfach beiseitegeschoben. Die Menge war so groß, dass der riesige Innenhof des Komplexes längst nicht alle fassen konnte. Sie füllten die Straßen rundum, bis zum Sitz der Zweiten Kammer gegenüber.
Auf ihrer letzten Demonstration war Bollard als Studentin gewesen, und das nur, um ihre Eltern zu ärgern. Sie fühlte sich unwohl zwischen all den lauten, aufgebrachten Menschen und gleichzeitig geborgen in diesem großen, warmen, sich bewegenden Organismus, der in manchen Momenten mit einer Stimme zu rufen, einer Lunge zu atmen, sich mit einem Körper zu bewegen schien. Beunruhigt und zugleich furchtlos spürte sie seine Energie auf sich übergehen. Sie ging nicht so weit, mit den anderen zu brüllen, blieb aufmerksam, darauf bedacht, die Distanz zu wahren, und merkte doch, dass sie sich dem Sog der wilden Empfindungen nur schwer entziehen konnte. Manche hatten Transparente mitgebracht, beschriebene Leinentücher zwischen Besenstiele gespannt. Ihre Rufe wurden nicht leiser. Im Gegenteil, sie schienen an Wucht zuzunehmen. Wie Wellen von stürmischer See, die den Gewittersturm ankündigten, ein um das andere Mal an die Klippen brandeten, jedes Mal höher, tosender.
Berlin
»Wir haben weitere Hinweise darauf, dass China hinter dem Angriff steht«, erklärte der NATO-General vom Bildschirm herab. Hinter ihm ahnte Michelsen das geschäftige Treiben im Kommandozentrum des NATO-Krisenstabs.
»Die Spuren gewisser Schadprogramme, die in den Systemen europäischer Netzbetreiber gefunden wurden, führen zu IP-Adressen in China.«
»Die führten auch nach Tonga«, antwortete der Bundeskanzler. »Und Sie wollen doch nicht eine kleine Südseeinsel verantwortlich machen?«
»Server auf Tonga und in anderen Ländern dienten den Angreifern nur zur Verschleierung«, erwiderte der General geduldig.
»Und wer sagt, dass das bei den chinesischen IPs nicht genauso ist?«
»Der Standort dieser ganz bestimmten IP-Adressen. Sagen Ihnen die Schanghai-Jiaotong-Universität und die Lanxiang-Berufsschule etwas?«
Ohne die Antwort des Bundeskanzlers oder des übrigen Krisenstabs auf seine rhetorische Frage abzuwarten, fuhr er fort: »Erinnern Sie sich an die Hackerattacken auf Google und andere amerikanische Firmen, die 2010 und 2011 durch die Medien gingen. Damals konnten IT-Forensiker, unter anderem von der US-amerikanischen National Security Agency, NSA, die Spur bis zu diesen zwei chinesischen Bildungseinrichtungen zurückverfolgen. Eine davon bildet IT-Spezialisten für das Militär aus. Warum das so interessant ist, erklärt Ihnen am besten Jack Guiterrez, ein Experte des United States Cyber Command. Jack?«
In einem kleineren Fenster am Bildschirm erschien ein Mann mit kurz geschorenen Haaren und Nickelbrille. »Regimes wie China oder Russland verwenden bei solchen Attacken andere Strategien als die Vereinigten Staaten oder die NATO«, erklärte er. »Bei uns werden dafür direkt die spezialisierten Einheiten des Militärs und der Nachrichtendienste eingesetzt. Dagegen schieben China oder Russland gern angeblich freiwillige ›patriotische Hacker‹ vor. Ein Beispiel dafür war der russische Angriff auf Estland im Jahr 2007. Denial-of-Service-Attacken blockierten die Webseiten estnischer Parteien, Medien, Behörden, Banken und Notrufnummern. Das heißt, von gekaperten Computern wurden an die betroffenen Webseiten so viele Anfragen verschickt, bis die Server unter der Flut zusammenbrachen. Tagelang konnten keine Löhne und Rechnungen bezahlt werden. Das Land wurde lahmgelegt, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert, eine einzige Bombe abgeworfen wurde. Nachträglich muss man das wahrscheinlich als den ersten Krieg über das Internet bezeichnen. Lange wusste man nicht, wer dahintersteckte. 2009 bekannte sich die Jugendorganisation des Kremls ›Naschi‹ zu der Sabotage. Und da haben Sie das Problem. Selbst wenn wir damals sofort gewusst hätten, wer hinter dem Angriff auf ein NATO-Mitglied steckt, Russland hätte sich auf ein paar übereifrige Jungs in patriotischem Taumel herausgeredet. Dass hinter denen Militär und Geheimdienst stehen, müssen sie erst einmal beweisen.«
»Na ja«, murmelte Michelsen. »Beweise findet man schnell, wenn man sie braucht. Wenn ich an den angeblichen Grund für den Irakkrieg denke …«
Der General hatte sie nicht gehört, doch der Verteidigungsminister warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
»Kriege wurden zwar schon aus geringerem Anlass begonnen«, bemerkte der NATO-General. »Aber wegen ein paar Jungen?
China infiltriert seit mindestens einem Jahrzehnt intensiv IT-Systeme westlicher Staaten und Unternehmen. Denken Sie an die Trojaner, die schon 2007 auf Computern des deutschen Bundeskanzleramts und deutscher Ministerien gefunden wurden. Dasselbe gilt für die Infiltration des Weißen Hauses 2008, jene von Öl- und Energiefirmen 2009, die Aufzählung könnte ich endlos weiterführen.«
»Mir wäre weiterhin das Motiv ein Rätsel«, warf der Innenminister ein. »Wir haben das oft genug diskutiert. Die Weltwirtschaft ist längst so sehr vernetzt, dass eine Zerstörung Europas und der USA auch auf den Rest verheerende Auswirkungen hätte.«
»China steht vor jeder Menge Probleme. Soziale Ungerechtigkeit, der notwendige Umbau der Wirtschaft, das Überalterungsproblem aufgrund der jahrzehntelangen Ein-Kind-Politik. Die Kommunistische Partei kämpft an vielen Fronten, und wie wir alle wissen, ist ein gemeinsamer Feind ein willkommenes Mittel, um über solche Probleme hinwegzutäuschen. Den findet man am besten außerhalb der eigenen Grenzen, in einem Krieg.« Zum ersten Mal seit Beginn der Diskussion bewegte der General mehr als sein Gesicht. Er beugte sich ein wenig nach vorn, der Kamera entgegen.
»Sehen Sie, verehrter Herr Bundeskanzler, ich bin ein Militär alter Schule. Meine ersten Jahre saß ich in einem Leopard-Panzer. Aber auch ich habe begriffen, dass die Kriege der Zukunft nicht unbedingt mit Gewehren, Panzern oder Kampfjets ausgefochten werden. Sondern genau so, wie wir es gerade erleben. Wir können – nein, dürfen – nicht darauf warten, dass jemand die erste Kugel auf uns schießt oder die erste Bombe über einer unserer Städte abwirft. Das wird der Gegner nicht tun. Weil er es nicht mehr tun muss. Weshalb soll er seine Soldaten vor unsere Gewehre und Kanonen schicken, wenn er uns bequem und sicher von seinem Schreibtisch in zehntausend Kilometer Entfernung vernichten kann? Verstehen Sie? Der Erstschlag ist erfolgt! Der Gegner braucht nicht einmal Kernwaffen. Sogar für die Atomexplosionen sorgen wir selbst. Die erste hat bereits Teile Frankreichs verwüstet. Weitere sind nur eine Frage der Zeit. Zumindest die können wir noch verhindern, wenn wir jetzt aktiv werden.«
»Ein Gegenschlag zerstört Anlagen, tötet Menschen in China, garantiert aber noch längst nicht, dass bei uns der Strom wieder fließt«, wandte der Innenminister ein.
»Aber er bringt den Gegner eher dazu, den Angriff auf uns zu beenden«, mischte sich der Verteidigungsminister ein.
»Oder erst recht zuzuschlagen«, widersprach der Innenminister.
»Die Vereinigten Staaten und die NATO haben 2011 ihre Strategie für solche Fälle festgelegt. Angriffe auf IT-Infrastrukturen werden als kriegerischer Akt betrachtet. Sie erlauben uns, mit konventionellen oder digitalen Waffen zurückzuschlagen.«
Er lehnte sich wieder etwas zurück, um nicht zu aggressiv zu wirken, schien Michelsen.
»Wir müssen nicht gleich Atomraketen nach Peking schicken«, erklärte er. »Auch wir beherrschen die moderne Kriegsführung. In einer ersten Stufe wäre denkbar, auf ähnliche Weise zu reagieren, indem man einigen wichtigen Metropolen den Strom abstellt.«
»Wer kann das?«, fragte der Innenminister.
»Glauben Sie, die westlichen Militärs haben in den vergangenen Jahren geschlafen?«, fragte der NATO-General. »Schanghai, Peking« – er schnippte mit dem Finger –, »geben Sie das Okay, und in ein paar Stunden geht dort auch nichts mehr.«
Michelsen beobachtete auf den Gesichtern der Anwesenden, dass sie immerhin beeindruckt waren.
»Noch einmal, Herr Bundeskanzler«, fügte er eindringlich hinzu. »Was Sie in diesem Konflikt nicht bekommen werden, ist die eine smoking gun. Aber wenn Sie vor die Tür gehen, werden Sie sehen, dass der Schuss abgefeuert wurde. Und uns schwer verwundet hat. Schießen wir zurück, bevor wir verbluten.«
Brüssel
Angström stellte das geklaute Fahrrad vor dem vierstöckigen Zinshaus ab, Shannon lehnte ihres daneben.
Angström wohnte im obersten Stock. Sobald sie in der Wohnung waren, sperrte sie alle vier Schlösser doppelt ab.
Sie sahen beide zum Fürchten aus. Verrußt, verschwitzt, die Haare zerzaust.
»Komm mit«, sagte Angström knapp. Im Bad reichte sie ihr ein paar einzeln abgepackte Erfrischungstücher. »Das muss genügen, tut mir leid.«
Shannon reinigte sich notdürftig. Immerhin aus dem Gesicht und von den Händen konnte sie den Dreck entfernen. Ein Tuch blieb ihr sogar noch für die Achseln und den Hals.
In der Küche öffnete Angström eine Packung mit Brot, stellte Honig auf den Tisch, eine Flasche Wasser.
»Corned Beef hätte ich noch, wenn du zum Frühstück Fleisch möchtest«, bot sie Shannon an.
»Danke, ist wunderbar so.«
»Du hast Piero in Den Haag kennengelernt?«
Shannon erzählte die Geschichte, wie sie Bollard gesucht hatte und dabei auf Manzano gestoßen war. Sie hatte noch immer das Gefühl, dass Angström sich für den Italiener interessierte, deshalb verschwieg Shannon, dass sie mit ihm das Zimmer geteilt hatte.
»Und dann seid ihr nach Deutschland?«
Shannon fragte sich, wie viel sie der Frau verraten sollte. Sie entschloss sich für eine entschärfte Variante. Sollte Manzano ihr eines Tages die Wahrheit berichten, wenn die sie interessierte.
»Ganz verstehe ich immer noch nicht, warum ihr wieder wegmusstet«, gab Angström zu, als Shannon geendet hatte.
»Jetzt sind wir auf jeden Fall hier«, sagte diese. »Du glaubst, die Polizei wird uns hier nicht suchen?«
»Du hast gesehen, wie viele dort abgehauen sind. Darunter waren Mörder. Warum sollten sie ausgerechnet zu mir kommen?«
Sie saßen eine Weile schweigend, aßen.
»Wie war die Entwicklung der vergangenen Tage?«, fragte Shannon schließlich. »Du musst ja einen guten Überblick haben.«
»Kommt die Journalistin wieder durch?«
Shannon zuckte mit den Schultern. »Auf Sendung kann ich zurzeit ohnehin nicht gehen. Und selbst wenn, wer würde es sehen?«
»Wir haben kein umfassendes Situationsbild«, erzählte Angström. »Die meisten Kommunikationsmittel sind ausgefallen. Kein Telefon, kaum Behördenfunk, ein wenig Militär- und Amateurfunk, ein paar Satellitenverbindungen. Im Wesentlichen bestehen die Verbindungen zwischen den nationalen Krisenzentralen, aber die Staaten wissen nur bruchstückhaft, was bei ihnen überhaupt los ist. Nur punktuell dringen Informationen bis in die Zentralen, und das sind ausnahmslos schlechte. Schwarzmärkte florieren, öffentliche Strukturen und Behörden werden abgelöst von privaten Initiativen oder Parallelstrukturen, Polizei und Militär können die öffentliche Sicherheit nicht mehr aufrechterhalten. Es kommt zu Selbstjustiz.«
»So einer Bürgerwehr sind wir begegnet.«
»Ich habe in Brüssel auch schon welche gesehen. Nach Spanien haben auch in Portugal und Griechenland die Militärs geputscht. In Frankreich gab es allem Anschein nach einen GAU in einem Kernkraftwerk, ebenso in Tschechien, ein Dutzend weiterer Anlagen europaweit sind in kritischer Verfassung. In vielen Ländern gab es Unfälle in Industrieanlagen, vor allem in Chemiefabriken, die teilweise Dutzende, in einem Fall wahrscheinlich sogar Hunderte Todesopfer forderten und schwere Umweltzerstörungen verursachten. Aber auch hier fehlen uns genaue Angaben. Vermutlich wissen wir gar nicht von allen. Über die meisten Staaten verstreut existieren kleine, mit Strom versorgte Gebiete, in denen die Lage aber nicht viel besser ist, weil sie mit Flüchtlingen heillos überlaufen sind.«
»Und in den Vereinigten Staaten?«
»Hast du Familie drüben?«
Shannon nickte.
»Sieht es nicht besser aus. In mindestens zwei Atomkraftwerken kam es bereits zu GAUs, bei drei weiteren bekommen wir keine ordentlichen Informationen von den Verantwortlichen, was nichts Gutes bedeutet, wie man weiß. Auch sonst dasselbe Drama, nur um die paar Tage verschoben, die der Ausfall später begann. Zusammenbruch der Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, medizinischer Behandlung. Unfälle in Fabriken, der ganze Mist. Scheinbar kommt es aber bereits jetzt zu schweren Ausschreitungen, vor allem in Gebieten, wo viele sozial Benachteiligte leben.«
Von der Tür klang ein Klopfen.
Shannons Herz sprang bis zum Hals. »Wer ist das?«, flüsterte sie.
»Keine Ahnung«, flüsterte Angström zurück. »Vielleicht meine Nachbarin.«
»Die Polizei?«
»Würde die klopfen?«
Paris
»Schlafen kannst du, wenn du tot bist.«
Blanchard fand diesen Spruch bescheuert, seit er ihn zum ersten Mal gehört hatte. Das eine hatte er seit Tagen kaum getan, am anderen war er nahe dran.
»Die Computer in der Netzleitstelle haben wir fast alle neu aufgesetzt«, erklärte er Tollé, dem Sekretär des französischen Präsidenten, der auf unfassbare Art noch immer wie ein Model aus einem Herrenmodemagazin auftreten konnte und als Einziger im Raum keine unangenehmen Körpergerüche verbreitete.
Auf vielen Monitoren des Centre National d’Exploitation Système leuchteten statt der blauen Bildschirme wieder Zahlen und Diagrammanzeigen. Die riesige schwarze Tafel an der Wand zeigte unverändert etwa achtzig Prozent des Versorgungsgebiets in Rot an, ein paar gelbe Flecken, den Rest grün.
»Das heißt«, fragte Tollé, »dass Sie den Stromfluss in den Netzen wieder überwachen können?«
»Im Prinzip ja«, antwortete Proctet. »Auch den Großteil der Server, die den Netzbetrieb steuern, konnten wir wieder funktionsfähig machen. Ab morgen früh werden wir damit beginnen, erste kleine Netze wieder aufzubauen. Wenn wir damit erfolgreich sind, werden wir das im Lauf des Tages fortsetzen.«
»Was heißt, ›wenn Sie damit erfolgreich sind‹? Warum sollten Sie es nicht sein?«
»Die Systeme, die Vorgänge sind komplex. Und sie hängen von verschiedenen Umständen ab.«
»Wo liegen die Probleme? Können wir etwas tun? Sie müssen es nur sagen.«
»Ich fürchte«, antwortete Blanchard, »Sie können weder die notwendigen Blindleistungen zur Verfügung stellen, noch den Netzaufbau schnell und ohne Schwierigkeiten vorantreiben, was notwendig ist, da die Kraftwerke in dieser Phase in einem für sie ungünstigen Betriebszustand fahren müssen, den sie nur wenige Stunden durchhalten. Zudem ist es ausgesprochen schwierig festzustellen, wie viele Abnehmer man in so einer Situation wirklich zuschalten darf, um das Netz stabil zu halten. Es kann auch zu automatischen Schutzauslösungen kommen, wodurch Lasten abgeworfen, Generatoren ausgeschaltet werden und so weiter. Heikel ist zum Beispiel das Zuschalten leerlaufender Transformatoren, Stichwort Rush-Effekt, der Ferranti-Effekt kann zu Überspannungsauslösungen führen, wollen Sie noch mehr wissen? Kurz: Es ist alles nicht so einfach, und Sie können uns dabei leider nicht helfen.«
Tollé nickte, als habe er alles verstanden, wusste aber nichts zu sagen.
Blanchard genoss den Moment, hätte am liebsten mit noch mehr Fachbegriffen um sich geworfen, doch er riss sich zusammen. »Je nach Fortgang könnten wir bereits in ein bis zwei Tagen weite Teile des Landes wieder mit Energie versorgen. Von den meisten anderen europäischen Netzbetreibern wissen wir, dass sie in ein ähnliches Stadium getreten sind. Allerdings kämpfen sie dort immer noch mit den Problemen bei den Kraftwerken.«
»Als Erstes müssen …«
»… die Regionen, in denen sich die AKWs Saint-Laurent, Tricastin, Fessenheim und Cattenom befinden, aktiviert werden. Die werden wir womöglich schon heute Abend angehen.«
»Ich kann dem Präsidenten also mitteilen, dass die Stromversorgung zurückkehrt?«
»Seien Sie nicht zu schnell. Vor allem sollte er nicht an die Öffentlichkeit damit gehen, bevor wir erste Erfolge vorweisen können.«
»Sie können sich vorstellen, wie dringend er der Öffentlichkeit diese Nachricht überbringen möchte.«
»Nicht nur er«, sagte Blanchard.
Den Haag
Als an einer Ecke des Binnenhofs die ersten Rauchwolken aufstiegen, schrie die Menge frenetisch. Aus Fenstern im ersten Stock schlugen Flammen, die den Abschnitt des Gebäudes bald in Rauch hüllten. In die Menschenmassen kam Bewegung, unruhige zuerst, bald hektische.
Marie Bollard stand eingeklemmt am hinteren Ende des Platzes, in dessen Mitte sich die Statue Wilhelms I. erhob. Der Lärm hatte eine neue Tonart angenommen. Statt der rhythmischen, stampfenden Parolen herrschte aufgeregtes Durcheinanderrufen, durchsetzt von spitzen, angstvollen Schreien. Von hinten spürte Bollard nun immer stärkeren Druck, doch die Straßen um den Platz waren zu schmal und verstopft, um viele Menschen auf einmal schnell flüchten zu lassen. Unwillkürlich schossen ihr Bilder von Massenpaniken durch den Kopf, bei denen Menschen zu Tode getrampelt, zerdrückt, erstickt worden waren, und fühlte selbst sofort Panik in sich hochsteigen. Sie konnte sich nur mit dem Strom schieben lassen, während in ihren Adern das Adrenalin raste. Wie hatte sie sich nur hinreißen lassen können? Die Kinder brauchten sie doch!
Brüssel
»Ich muss an diese Seite ran«, erklärte Manzano.
Er sah inzwischen besser aus als noch vor einer halben Stunde. Aus blutunterlaufenen Augen in einem schwarzen Gesicht hatte er sie angestiert, nachdem Angström die Tür geöffnet hatte.
»Jedes Mal, wenn ich dich sehe, siehst du noch schlimmer aus als beim letzten Mal!«, war es Angström entfahren. Die Freude, ihn lebendig zu sehen, überwog den Ärger, dass sie seinetwegen die bislang schlimmste Nacht ihres Lebens verbracht hatte.
Er war mit einem Fahrrad zu ihrer Wohnung gekommen. Mithilfe einiger Hygienetücher und einer kostbaren halben Flasche Wasser plus Seife hatten sie ihn immerhin so weit sauber bekommen, dass man sich nicht mehr vor ihm fürchten musste. Sah man mal von den roten Augen, der wieder aufgeplatzten Narbe am Kopf und ein paar blauen Flecken im Gesicht ab, die er sich im Gefängnis zugezogen hatte, wie Angström vermutete. Er hatte nicht erzählt, woher sie stammten.
Sie hatten von ihrem Aufenthalt berichtet, den beengten Verhältnissen, den katastrophalen hygienischen Zuständen, aber immerhin waren ihre Zellengenossinnen einigermaßen zivilisierte Personen gewesen. Alle drei konnten nur rätseln, was das Aufsichtspersonal zur Öffnung der Zellen bewogen haben mochte. Wahrscheinlich doch die Furcht, ansonsten den Feuertod Hunderter Gefangener verantworten zu müssen.
»Ich habe hier kein Internet, wie du dir vorstellen kannst«, sagte Angström.
»Ich muss«, beharrte Manzano.
Fast wirkte er manisch, geradezu besessen auf sie. Vielleicht die Aufregungen der vergangenen Nacht, dachte sie, der fehlende Schlaf. Die flackernden Kerzen auf dem Esstisch verstärkten den Eindruck.
»Wie spät ist es jetzt?« Er sah auf die Küchenuhr über der Tür. Fast sechs Uhr abends.
»Weißt du, ob es in der Nähe Strominseln gibt, die wir irgendwie erreichen könnten?«
»Nein. Keine in der Nähe, die nächste ist gut hundertfünfzig Kilometer entfernt in Deutschland – und das ist der Stand von vorgestern. Kann gut sein, dass sie inzwischen wieder zusammengebrochen ist. Wie willst du dort hinkommen?«
Manzano starrte sie an, seine Kiefer arbeiteten.
»Dann muss ich noch einmal an deinen Arbeitsplatz.«
Angström glaubte, sich verhört zu haben.
Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Das ist die einzige Möglichkeit, diese Seite genauer zu untersuchen. Verstehst du, vielleicht haben wir hier eine Kommunikationsplattform der Angreifer entdeckt! Ich muss das untersuchen!«
In seinem Eifer schien er ihre Irritation nicht zu bemerken.
»Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden wurden wir dort verhaftet. Und du willst noch einmal hin?«
»Versuchen muss ich es. Ich verstehe, wenn ihr nichts damit zu tun haben wollt. Aber ich muss hinein. Wie gelingt mir das?«
Angström schüttelte den Kopf. »Du spinnst. Gar nicht, ohne Ausweis.«
»Keine Chance?«
Kommandozentrale
Die Bilder erschienen zuerst auf der Webseite eines japanischen Senders. Dessen Korrespondent in Den Haag hatte sie per Satellit geschickt. Das niederländische Parlamentsgebäude stand in Flammen. Es wird, bemerkte einer seiner Mitstreiter, Lekue Birabi, zufrieden. Er erinnerte sich, wie er den Nigerianer während seines Studienaufenthalts in der britischen Hauptstadt kennengelernt hatte. Der Sohn eines Stammeshäuptlings aus dem Nigerdelta hatte dort seine Doktorarbeit an der renommierten London School of Economics and Political Science geschrieben. Sie waren sich von Beginn an sympathisch gewesen. Seit seiner Jugend engagierte sich Birabi im Widerstand gegen die Ausbeutung des Nigerdeltas durch die Zentralregierung und internationale Ölkonzerne. Nach dem Scheinprozess und der Hinrichtung des Aktivisten Ken Saro-Wiwa durch das nigerianische Regime Mitte der Neunziger, die für weltweite Empörung sorgten, wanderte er für kurze Zeit sogar ins Gefängnis, wo er gefoltert wurde. Seine Eltern starben bei einem Angriff einer rivalisierenden Volksgruppe, die von einem der Ölkonzerne finanziert wurde. Er konnte fliehen und dank eines Stipendiums studieren.
Damals begann er mit Birabi und ein paar anderen jene Idee zu konkretisieren, die sie in durchdiskutierten Nächten geboren hatten. So wie die anderen, die in den folgenden Jahren dazugestoßen waren. Personen unterschiedlichster Herkunft, Nationalität, sozialer Schicht, Bildung, beiderlei Geschlechts, geeint durch die gleiche Vision, dasselbe Ziel. Jetzt hatten sie den ersten Schritt dorthin erreicht. Die Menschen in Europa und den USA begnügten sich nicht mehr mit Diskussionen, Petitionen und Demonstrationen. Nach ein paar Tagen Schockstarre und der Illusion, die alte Ordnung friedlich und gemeinsam aufrechterhalten zu wollen, gingen sie nun umso heftiger an die Substanz. Aus Rom, Sofia, London, Berlin und zahlreichen anderen europäischen Städten berichteten Korrespondenten von Angriffen gegen öffentliche Einrichtungen wie in Den Haag, sogar aus den USA kamen erste ähnliche Meldungen. Er nickte Birabi zu, der seine Genugtuung nicht verbarg. Was vor ein paar Jahren Gedankengebäude gewesen waren, wurde nun Wirklichkeit. Der Aufstand hatte begonnen.
Den Haag
»Die Zusammenarbeit mit den internationalen Behörden hat weitere Erkenntnisse über mögliche Komplizen Jorge Pucaos gebracht«, informierte Bollard das Gremium. »Mit sechs von ihnen stand er nachweislich in Kontakt. Außerdem ergab die Flugdatenauswertung gleichzeitige Aufenthalte an denselben Orten in den vergangenen Jahren.«
Er rief das Bild eines Schwarzafrikaners auf.
»Da wäre etwa Doktor Lekue Birabi aus Nigeria. Seine detaillierte Biografie finden Sie in der Datenbank. Es gibt viele Parallelen zu Jorge Pucao. Mitglied der Mittel- bis Oberschicht aus einem Schwellen- oder Entwicklungsland, politisch engagiert, vom herrschenden System bekämpft, familiäres Drama, hochintelligent, ausgebildet an einer der besten Hochschulen der Welt. Von ihm existieren zahlreiche Publikationen, er führte Blogs im Internet. Die kompletten Texte finden sich unter ›Birabi_lit‹ in der Datenbank. Diese sind zwar noch nicht zur Gänze durchgearbeitet, aber schon jetzt kann man sagen, dass er ziemlich radikal ist. Bereits 2005 schreibt er, dass ›das jetzige wirtschaftlich-politische System in der heutigen Form bestehende Machtverhältnisse zementiert. Da in den vergangenen Jahrzehnten sämtliche friedlichen Reformversuche von innen gescheitert sind, muss man auch die gewaltsame Zerstörung des Systems als Möglichkeit der Erneuerung in Betracht ziehen.‹ Auch in dieser Radikalisierung haben wir eine Parallele zu Pucao. Ebenso wie seine Teilnahme an verschiedenen Anti-G-8-Protesten, zum ersten Mal wie Pucao 2001 in Genua.«
Bollard zeigte eine Weltkarte, auf der zahlreiche Ort durch rote Linien verbunden waren. Bei jeder Linie, jedem Ort standen Zahlenkombinationen.
»Das sind die dokumentierten Reisen von Jorge Pucao ab 2007.«
Mit einem Klick der Fernsteuerung fügte er blaue Linien zu den roten. Einige der blauen Spitzen trafen sich mit den roten.
»Das sind Lekue Birabis Reisen in derselben Zeit. Wie wir sehen, hatten sie häufig gleichzeitig dasselbe Ziel. Zuletzt lebte Birabi in den Vereinigten Staaten. Im Herbst 2011 verschwindet er. Seither fehlt von ihm jede Spur. Die amerikanischen Behörden untersuchen zurzeit seinen Computer, den er zurückgelassen hat. Sein Vermieter hatte ihn in einem Abstellraum gelagert. Er wurde zwar sorgfältig gelöscht, doch ein paar Daten konnten rekonstruiert werden. Unter anderem Teile seines E-Mail-Verkehrs. Daraus geht hervor, dass er ab 2007 in regem Austausch mit einem gewissen ›Donkun‹ stand, der sich laut IP-Adressen meist dort befand, wo sich zur selben Zeit Pucao aufhielt. Außerdem fanden die Ermittler weltweit weitere Kontakte, die in diese Milieus passen und in Verbindung zu einem der beiden standen. Einige sind ebenfalls verschwunden. Diesen gilt natürlich besondere Aufmerksamkeit. Da wäre zum Beispiel Siti Jusuf aus Indonesien, ähnliches Alter und ähnlicher Lebenslauf wie die beiden anderen. In der Asienkrise der späten Neunziger verliert seine Familie ihr Vermögen, leidet unter den Unruhen in Folge der Währungs- und Wirtschaftskrise. Dann wären da noch zwei Landsleute Pucaos, Elvira Gomez und Pedro Munoz, ebenfalls politische Aktivisten, zwei Spanier, Hernandes Sidon und Maria de Carvalles-Tendido, zwei Italiener, zwei Russen, ein Mann aus Uruguay, ein Tscheche, eine Griechin, zwei Griechen, ein Franzose, ein Ire …«
»Ziemlich internationale Truppe«, bemerkte jemand.
»… zwei US-Amerikaner, ein Japaner, eine Finnin und zwei Deutsche. Einige davon sind ausgewiesene IT-Experten wie Pucao. Insgesamt existieren momentan rund fünfzig verdächtige Personen, die im Kontakt mit einer oder mehreren der anderen standen.«
»Und das alles auf Basis eines einzigen Fotos und eines Phantombildes?«, fragte jemand.
»Die waren der Ausgangspunkt«, antwortete Bollard. »Sobald wir wussten, wo wir suchen müssen, konnten die nationalen und internationalen Nachrichtendienste weiterarbeiten. Aktuell verfolgen Hunderte Mitarbeiter weltweit unzählige Spuren. Da kommen selbst unter diesen Umständen schnell viele Informationen zusammen. Diese Daten geben zumindest Anhaltspunkte, dass es hier eine Gruppe von Menschen gibt, die den ideologischen Hintergrund, die persönlichen Schicksale und das notwendige Know-how für einen solchen Terroranschlag besitzen. Wir kennen diese Profile aus revolutionären Bewegungen weltweit. Die Akteure kommen in den seltensten Fällen aus den armen und unter den Verhältnissen am heftigsten leidenden Unterschichten, sondern rekrutieren sich aus der gebildeten Mittel- und Oberschicht der jeweiligen Gesellschaften. Hier könnten wir es erstmals mit einem derartigen Phänomen auf globaler Basis zu tun haben.«
»Glauben wir ernsthaft«, warf jemand ein, »dass ein paar Berufsjugendliche die westliche Zivilisation in ihre schlimmste Krise und die Welt in eine der gefährlichsten Konfliktsituationen seit dem Zweiten Weltkrieg bringen können?«
»Warum nicht?«, fragte Bollard. »Im Deutschland der Siebzigerjahre genügten einige Handvoll Terroristen der Roten-Armee-Fraktion, um das Leben von sechzig Millionen Einwohnern der Republik zu ändern. Die gesellschaftlichen Folgen, von Sicherheitsmaßnahmen bis zu Berufsverboten, waren jahrzehntelang spürbar. Die Gründungsgruppe der italienischen Brigate Rosse umfasste fünfzehn Mitglieder, und die Anschläge am 11. September 2001 führten nicht einmal zwei Dutzend Männer durch. Nein, es hilft nichts: Wir können durchaus davon ausgehen, dass wenige Dutzend Personen mit ausreichend Know-how und finanziellen Mitteln zu solchen Anschlägen in der Lage sind.«
»Wichtiges Stichwort«, wandte Christopoulos ein. »Finanzierung. Selbst wenn die Typen das entsprechende Know-how besitzen, für so ein Unternehmen braucht man mehr als ein paar Spenden.«
»Womit wir zu Balduin von Ansen, Jeanette Bordieux und George Vanminster kommen. Was sie von den anderen Verschwundenen unterscheidet, ist, dass sie jeweils Erben ansehnlicher Vermögen sind. Von Ansen, Sohn einer britischen Adeligen und eines deutschen Bankiers, Vanminster, US-Bürger, Erbe des Industriekonglomerats Vanminster Industries, und Bordieux, Tochter eines französischen Medienzaren, sind gemeinsam über eine Milliarde Euro schwer. Alle drei finanzieren großzügig soziale und politische Projekte. Alle drei standen seit Jahren in engem Kontakt mit Pucao und anderen der Verdächtigen.«
»Warum sollten solche Leute …?«
»Warum nicht? Beispiele gibt es genug. Dem italienischen Verleger Giangiacomo Feltrinelli, Sohn aus einem der reichsten Häuser Italiens, verdanken wir die Veröffentlichung literarischer Welterfolge wie Doktor Schiwago und Il Gattopardo, aber auch des berühmten Bildes Che Guevaras, das noch heute millionenfach T-Shirts und Jugendzimmer ziert. Aber er hatte Kontakt zu italienischen Extremistengruppen, gründete seine eigene, ging in den Untergrund, besorgte deutschen Terroristen Mordwaffen und starb bei dem Versuch, einen Strommast zu sprengen. Einen anderen Millionär und Terrorpaten, Osama bin Laden, muss man wohl nicht näher vorstellen. Auch unter Reichen gibt es Extremisten, in alle politischen und gesellschaftlichen Richtungen.«
Orléans
Ihren Platz zwischen den Hunderten Betten des Notlagers fand Annette Doreuil mittlerweile. An die Gerüche und den Lärm hatte sie sich gewöhnt, aber die Gesichter bedrückten sie. Ihre Plätze lagen in einem der hintersten Karrees. Der Vorteil war, dass weniger Menschen daran vorbeikamen. Dafür war der Weg zu den Waschräumen und Toiletten weiter. Die Frau vom Roten Kreuz hatte ihnen und den Bollards vier Betten nebeneinander zugewiesen.
Mehrfach hatte Doreuil eine Untersuchung auf radioaktive Verstrahlung gefordert, doch immer die gleiche Antwort erhalten: Es waren weder ausreichend Personal noch Ausrüstung dafür vorhanden. Und überhaupt müsse sie sich keine Sorgen machen.
Vom Eingang her hörte sie aufgeregte Stimmen. Ein paar Personen eilten in den Bettenbereich, verteilten sich dort, riefen jenen, an denen sie vorbeikamen, etwas zu. Manche der Angesprochenen blieben, wo sie waren, riefen den Weiterlaufenden etwas nach. Andere sprangen auf, redeten auf den Nachbarn oder ihre Familien ein, wie auch die, von denen die Nervosität ausgegangen war und die nun ihre Ziele im Bettenmeer erreicht hatten. Hastig rafften sie ein paar Habseligkeiten zusammen, packten Kinder an Armen oder riefen laut Namen durch die Halle, in der das leise Dauersummen sich langsam zu einem Tosen verstärkte.
Doreuil hatte einen Moment innegehalten, bevor sie zu den anderen weitergegangen war. Dabei versuchte sie aufzuschnappen, was die Leute so erregte. Schon von der Hallenmitte konnte sie erkennen, dass auch ihrem Mann und den Bollards die Hektik aufgefallen war und sie sich bei ihren Nachbarn erkundigten. Immer mehr Menschen strömten zum Ausgang, mit Säcken, Taschen, Koffern beladen. Die Menschen flüchteten! Vor den Ausgängen bildeten sich dichte Trauben.
»Das Kraftwerk ist noch einmal explodiert!«, stieß Bollard hervor, als sie ihn erreichte. »Der Wind weht eine radioaktive Wolke direkt auf Orléans zu!«
Er begann, die wenigen Habseligkeiten, die auf ihren Betten lagen, in die Koffer zu stopfen.
»Wer sagt das?«, fragte Doreuil.
»Alle«, erwiderte Bollard, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen.
»Wir müssen weg hier!«, rief nun auch ihr Mann.
Annette Doreuil zögerte. Würden die Verantwortlichen im Notquartier eine neuerliche Evakuierung nicht durch Lautsprecher oder Megafone ankündigen? Würden sie nicht zu Ruhe, Besonnenheit und geordnetem Auszug aufrufen? War es nicht klüger, in einem geschlossenen Gebäude zu bleiben?
Ihr Mann und die Bollards plagten sich offensichtlich nicht mit derlei Überlegungen. Sie hatten Koffer und Taschen gepackt.
»Komm«, forderte Bertrand sie auf, drückte ihr die leichtere Tasche in die Hand, während er den Koffer nahm. Er griff sich an die Brust, verzog das Gesicht.
Sie nahm die Tasche und folgte den anderen drei, die im Laufschritt zwischen den Betten hindurchhasteten. Inzwischen drängten fast alle zu den Ausgängen, die viel zu schmal waren, um sie schnell durchzulassen. Vor Annette Doreuil rief ihr Mann, den Kopf über die Schulter gewandt, ihr etwas zu, das sie im allgemeinen Lärm nicht verstand. Er strauchelte, ließ die Tasche fallen, stützte sich am nächsten Bett ab, sah zu ihr hoch. In seinen Augen erkannte sie sofort den Schmerz und die Panik.
»Bertrand!«, brüllte sie, packte ihren Mann an der Schulter, wollte hinter den Bollards her, um sie aufzuhalten, rief noch einmal deren Namen in einer Lautstärke, von der sie nicht für möglich gehalten hätte, dass sie dazu fähig war. Die Eltern ihres Schwiegersohnes drehten sich um, zögerten, warfen ihre Koffer hin und drängten gegen den Flüchtlingsstrom zu ihnen zurück.
Bertrand war unter Annette Doreuils Hand weggekippt und lag seitlich auf dem Bett. Sein Gesicht kreideweiß, schweißüberzogen, die Lippen, bläulich, zitterten. Seine Finger verkrampften sich an seiner Brust. Annette Doreuil ergriff seine Hand, strich mit der anderen beruhigend über sein Gesicht. Er starrte sie aus Augen an, durch sie hindurch, wie sie es noch nie bei ihm gesehen hatte.
»Sein Herz!«, schrie Annette Doreuil den Bollards zu, die jetzt direkt vor ihr standen. »Ein Arzt! Er braucht einen Arzt!«
Celeste Bollard erfasste die Situation als Erste. Sie drehte sich um, lief wieder Richtung Ausgang. Ihr Mann folgte ihr.
»Wir holen dir einen Arzt«, redete Annette Doreuil auf ihren Mann ein. »Alles wird gut. Gleich kommt ein Arzt.«
Sein Gesicht fühlte sich eiskalt und feucht an. Seine Lider flatterten. Seine Lippen öffneten und schlossen sich wie bei einem Fisch. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nichts heraus.
»Einen Arzt!«, schrie sie abermals, so laut sie konnte. »Wir brauchen einen Arzt!«
Niemand schien sie zu hören, alle drängten zu den Türen. Sie merkte, wie Tränen in ihre Augen stiegen.
»Gibt es hier denn keinen Arzt?«, flüsterte sie.
Bertrand hatte aufgehört, nach Luft zu schnappen.
Brüssel
»Ich kann nicht glauben, dass ich das tue«, flüsterte Angström, als sie die Fahrräder vor dem Gebäude der Europäischen Kommission abstellten.
»Ich auch nicht«, erwiderte Shannon.
»In welches Gefängnis sollten sie uns denn noch bringen?«, fragte Manzano.
»Nicht der richtige Moment für schlechte Scherze«, maulte Angström.
So gelassen wie möglich schlenderten sie zum Eingang des Gebäudes. Ungehindert gelangten sie in die Lobby. Sie hielt ihren Ausweis vor das elektronische Schloss der Tür. Sie blieb geschlossen.
»Verdammt!«, zischte sie. »Schon deaktiviert.«
Ein Securityguide hatte sie bemerkt, kam auf sie zu. Angströms Blick suchte nach dem besten Fluchtweg an dem großen Kerl vorbei, aber da warteten noch andere, auch wenn das Gebäude um diese Zeit nicht mehr besonders frequentiert wurde.
»Zeigen Sie mir Ihren Ausweis«, forderte der Mann Angström auf.
Angström reichte ihm die Plastikkarte, er betrachtete sie, dann Angström. Er gab ihr die Karte zurück, blickte Manzano und Shannon fragend an.
»Die gehören zu mir«, sagte Angström.
»Der elektronische Zugang ist aus Energiespargründen seit heute deaktiviert«, erklärte er. Er sperrte die Tür mit einem Schlüssel auf und sah auf die Uhr über dem Empfangstresen. Sie zeigte Viertel nach acht. »Arbeiten Sie nicht zu lange.«
Angström gelang ein Lächeln.
»Werden wir nicht, danke.«
Aus Gründen der Energieersparnis leuchtete wohl auch nur noch jede vierte Deckenlampe in den Fluren, dachte Shannon.
»Ihr wartet hier«, flüsterte Angström. Vorsichtig schlich sie weiter, warf in jedes Büro links und rechts einen Blick. Endlich gab sie ein Zeichen, ihr zu folgen. Leise eilten Manzano und Shannon zu ihr. Sie schob sie in ein Zimmer und schloss die Tür. Es war der Raum, aus dem sie am Vorabend abgeführt worden waren.
»Da liegt ja noch mein Seesack!«, staunte Shannon.
»Aber mein Laptop ist weg«, bemerkte Manzano.
Den Haag
»Ich frage mich, ob wir nicht wegsollten«, sagte Marie Bollard zu ihrem Mann. In Decken gewickelt saßen sie am Kaminfeuer. Die Kinder schliefen schon. Sie hatte ihm von den Ereignissen am Binnenhof erzählt. Er hatte bereits davon gehört.
»Dann wollten einige weiter zu anderen Einrichtungen«, erzählte sie. »Zum neuen Rathaus, einige sogar zum Paleis Noordeinde. Wenn die Niederländer auf ihre Königin losgehen, muss es wirklich schlimm sein.«
»Woanders ist es nicht besser«, sagte er. Er sah so müde aus. »Komme gleich wieder.« Er stand auf. Sie hörte ihn in den Keller gehen. Zwei Minuten später kehrte er zurück, in der Hand ein kleines Paket. Er wickelte es aus. Im Flackern der Flammen kam eine Pistole zum Vorschein.
»Woher hast du die?«, fragte sie erschrocken. »Du darfst doch hier nicht …«
»Man weiß nie«, antwortete er. »Ich hatte sie sicherheitshalber mitgenommen. Sie lag immer gut weggesperrt im Keller.«
Sie stiegen hinauf ins Schlafzimmer. Die Waffe legte er auf seinen Nachttisch.
Brüssel
»Hier habe ich einen anderen Laptop«, flüsterte Angström. Sie schloss die Tür hinter sich und stellte das Gerät auf den Tisch.
Manzano warf ihn an.
Angström stand an der Tür und lauschte.
Zum Glück hatte sich Manzano die IP-Adresse gemerkt. Er loggte sich in das Gäste-WLAN ein, wählte sie an, gelangte auf die RESET-Seite und gab Nutzernamen und Passwort ein, die er schon beim ersten Mal verwendet hatte.
Vor ihm erschien das Verzeichnis der Unterhaltungen. Er scrollte herunter, entdeckte Unterregister.
»Das sind ganz schön viele«, stellte Shannon fest.
»Allerdings.«
Manzano klickte wahllos eine an.
»Ach du liebe Güte, schon wieder Kindskopfschrift«, konnte sich Shannon nicht verkneifen, als sie die Leet-Unterhaltung sah. »Übersetz mal«, forderte sie Manzano auf.
»Das heißt:
date: tue, -736, 14:35 GMT.
Proud: hast du die codes von deelta23 bekommen?
Baku: yep. Hat ein nettes Hintertürchen eingerichtet. Siehe Anhang.
Proud: ok. Bau sie ein.«
»Hintertürchen?«
Manzano antwortete nicht. Er klickte eine Datei an, die der Nachricht beigefügt war. Auf dem Bildschirm öffnete sich ein Dokument voll mit unverständlichen Zeilen aus Buchstaben und Ziffern.
»Was ist das?«
Manzano schwieg, las konzentriert. »Das ist ein Codefragment«, erklärte er schließlich. »Für die Hintertür zu einem Computersystem, einfach gesagt. Programmierer schreiben so etwas in ein Programm, um darauf zur Not auch später Zugriff zu haben, wenn das für sie eigentlich nicht mehr vorgesehen ist. Und natürlich kann so etwas auch nachträglich eingebaut werden, wenn man geschickt genug ist.«
»Heißt das, die unterhalten sich hier womöglich darüber, wie sie die Netze manipulieren?«
»Sie unterhalten sich nicht nur«, bestätigte Manzano. »Sie organisieren es … Ich müsste …«
»Was müsstest du?«
»Noch nicht …«
Manzanos Unaufmerksamkeit nervte Shannon ein wenig. Jeden Moment konnte wieder jemand hereinschneien, und er träumte vor sich hin!
»Minus siebenhundertsechsunddreißig beim Datum – heißt das, die Unterhaltung ist fast zwei Jahre alt?«
»Wenn unsere Countdown-These stimmt.«
»So lange bereiten die sich schon vor …«
»Sogar schon länger, schätze ich. Sieh her.«
Er scrollte weiter, öffnete eine andere Unterhaltung.
date: thu, -1.203, 14:35 GMT
»Kensaro: B.tuck hat Stanbul unterschrieben«, las Manzano vor. »Transaktion sollte bis Monatsende erledigt sein. Simon: ok. Schicke per Costa Ltd. und Esmeralda halbe halbe.«
»Was soll das heißen?«
»Keine Ahnung. Transaktion. Vielleicht eine Geldsendung.«
»Was ist Stanbul?«
»Nicht den blassesten Schimmer … Istanbul?«
»Wieso Istanbul?«
»Klingt so ähnlich.«
»Hm. Minus eintausendzweihundertdrei – nach unserer These ist das älter als drei Jahre«, stellte Shannon fest.
Manzano scrollte weiter über die Seite.
»Das sind so viele«, wisperte Shannon. »Tausende.«
»Abertausende«, sagte Manzano nicht viel lauter.
»Was flüstert ihr da?«, fragte Angström von der Tür. Sie kam zu ihnen. »Was habt ihr da?«
»Den heiligen Gral«, erwiderte Manzano leise. »Vielleicht.«
»Was soll der Quatsch?«
»Möglicherweise haben die Herrschaften einen kapitalen Fehler begangen, als sie mir die E-Mails in den Rechner pflanzten. Sie haben es ohne Umwege direkt von ihrer zentralen Kommunikationsplattform getan. Denn so sieht das hier aus. Und wenn sie das wirklich ist, dann …«
»Dann?«
»Haben wir ein Problem«, sagte Manzano. »Wir finden da drinnen womöglich alle Informationen, die wir brauchen, um die Katastrophe da draußen zu beenden – und vielleicht sogar, um die Mistkerle zu schnappen.«
»Da drinnen?«, fragte Shannon. »Und selbst wenn. Das ist ein Riesenpuzzle! Da ein bisschen Info, dort ein wenig. Allein um das durchzulesen, brauchen wir Jahre!«
»Ich sage ja, wir haben ein Problem.« Er drehte sich zu den beiden Frauen um. »Das können wir nicht allein. Da müssen Profis dran. Alles analysieren, das Puzzle zusammensetzen. Schnell. Hunderte, Tausende.«
»Wer soll das sein?«
»Keine Ahnung! Die NSA, CIA, jeder verdammte Nachrichtendienst und jede Terrorermittlungsbehörde der Welt!«
»Die Polizei war dir ja seit Beginn der Geschichte immer wohlgesinnt«, stichelte Shannon.
»Ich weiß«, seufzte Manzano. Er schloss die Augen, presste die Finger gegen die Nasenwurzel. »Haben wir eine Wahl?«