Turin

»Wir sind da«, sagte Valerio Binardi. Vor ihm eine Wohnungstür mit Eichenfurnier. Daneben eine Klingel ohne Namensschild. Neben der Tür stand sein Kollege Tomaso Delli. Unter dem Helm war es Binardi trotz der Winterkälte warm. Im Kinnteil war das Mikrofon integriert, über das er seinen Leuten Befehle geben konnte.

Hinter sich wusste er sechs Männer des Nucleo Operativo Centrale di Sicurezza, kurz NOCS, der Anti-Terroreinheit der Polizia di Stato. Kugelsichere Weste, Maschinenpistole im Anschlag, Rammbock bereit.

Sechs weitere warteten an den offenen Fenstern der Wohnung oberhalb, bereit, auf Kommando an Seilen durch die Fenster an der Vorderseite in die Wohnung einzudringen. Auf und in den gegenüberliegenden Gebäuden lagen sechs Scharfschützen mit Nachtsichtgeräten. Am Hauseingang und um den gesamten Häuserblock waren Trupps positioniert. Der Technikwagen und die Einsatzfahrzeuge parkten um die Ecke.

Die ungewohnte Stille in Folge des Stromausfalls hatte die Annäherung erschwert. Wenn auch nicht wirklich, für eine Einheit mit dem Motto »Sicut Nox Silentes« – »Leise wie die Nacht«.

Sie wussten nicht, ob sich jemand in der Wohnung befand. Der Einsatzbefehl hatte sie vor weniger als zwei Stunden erreicht. Hubschrauber hatten sie in die Nähe des Einsatzortes am Rande Turins gebracht. Für längere Observierung war keine Zeit, hatte es geheißen.

In der kurzen Vorbesprechung war die Aktion präzise zeitlich abgestimmt worden. An zwei weiteren Orten in Italien würden in diesem Moment eine andere Einheit der NOCS und eine Truppe der Gruppo di Intervento Speciale, der Anti-Terroreinheit der Carabinieri, zuschlagen.

Binardi wusste nicht, wen sie jagten. Doch so viel war klar: Wenn beide italienischen Anti-Terroreinheiten zu einem gemeinsamen Blitzeinsatz antraten, war die Lage ernst. Er warf einen letzten Blick auf die Armbanduhr. Sechs Uhr morgens. Noch war es draußen dunkel.

Über Funk kam das Zeichen zum Einsatz.

Der Rammbock schlug die Tür aus den Angeln. Gleich darauf explodierten Blendgranaten im Flur. Sie stürmten hinein. In der Wohnung war es dunkel. Binardi rannte zur ersten Tür, riss sie auf. Toilette. Leer. Zweite. Bad. Leer. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Dort sprangen gerade die Kollegen durch einen Splitterregen von draußen in den Raum. Hinter sich hörte er das Trampeln der Stiefel. Ein paar schnelle Blicke durch das Wohnzimmer. Hier war niemand. Außer einem alten Sofa nur ein paar Regale. Noch zwei geschlossene Türen. Das zweite Team drüben, Binardi mit seinem hier. Ein Zimmer mit einem Stockbett. Aus dem oberen starrten aufgerissene Kinderaugen Binardi an. Instinktiv brachte er die Waffe in Anschlag. Das Kleine begann zu schreien. Dann ein zweites im unteren Bett. Schnell sah sich Binardi um, deckte seinen Kollegen, der bereits zu den Betten vorgestoßen war, darunter nachsah, die Decken weghob. Niemand sonst im Zimmer. Sie behielten die Waffen im Anschlag. Die Kinder drückten sich kreischend in die hintersten Ecken ihrer Betten.

Zwanzig Sekunden später hörte Binardi in seinem Helmkopfhörer die kurzen Statements der Kollegen. »Zwei Erwachsene in einem Schlafzimmer, offenbar haben wir sie aufgeweckt. Sonst niemand.«

»Gesichert«, gab Binardi durch. Er spürte den Adrenalinstrom in seinem Körper verebben. Sah so aus, als hätten sie an der Türklingel läuten können.

Den Haag

Bollard schaltete den Beamer ab. Seit vergangener Nacht war klar, dass sie jeden Tropfen Diesel ihrer Notstromgeneratoren würden sparen müssen.

Nach seinem Telefonat mit den italienischen und schwedischen Kollegen war er zurück nach Hause gefahren, nicht ohne seine Nummer zu hinterlassen. Mit der Hoffnung, im Lauf des nächsten Tages Entwarnung zu bekommen, war er in seinem kalten Schlafzimmer zu Bett gegangen. Das Läuten des Telefons hatte ihn um vier Uhr morgens aus einem traumlosen Schlaf geweckt. Die Schweden meldeten sich als Erstes, kaum eine halbe Stunde später die Italiener. In beiden Ländern waren Manipulationen der Signale in den Stromzählern festgestellt worden.

Erst seit Kurzem wurden die Gefahren der modernen Stromnetze kontrovers diskutiert. Die meisten Experten gingen davon aus, dass die Systeme zu komplex und gut genug gesichert waren, um sie längerfristig und großräumig kaltzustellen. Im Allgemeinen wurden die europäischen Stromnetze professionell nach dem n-1-Kriterium betrieben. Demnach durfte jederzeit ein elektrisches Betriebsmittel – ein Transformator, eine Leitung oder ein Kraftwerk – ausfallen, ohne dass dadurch andere überlastet wurden. Schon gar nicht durfte durch so ein Einzelvorkommnis der Strom wegbleiben. Durch größere Defekte oder ungünstige Wettersituationen konnten jedoch mehrere derartige Ereignisse zusammenfallen. Trotz aller Vorschriften und Vorsichtsmaßnahmen führte auch menschliches Versagen immer wieder zu einer Verletzung des Kriteriums. Und in der Folge zu Stromausfällen. Nur sehr vereinzelt hatten in Europa bislang gezielte Anschläge auf die Stromversorgung überregionale Folgen gezeigt. Urheber waren im Allgemeinen nationale Extremisten, etwa in der sogenannten Südtiroler Feuernacht 1961. Was vorkam, ohne dass die Öffentlichkeit bislang davon wusste, waren Netzsabotagen auf einzelne Ortschaften und kleine Städte durch kriminelle Gruppen, die auf diese Weise Straßenbeleuchtungen, Alarmanlagen, teilweise Telefonanlagen und andere Infrastruktur außer Gefecht setzten, so Hilfskräfte und Polizei überlasteten und Bedingungen schufen, in denen sie ungestört auf systematische Einbruchszüge gehen konnten. Doch das hier war anders.

Dreißig Minuten später saß Bollard an seinem Arbeitsplatz im Statenkwartier. Er alarmierte jeden, den er erreichen konnte. Währenddessen schickten die Kontaktbüros aus Italien und Schweden eine Zusammenfassung der ersten Erkenntnisse. Um sieben Uhr morgens hatte sich ein Großteil der Mannschaft versammelt. In dem Konferenzraum saßen insgesamt achtzehn Personen, und zum wiederholten Mal fiel ihm auf, wie wenige Frauen darunter waren. Von den Führungsorganen fehlte eigentlich nur der Europol-Direktor Carlos Ruiz. Der Spanier war am Donnerstag zu einer Interpol-Tagung nach Washington geflogen. Über eine Standleitung nahm er an der Sitzung teil.

»Wir müssen von einer koordinierten Aktion ausgehen«, stellte Bollard fest. »Die Kollegen in Italien und Schweden haben jeweils drei Einspeisepunkte identifiziert. Die Spezialeinheiten vor Ort konnten die betroffenen Wohnungen binnen zwei Stunden überprüfen. Ermittlungen zu den Bewohnern oder früheren Bewohnern laufen auf Hochtouren. Nicht mehr auszuschließen ist, dass die Ausfälle im restlichen Europa ebenfalls aktiv herbeigeführt wurden. Dort kann es allerdings nicht über die Stromzähler geschehen sein, da noch vorwiegend analoge Produkte im Einsatz sind. Ich habe ein erstes Dossier für die Verbindungsoffiziere aller Mitgliedsstaaten zusammengestellt. Darin werden sie über die Erkenntnisse aus Italien und Schweden informiert. Verbunden damit ergeht eine Ermittlungsaufforderung. Alle relevanten Systeme der Stromversorgung müssen überprüft werden. Das reicht von den Kraftwerken bis zu den Netzbetreibern. Nach dieser Sitzung unterrichten wir natürlich umgehend offiziell die Europäische Kommission, Interpol und die anderen Behörden, die das Prozedere vorsieht.«

Bollard machte eine Pause. »Ich glaube, wir alle sind uns des Ernstes der Lage bewusst. Dieser Einsatz könnte zum wichtigsten seit Bestehen unserer Behörde werden.«

Aus dem Lautsprecher des Computers, auf dessen Bildschirm das Gesicht von Direktor Ruiz in Washington zu sehen war, hörten sie ihn sagen: »Ab sofort herrscht Urlaubssperre. Alle verfügbaren Mitarbeiter sollen so schnell wie möglich auf ihren Posten erscheinen. Frau Teneeren«, fuhr er fort und wandte sich dabei an die Leiterin der Abteilung Corporate Communications, »welche Kommunikationsstrategie gegenüber der Öffentlichkeit ist für diesen Fall vorgesehen?«

Die Britin, eine attraktive Endvierzigerin, strich ihre Jacke glatt. »Angesichts der Menge von Behörden und Unternehmen, die demnächst in den Prozess involviert sein werden, müssen wir davon ausgehen, dass irgendwann Informationen durchsickern. Alle Anfragen an uns werden an mich weitergeleitet und ausschließlich von mir beantwortet. Die Sprachregelung wird sein, dass Europol im Verbund mit nationalen Behörden die Möglichkeit einer Manipulation untersucht. Aber noch werden wir nichts bestätigen.«

»Stimmt es«, fragte der Direktor, »dass die auslösende Information von einem italienischen Programmierer stammt, der vierhundert Kilometer fuhr, um mit uns in Kontakt zu treten, nachdem ihn weder die Behörden noch ein Stromversorger seines Landes ernst genommen hatten?«

»Der Mann taucht in unserer Analysedatei auf«, antwortete Bollard.

»In welchem Zusammenhang?«

»Eindringen in IT-Netzwerke von Firmen und Behörden, um auf mangelnde Sicherheitsstandards aufmerksam zu machen. Ein Hacker. Wie es scheint, ein ziemlich guter – im Sinn von: Der kommt rein, wo er hineinwill. Ist allerdings ein paar Jahre her.«

»White Hat oder Black Hat?«, fragte Ruiz.

»Schwer zu sagen«, antwortete Bollard überrascht. Er hätte nicht gedacht, dass der Direktor auch nur oberflächlich mit der Materie vertraut war. Für Bollard waren alle Hacker Kriminelle. Auch wenn die White Hats angeblich nur in fremde Netzwerke einbrachen, um Sicherheitslücken aufzudecken, blieben sie doch Einbrecher. Black Hats stahlen und vandalisierten dann noch dazu.

»Außerdem demonstrierte er in den Neunzigerjahren für ›Mani pulite‹. Bei den Ausschreitungen gegen das Anti-G-8-Treffen in Genua wurde er sogar verhaftet.«

»Könnte er mit der Sache zu tun haben?«

Bollard musste sich eingestehen, dass er daran noch nicht gedacht hatte.

»Sie meinen, dass er ein schlechtes Gewissen bekam, als er die Auswirkungen erkannte?«

»Wir sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen«, sagte Ruiz. »Falls es so wäre, könnte er uns vielleicht zu den Drahtziehern beziehungsweise seinen Komplizen führen.«

»Aber er kann genauso gut nichts damit zu tun haben.«

»Wenn er sauber ist und so gut, wie Sie sagen, kann er uns vielleicht helfen. Er hat es schon einmal getan. Wir werden in dieser Sache jeden guten Mann brauchen, auch freie Mitarbeiter. Und falls er an der Sabotage beteiligt ist, hätten wir ihn in unserer Nähe und können ihn perfekt überwachen.«

»Holen uns damit aber den Feind womöglich ins Haus«, wandte Bollard ein. Der Gedanke, mit einem Linksrevoluzzer wie diesem Italiener zusammenarbeiten zu müssen, gefiel ihm gar nicht.

»Da ist er gut aufgehoben«, sagte Ruiz. »Kümmern Sie sich darum.«

Kommandozentrale

Die Antwort des Europol-Direktors überraschte ihn. Das scharfkantige Gesicht des Mannes mit den kurzen, grauen Haaren auf dem Bildschirm zeigte dabei keine außergewöhnliche Regung. Ähnlich unbeteiligt blieben die Gesichter des Teams, das sich in dem Besprechungsraum vor der Kamera versammelt hatte, um mit dem Direktor zu konferieren.

Dass ausgerechnet der Bürokratenladen Europol so aufgeschlossen war. Sie wollen sich beweisen, dachte er, deshalb griffen sie nach jedem Strohhalm. Er war gespannt, wann Berlin, Paris und die anderen wie aufgeschreckte Hühner auf dem Bildschirm zu sehen sein würden.

Sollten sie den Italiener doch holen. Auch wenn er ihren Zeitplan ein wenig durcheinandergebracht hatte, er würde Europol nicht helfen können. Das würden sie schon noch merken. Sie ahnten nach wie vor nicht, was auf sie zukam. Dabei hatten sie damit rechnen müssen. Sie konnten doch nicht erwarten, dass man sie ewig so weitermachen ließ. Die Zeichen standen seit Jahren an der Wand. Alle hatten gedacht, sie nicht ernst nehmen zu müssen. Jetzt würden sie erfahren, was Hilflosigkeit bedeutete. Das war erst der Anfang.

Ischgl

Angström hatte das Gefühl, aus einem gigantischen Kopf zu bestehen, an dem ihr Körper wie ein Wurmfortsatz hing. Ein Wunder, dass das Kissen über ihn passte. Im anderen Bett hörte sie Fleur atmen. Vorsichtig öffnete sie die Augen millimeterweit und linste unter dem Kissen hervor. Durch die rot-weiß karierten Vorhänge fiel gedämpftes orangefarbenes Licht in ihre Schlafstube, das in Angströms Augen wie eine Leuchtreklame glühte. Sie schloss die Lider wieder und verfluchte den Punsch. Behutsam setzte sie sich auf und stellte die Füße auf den Boden. Er war kalt. Sie tappte auf die Toilette. Erschrak über die eisige Klobrille. Spülte. Nichts. Dann erinnerte sie sich wieder. Also noch immer kein Strom. Sie schüttete Wasser aus dem Eimer nach, den sie in der Toilette aufgestellt hatten. Ging ins Bad. Hielt sich nicht lange mit einem Blick in den Spiegel auf. Eine heiße Dusche wäre jetzt fein, dachte sie. Stattdessen wusch sie sich das Gesicht mit Schneewasser. Immerhin machte sie das wach. In ihrem Kulturbeutel fand sie eine Kopfschmerztablette. Sie richtete an ihrem Gesicht notdürftig, was zu retten war, frisierte sich, ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich leise an. Fleur schlief unbeeindruckt weiter. In bequemen Jeans und Norwegerpulli stieg Angström hinunter in die Stube. Sie war die Erste. Im Kachelofen lagen nur noch ein paar verkohlte Holzreste. Als sie hineinblies, glommen sie auf. Angström legte zwei Holzscheite nach, ließ die Tür offen für den Luftzug.

Das Arrangement des Hüttchens sah Frühstückslieferung an die Tür vor. Angström war neugierig, ob es auch unter den gegebenen Umständen eingehalten würde.

Draußen schien die Sonne. Sie war gerade über den gegenüberliegenden Gipfel gestiegen, das Tal unten lag noch im Schatten. Der weiße Schnee blendete Angström zwar, aber sie genoss die warmen Strahlen auf der Haut. Auf der Fußmatte vor der Tür stand ein Picknickkorb. Sie bückte sich, fand dunkles Brot, Butter, Schinken, Käse, Hartwurst, Marmelade. Sogar zwei Thermoskannen mit Tee und Kaffee. Sie trug den Korb in die Küche, schenkte sich eine Tasse Tee ein und setzte sich damit auf die Bank vor der Hütte in die Sonne.

Es wirkt so friedlich, dachte sie. Kaum zu glauben, dass es da draußen solche Probleme geben soll. Aber vielleicht war ja alles längst wieder in Ordnung, und nur hier oben war der Strom noch nicht eingeschaltet.

Angström schloss die Augen und ließ sich von den Sonnenstrahlen streicheln. Zwischen den Händen spürte sie die heiße Tasse.

»Ich trinke nie wieder Punsch.«

Sie öffnete die Augen. Vor ihr stand Manzano, ohne ihr das Sonnenlicht zu stehlen. Sie lachte. »Das habe ich mir beim Aufstehen auch geschworen.«

Er atmete tief durch, drehte sich um, mit einer Geste in Richtung der Berge. »Herrlich, nicht? Man kann sich kaum vorstellen, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist.«

»Nein«, erwiderte sie. »Wo ist Laras Vater?«

»Schläft noch. Die letzten sechsunddreißig Stunden waren anstrengend für ihn. Er ist ja nicht mehr der Jüngste.«

»Für dich auch, nach allem, was du erzählt hast.«

Jetzt lachte er. »Für uns alle. Ich musste keine Kühe melken.«

Angström konnte sich nicht mehr genau erinnern, was sie gestern alles erzählt hatten. Aber sie spürte immer noch den Muskelkater in ihren Unterarmen.

»Willst du einen Tee oder Kaffee?«

»Ich will euch nichts wegtrinken.«

»Wir können sicher nachbestellen.«

»Dann gern. Kaffee.«

Angström holte eine Tasse und die Thermoskannen aus der Küche. Oben hörte sie jemanden im Bad rumoren. Langsam wurde die Hütte wach. Sie ging wieder hinaus. Manzano setzte sich neben sie auf die Bank und umklammerte den dampfenden Becher mit beiden Händen. Er lehnte den Kopf nach hinten gegen die Hütte und schloss die Augen.

»Das war ein netter Abend gestern«, sagte er. »Trotz allem.«

»Ja«, stimmte sie zu und tat dasselbe.

Manzano hatte sich sehr interessiert an ihrer Arbeit im EUMIC gezeigt, und bald hatten sie über Gott und die Welt geplaudert. Die bunte Runde der Gäste hatte bis drei Uhr morgens um den Kamin in der Empfangshütte ausgehalten. Angström hatte das Gefühl gehabt, dass der Italiener van Kaalden gefiel. Sie hatte bei seinen Bemerkungen besonders laut gelacht und am meisten Punsch getrunken. In ihrem Kopf wollte Angström heute nicht stecken.

»Na, ihr zwei Turteltauben?« Terbanten stand mit einer Tasse in der Tür. »Ist bei euch noch ein Plätzchen frei?«

Angström fand die Anwesenheit von Chloé in diesem Moment etwas unnötig. Sie hatte sich gerade so wohl gefühlt.

»Hier«, sagte Manzano, ohne die Augen zu öffnen, und klopfte mit seiner Hand auf die freie Seite der Bank.

Mit der Ruhe war es vorbei. Terbanten plapperte los, Manzano gab gelegentlich Kommentare dazu ab. Angström wollte gerade aufstehen, als sie Schritte im Schnee knirschen hörte.

Eines der Mädchen vom Empfang kam den Pfad zwischen den Hütten entlang.

»Herr Manzano, da hat ein Herr Bollard für Sie angerufen. Er ruft in zehn Minuten noch einmal an. Er meint, es sei dringend.«

Manzano stand am Empfangstisch der Eingangshütte, den Telefonhörer am Ohr. Sein Kopf war jetzt sehr klar. Angström befand sich neben ihm.

»Nicht gut«, sagte er auf Englisch ins Telefon. »Mir wäre lieber gewesen, ich hätte mich geirrt.«

»Uns auch«, erwiderte Bollard am anderen Ende.

»Wurde etwas anderes auch schon gefunden?«

»Wo?«

»Ich weiß nicht. In anderen Ländern. Bei den Verteilernetzen. In Kraftwerken. Sie haben selbst gesagt, dass ein Blackout in Italien und Schweden nicht ganz Europa lahmlegen kann.«

»Wir haben die einzelnen Staaten zu Ermittlungen aufgefordert.«

»Zu Ermittlungen aufgefordert?«

»Mehr kann Europol nicht tun. Wir hätten auch nicht das Personal dafür. Womit wir schon beim zweiten Grund meines Anrufes wären. Ich will gar nicht lange herumreden. Ich kenne Ihre Geschichte. Sie dürften gut in Ihrem Job sein. Unser Direktor möchte Sie als Berater in der Sache. Hier in Den Haag.«

Manzano verstummte einen Augenblick. Immer wieder arbeiteten Unternehmen und Behörden mit Hackern zusammen, die kurz davor noch in ihre Systeme eingedrungen waren.

Manche Hacker legten es bei ihren Aktionen nur auf die lukrativen Folgeaufträge an. Gerüchte behaupteten zudem, dass ein Viertel aller amerikanischen Hacker mit dem FBI kooperierte, das die teils im Verborgenen agierende Szene überwachen wollte.

»Sie wissen, dass ich verurteilt wurde?«

»Weil Sie gut genug waren, in scheinbar hoch gesicherte Konzern- und Behördennetzwerke einzudringen.«

»Nein. Weil ich so dumm war, mich erwischen zu lassen.«

»Ist Ihnen seither nicht mehr passiert.«

»Wer sagt, dass ich es wieder versucht habe?«

»Niemand. Aber vielleicht sind Sie auch nur schlauer geworden. Also, wollen Sie? Unser Leiter persönlich wollte Sie. Am Geld soll es nicht scheitern«, fügte der Anrufer hinzu.

Manzanos Blick schweifte zum Fenster. Über den weißen Schnee, der in der Sonne glänzte. Mit allem hatte er gerechnet. Aber nicht damit, dass die Polizei ihn um Zusammenarbeit bitten würde. Die Polizei hatte ihn noch nie freundlich behandelt. Verhaftet, lächerlich gemacht, nicht ernst genommen. Warum sollte er sich mit diesen Leuten zusammentun? Erinnerungen an das Uniformgesindel in Genua tauchten wieder auf. Skrupellos hatten sie einen Demonstranten erschossen. Manzano hatte ihnen gegenübergestanden, den geschlossenen Reihen mit ihren Visierhelmen, Schildern und Knüppeln. Diese hatte er sogar zu spüren bekommen, obwohl er nichts anderes getan hatte, als friedlich in Sprechchören zu rufen. Wahllos hatten die Typen auf ihn und die anderen eingeprügelt.

»Ich glaube nicht, dass ich das will«, sagte er schließlich. Er hatte die Behörden informiert. Jetzt sollten die ihre Arbeit erledigen.

»Überlegen Sie es sich noch mal«, erwiderte Bollard und gab ihm eine Nummer.

»Auf eines muss ich Sie natürlich aufmerksam machen: Falls Sie sich dazu entschließen, unterliegen Sie strengster Geheimhaltung über alles, was Sie im Rahmen dieser Tätigkeit erfahren.«

Geheimnistuerei, klar, das gehörte auch dazu. Bloß keine Offenheit. Der Hinweis bestärkte Manzanos Meinung.

»Ich glaube nicht, dass ich der Richtige für Sie bin«, sagte er.

»Denken Sie darüber nach. Ich rufe Sie in einer Stunde noch einmal an.«

Mit zunehmender Beklemmung hatte Angström Manzanos Telefonat verfolgt. Aus seinen Antworten hatte sie ihre Schlüsse gezogen. Draußen bestätigte er ihre Befürchtungen. Am Vorabend hatten sie nur kurz über die Folgen eines längeren Stromausfalls diskutiert. Die Aussichten waren zu beängstigend gewesen für den lustigen Abend. Durch ihre Tätigkeit im Monitoring and Information Centre war sie vermutlich von allen am besten darüber informiert. Bei anderen Gelegenheiten hatten sie mit vergleichbaren Situationen zu tun gehabt, das Erdbeben in Haiti etwa. Sie erinnerte sich an die Fernsehbilder und Berichte ein paar Tage nach dem Unglück. Millionen von Menschen in unvorstellbaren hygienischen Verhältnissen, ohne Wasser, Nahrung und medizinischer Versorgung, marodierende Plünderer in den Straßen, verzweifelte Szenen an den wenigen Hilfsstellen, völliger Zusammenbruch jeglicher Ordnung. Sie schob die Gedanken fort. In Europa besitzen wir eine funktionierende Verwaltung und intakte Hilfssysteme, erinnerte sie sich. Aber wie lange waren sie unter diesen Umständen tatsächlich einsatzfähig?

Während sie zur Hütte zurückgingen, fragte Angström: »Weshalb willst du nicht fahren?«

Manzano zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine guten Erfahrungen mit der Polizei gemacht, wie du weißt. Außerdem frage ich mich, ob ich dort wirklich helfen kann.«

»Du hast es schon einmal getan. Warum also nicht wieder?«

»Ich bin kein Fachmann auf diesem Gebiet. Das sind sehr spezielle Systeme.«

»Aber es ist IT

»Das ist, als müsstest du auf einmal keine Katastrophenhilfe mehr organisieren, sondern eine Skiflug-Weltmeisterschaft. Und zwar morgen für übermorgen.«

»Wäre mal etwas anderes. Aber ich verstehe deinen Punkt.«

Als sie die Hütte erreichten, hatten die anderen den Frühstückstisch bereits gedeckt. Auch der alte Bondoni war aus den Federn gekrochen. Manzano berichtete über die Neuigkeiten.

»Natürlich fährst du!«, empörte sich Bondoni als Erster. »Oder willst du unsere Rettung diesen Typen überlassen?«

»Sei nicht so melodramatisch«, bat Manzano. »Die haben Profis da.«

»So professionell, dass ein bescheidener italienischer Hacker sie erst auf diese Codes aufmerksam machen musste?«

»Früher oder später hätten sie die auch entdeckt.«

»Eher später, wie es scheint. Nein, mein Lieber, so einfach kannst du dich nicht aus deiner Verantwortung stehlen. Du bist doch kein Jugendlicher mehr, der die Welt trotzig in Schwarz und Weiß einteilt.«

»Habe ich nie. Wenn schon, dann in Bits und Bytes.«

»Warum bist du dann damals gegen die Polizeikordons angerannt? Um die Welt zu retten. Jetzt hast du die Gelegenheit dazu.«

Um nicht antworten zu müssen, biss Manzano ein extragroßes Stück von seinem Brötchen ab.

»Lass ihn doch«, sagte Bondonis Tochter zu ihrem Vater. »Es ist Pieros Entscheidung.«

Bondoni seufzte. »Wie auch immer. Muss er wissen. Das heißt, bis auf Weiteres gibt es kein Wasser, keine Heizung und bald nichts mehr zu essen? Da geht es mir ja hier besser als zu Hause.« Er bestrich ein Brötchen mit Butter und Marmelade.

»Das ist nicht gesagt«, widersprach Manzano. »Nachdem die Stromversorger in Italien und Schweden von den Codes wissen, müssten sie diese deaktivieren können. Danach sollte alles wieder funktionieren.«

»Aber du vermutest doch, dass, wer immer dafür verantwortlich ist, womöglich noch woanders Schaden angerichtet hat«, bemerkte Angström.

»Das ist nur eine Annahme, nachdem mir dieser Europol-Mensch erklärte, dass Ausfälle in Italien und Schweden nicht die Stromnetze in ganz Europa zusammenbrechen lassen können.«

»Heißt das, bei uns daheim funktioniert dann noch immer nichts?«, fragte van Kaalden.

»Vorläufig sowieso nicht«, antwortete Angström.

»Dann bleibe ich erst einmal hier.«

»Wolltest du doch ohnehin«, bemerkte Terbanten. »Heute ist der erste Tag unserer Urlaubswoche, schon vergessen? Den sollten wir uns nicht vermiesen lassen.«

Dein Urlaub war vorbei, bevor er begonnen hat, nur willst du das noch nicht wahrhaben, dachte Angström. Sie stellte fest, dass alle ihre erste Schockstarre überwunden hatten. Als ob Manzano von irgendeinem Unglück, vielleicht einem Flugzeugabsturz, erzählt hätte, der zwar kurz betroffen machte, aber schnell vergessen wurde. Angström spürte keinen Appetit mehr. Sie fragte sich, ob sie die mögliche Tragweite der Nachricht begriffen. Vielleicht war es besser, wenn sie es nicht taten.

»Wenn ich richtig verstanden habe, was du da in Brüssel machst«, sagte Manzano zu ihr, »werden deine Kollegen in den nächsten Tagen viel zu tun bekommen.«

Angström nickte.

»Daran habe ich auch schon gedacht. Falls du dich doch entschließt, nach Den Haag zu fliegen, frag diesen Bollard, ob er auch für zwei Personen einen Flug organisieren kann.«

Manzano blickte sie irritiert an.

»Von Den Haag sind es nur zwei Autostunden bis Brüssel«, erklärte sie. »Sonst muss ich zusehen, wie ich hinkomme. Dort wird jetzt jeder gebraucht.«

Berlin

Das Kasernengelände am Treptower Park spiegelte für Jürgen Hartlandt, Kriminalbeamter beim Referat ST 35 des Bundeskriminalamts, wie kein anderer Ort in Berlin die wechselhafte Geschichte der internationalen Konflikte im zwanzigsten und angehenden einundzwanzigsten Jahrhundert wider. Einst waren von hier die Bataillone des Kaisers in die Schlacht gezogen, später schwärmten von dem Gelände Teile der Polizei aus, um in der Hauptstadt der jungen Republik für Recht und Ordnung zu sorgen. Nachdem diese unter die Gewalt der nationalsozialistischen Diktatur gefallen war, bildete die Wehrmacht in der damaligen Heereswaffenmeisterschule Hilfskräfte des künftigen Vernichtungskrieges aus. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges von der Roten Armee besetzt zog 1949 die Organisation mit dem zynischen Namen Volkspolizei ein. Nachdem die Diktatoren der sogenannten Deutschen Demokratischen Republik die Bevölkerung ihres Landes hinter der Berliner Mauer endgültig eingesperrt hatten, übernahmen von hier die Grenztruppen ihre Aufgabe im folgenden Kalten Krieg. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 verloren sie ihre Aufgabe, die Bundeswehr übernahm das Gelände. Doch bald schon folgten ihr mit Asylbewerbern als Quartiernehmer die Opfer und Vorboten eines neuen globalen Konflikts, dessen Folgen letztlich zur aktuellen Bestimmung des Geländes führten. Seit der Generalsanierung Ende des Jahrtausends kämpften nach den Anschlägen in den USA 2001 am Berliner Standort des Bundeskriminalamts die Abteilungen des Polizeilichen Staatsschutzes gegen den internationalen Terrorismus, und seit 2004 hatte sich das neu geschaffene Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum GTAZ zu ihnen gesellt.

Seit fünf Jahren arbeitete Hartlandt in dem Komplex. Zu seinen ersten Ermittlungen hatte die Aushebung der Sauerland-Gruppe gehört, jener radikal-islamistischen Terrorvereinigung, deren Mitglieder für die Planung von Sprengstoffanschlägen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden waren. In diesen Jahren hatte er öfters Momente erlebt, in denen ihn ein schlechtes Gefühl befallen hatte, doch noch nie war es so überwältigend gewesen wie an diesem Sonntagvormittag. Sein Büro brauchte er gar nicht erst aufzusuchen, er begab sich direkt in den vorgesehenen Besprechungsraum. Dort warteten bereits einige Kollegen mit angespannten Gesichtern.

Hartlandt nahm Platz, tauschte Vermutungen aus. Nach einer Viertelstunde erschien schließlich der Leiter des GTAZ persönlich und begrüßte sie knapp.

»Heute Morgen bestätigten die schwedischen und italienischen Behörden Manipulationen ihrer Stromnetze, die zu den Ausfällen geführt haben.«

Unter aufgeregtem Raunen fuhr er fort: »Das Ausmaß der Situation europaweit lässt befürchten, dass wir mit weiteren derartigen Meldungen rechnen müssen.«

Er gab eine Übersicht der Lage, die weitaus schlimmer war, als Hartlandt es bislang im Radio gehört hatte. Die Verantwortlichen rechneten damit, dass der Strom mehrere Tage ausbleiben könnte, womöglich wurden Notevakuierungen und andere Hilfsmaßnahmen für Dutzende Millionen Menschen notwendig.

Auf die Frage nach den Verursachern antwortete er nur: »Unbekannt. Zurzeit können wir weder einen politisch oder religiös motivierten Terroranschlag ausschließen, noch einen kriminellen oder einen kriegerischen Akt.«

Die letzte Bemerkung sorgte erneut für Gemurmel im Raum.

»Meine Damen und Herren«, erklärte er abschließend, »in zwei Stunden erwarte ich einen ersten Bericht darüber, warum wir keinerlei Kenntnis von einem möglicherweise bevorstehenden derartigen Ereignis hatten – sowie über alle Fakten und Informationen, die unter den gegebenen Umständen neu bewertet werden müssen. Hartlandt, Sie koordinieren die Ermittlungen.«

Den Haag

Marie Bollard schleppte die Koffer ins Auto. Sie musste zweimal gehen, um alles zu verstauen. Die Kinder trugen beide einen kleinen Rucksack mit ihren Lieblingsspielsachen.

»Wir fahren in den Urlaub«, freute sich Bernadette.

»Ich will aber nicht weg«, jammerte Georges.

»Bitte, Georges, hör auf. Du wärest doch am Freitag auch gern zu Oma und Opa nach Paris geflogen.«

»Sind wir aber nicht.«

Sie wusste, dass in der vergangenen Nacht etwas geschehen war. Ihr Mann war lange im Büro geblieben. Bei seiner Rückkehr war er so angespannt gewesen, wie sie ihn noch nie erlebt hatte, nicht einmal vor der Geburt ihres ersten Kindes, obwohl er sich alle Mühe gab, es zu verbergen. Er konnte und wollte ihr jedoch nichts sagen. Stattdessen hatte er vorgeschlagen, dass sie für ein paar Tage woanders hinzögen. An einen Ort, wo es Strom, Lebensmittel und heißes Wasser gab. Paris war aus einem einfachen Grund ausgeschieden: Sie hatten nicht genug Benzin im Tank, um es bis zu ihren Eltern zu schaffen.

»Los jetzt, wir fahren.«

»Kommt Papa auch?«

»Papa muss arbeiten. Er kommt am Abend nach.«

Marie Bollard sperrte die Haustür ab. Auf der schmalen Straße mit den hübschen, alten Bürgerhäusern wirkte alles wie üblich. Der Himmel war wolkenverhangen.

Sie kontrollierte die Sicherheitsgurte der Kinder, dann fuhren sie los. Der Verkehr war dichter als sonst. Kein Wunder, alle waren aufs Auto umgestiegen. Sie schaltete das Radio an. Das Programm brachte Berichte über den Stromausfall. Passanten gaben Kommentare ab. Einer beschwerte sich über die unfähigen Energieunternehmen. Ein Mann meinte, man könne die Situation ohnehin nur mit Gelassenheit vorübergehen lassen. Er hoffe nur, seine Toilette funktioniere bald wieder, sagte er lachend. Marie Bollard fragte sich, woher die Radiogesellschaften den Strom zum Senden nahmen.

»Wohin fahren wir?«, fragte Georges.

»Nicht weit. In einer Viertelstunde sind wir da.«

»Und dafür brauchen wir so viel Gepäck?«

»Wir bleiben ein paar Tage.«

Hinter Zoetermeer führte das Navigationsgerät sie von der Autobahn ab. Marie Bollard folgte den Anweisungen der Sprecherin bis zu einem stattlichen Gutshof.

Die Fachwerkfassade des großen Hauses wurde von einem tief gezogenen Reetdach gekrönt. Auf dem gekiesten Hof davor standen ein Geländewagen, zwei Limousinen und ein Traktor. Sie parkte den Wagen daneben.

»Aussteigen, Kinder!«

Sie drückte die Messingklingel neben der kunstvoll verzierten Holztür, und eine Frau in ihrem Alter öffnete. Sie trug Cordhosen, ein kariertes Hemd, einen Wollpulli und hatte ein freundliches Gesicht und blonde Haare.

Bollard stellte sich und die Kinder vor. »Mein Mann hat mit Ihnen gesprochen«, sagte sie.

»Maren Haarleven«, erklärte die Hausherrin mit einem Lächeln. »Willkommen. Möchten Sie eine Kleinigkeit zum Trinken oder zuerst Ihr Zimmer sehen?«

»Gern das Zimmer, bitte.«

Im Haus war es warm. Es war ein gepflegtes Gebäude, in dem die Jahrhunderte wenig gerade Wände oder Kanten übrig gelassen hatten. Die Einrichtung war mit Geschmack im Stil eines Landhauses ausgesucht. Über eine schmale, steile Treppe führte Haarleven sie in den ersten Stock. Von einem langen Flur gingen einige Türen ab. Haarleven öffnete eine davon.

Das Zimmer war geräumig und gemütlich. Weiche Sofas und Sessel mit großem Blumenmuster, ländliche Antiquitäten, viel Weiß.

»Das ist eine unserer Suiten«, erläuterte Haarleven. »Hier ist das Wohnzimmer. Daneben finden Sie eine Küche mit Esstisch, ein Bad und zwei Schlafzimmer.«

»Ein Bad!«

Sie probierte die Armaturen. Das Wasser lief. Bollard unterdrückte ein glückliches Seufzen. Sie dachte an die Dusche, die sie so bald wie möglich nehmen würde.

»Das ist ja fabelhaft.«

»Ja«, lachte Haarleven. »Der Stromausfall macht uns nichts. Wäre auch schlimm. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen etwas. Dann können wir gleich auch Ihre Sachen hochbringen lassen.«

Unten ging Haarleven auf der Rückseite aus dem Haus. Links und rechts standen zwei große Wirtschaftsgebäude. Haarleven wandte sich dem linken zu und öffnete ein großes Tor. Dahinter sah Bollard eine riesige Halle, auf deren Boden es vor Küken wimmelte. Von der Decke hingen Lampen, die warmes Licht verbreiteten.

»Das ist unsere Geflügelzucht.«

Georges und Bernadette quietschten entzückt.

»Stellen Sie sich vor, wir könnten hier nicht mehr heizen. Nach ein paar Stunden wären alle erfroren.«

Sie schloss das Tor wieder, ging weiter ans Ende des Gebäudes zu einem modernen Anbau mit einer Metalltür. Der Raum dahinter war düster. Bollard konnte nur einen großen, grünen Kasten, von dem verschiedene Rohre und Leitungen abgingen, ausmachen.

»Wir haben unser eigenes Blockkraftwerk«, erklärte Haarleven. »Heizbar mit Holz und Pellets. Damit sind wir vom öffentlichen Stromnetz weitestgehend unabhängig. Und nachdem wir auch unseren eigenen Brunnen haben, merken wir von dem Blackout bislang nichts.« Sie schloss die Tür. »Außer, dass wir plötzlich auch im Winter Gäste haben. Seit heute Morgen sind wir ausgebucht. Binnen einer halben Stunde. Einige Kollegen Ihres Mannes, schien mir. Keine Ahnung, was los ist.«

Das werden wir alle noch früh genug erfahren, dachte Marie Bollard, und ihre dunkle Ahnung verdüsterte sich zusehends.

Paris

»Meine Damen und Herren«, erklärte Guy Blanchard in die Kameras. Er schob noch einmal den kleinen Ohrlautsprecher mit dem Finger zurecht. »Heute ist eine gute Gelegenheit darauf hinzuweisen, dass die Französinnen, die Franzosen, aber auch Europa und der Rest der Welt unter der Abkürzung CNES nicht nur das Centre National d’Études Spatiales, die französische Raumfahrtagentur, kennen sollten, sondern vor allem auch das Centre National d’Exploitation Système, die Zentrale der französischen Elektrizitätsnetze. Zu dessen Leitern darf ich mich in aller Bescheidenheit zählen. Ohne das Centre Système hätte die Raumfahrtagentur nicht einmal Strom zum Kaffeekochen.«

Zufrieden blickte er auf die Journalistenhorde, die sich im Pressezentrum drängte. Er war Kameras und Blitzlichter gewohnt.

»Zugegeben, der gesamteuropäische Ausfall vorgestern Abend hat auch das französische Netz nicht verschont. Wir möchten uns dafür entschuldigen, dass die Bevölkerung ohne Licht und Heizung auskommen muss. Doch wie viele inzwischen feststellen konnten, ist es uns gelungen, die Versorgung in vielen Regionen innerhalb einer Nacht zumindest teilweise wiederherzustellen, im Gegensatz zu unseren Nachbarn und den meisten anderen europäischen Ländern. In einigen Gebieten bitten wir noch um Geduld, auch hier kann es sich nur noch um Stunden handeln. Damit haben wir eindrucksvoll die Leistungsfähigkeit der französischen Energieversorgung bewiesen. Ich darf Ihnen die Ereignisse kurz darlegen. Die Filme, Bilder und Charts meiner Präsentation finden Sie auf der DVD in Ihrer Pressemappe und in den Pressebereichen der Internetseiten der Réseau de Transport d’Electricité und von Electricité de France.«

Auf dem großen Bildschirm hinter ihm wurde von einem Assistenten die Show gestartet.

»Der Komplettausfall stellte alle Beteiligten vor große Herausforderungen. Nur ein Beispiel: Frankreich bezieht, wie Sie alle wissen, den Großteil seiner Energie aus Atomkraft. Die Meiler in so kurzer Zeit herunter- und dann wieder hochzufahren stellte keine einfache Aufgabe für die Verantwortlichen dar, wurde aber lehrbuchmäßig gelöst.«

Blanchard erlaubte sich einen kurzen Blick auf den Schirm, um zu überprüfen, ob die Bildbegleitung im Takt zu seinem Vortrag blieb.

»Das befähigte uns, bereits nach wenigen Stunden rund um die Kraftwerke Strominseln aufzubauen, die dann sukzessive erweitert wurden.«

Auf der Landkarte hinter ihm wuchsen kleine Punkte zu größeren Feldern.

»Im Lauf der folgenden Stunden konnten wir diese regionalen Einzelnetze nach und nach synchronisieren und so für fünfzig Prozent der Bevölkerung die Grundversorgung wieder sichern.«

»Monsieur Blanchard.« Aus dem kleinen Knopf im Ohr drang die Stimme seiner Assistentin. Ohne sich irritieren zu lassen, setzte er seinen Vortrag fort.

»Damit sind wir eines von ganz wenigen Ländern in Europa, denen das gelungen ist.«

»Monsieur Blanchard. Es ist sehr wichtig.« Die Stimme in seinem Ohr nervte ihn.

»Von den stabilen französischen Netzen aus werden wir auch die restlichen Staaten Europas wieder aufbauen können.«

»Beenden Sie die Pressekonferenz.«

Was hatte der Knopf im Ohr gesagt?

»Beenden Sie die Pressekonferenz. Es ist ein Notfall.«

Was für ein Notfall?, fragte er sich und sagte zum Publikum: »So viel fürs Erste. Ich danke für Ihr Kommen.«

Fragen brandeten ihm entgegen. Ohne weiter darauf zu achten, verließ er das Pult und eilte in den Nebenraum.

Seine Assistentin empfing ihn mit aufgerissenen Augen.

Blanchard fuhr sie an: »Wenn jetzt nicht mindestens der Präsident im Haus ist, können Sie gleich Ihre Sachen packen!«

»Es ist viel schlimmer«, erwiderte sie. »Sie müssen sofort nach oben in den zentralen Kontrollraum.«

»Was ist denn los? Jetzt sagen Sie schon!«

»Die wissen es nicht. Das ist das Problem.«

Blanchard nahm den Fahrstuhl.

In dem Saal mit den Monitoren und Arbeitsplätzen voller Bildschirme diskutierten die Operatoren aufgeregt. Einige stützen sich vor den Computern auf die Tische und starrten in die Bildschirme. Andere telefonierten hektisch. Die große Übersichtswand zeigte das Bild der letzten Stunden. Einige grüne, einige rote Regionen. Die Bildschirme an den Arbeitsplätzen waren alle blau.

Sein Magen sackte in die Kniekehlen. Er stürmte zum erstbesten Operator. Auf dem farbigen Bildschirm las er nur eine Fehlermeldung:

DRIVER_IRQL_NOT_LESS_OR_EQUAL

stop: 0x00000001 (0x000003E8, 0x00000002, 0x00000001, 0x903A7FC4)

RT86WIN7.sys-adress 9003A7FC4BASE at 90397000, datestamp 49a65b16

»Was, zum Teufel, ist geschehen?«

Der Mann, ein erfahrener Mitarbeiter, schüttelte ratlos den Kopf.

»Alles weg. Blue Screens. Sämtliche Computer. Sieht aus wie ein Totalausfall.«

»Wie? Wann?«

»Vor etwa zehn Minuten. Zuerst gab es auf einigen Workstations schon Schwierigkeiten. Nach und nach gab alles den Geist auf.«

»Verdammt! Okay … okay.« Blanchard überlegte fieberhaft. Sie hatten zwar keinen Überblick mehr, aber davon brachen die Netze noch nicht zusammen. Zumindest nicht kurzfristig. Es war, als wären sie in der Nacht mit einem Schiff auf dem Meer unterwegs, Lichter und Instrumente ausgefallen, aber der Motor lief. Das wurde solange kein Problem, solange keine Klippen, Eisberge, Untiefen oder schweren Wellen auftauchten. Erst wenn Fehler auftraten, die Operatoren manuell korrigieren müssten, kamen sie in Schwierigkeiten.

Einer der Operatoren schwenkte einen Telefonhörer über seinem Kopf.

»Ich habe da das Operation Centre dran«, rief er.

Dort kontrollierten Operatoren nicht den Zustand des Netzes, sondern jene Server, die das Netz steuerten. Bei dem Schiff, das ohne Instrumente durch die Nacht fuhr, begann der Motor zu spucken.

»Das OC meldet Serverausfälle.«

»M …! Schicken Sie Albert Proctet hin! Sagen Sie, dass ich unterwegs bin! Wenn was ist, ich bin dort erreichbar!«

Hastig verließ Blanchard den Raum.

Ratlos stierte Turner auf das leere Podium, von dem der Sprecher des Centre National d’Exploitation Système so plötzlich verschwunden war, ohne Fragen zu beantworten.

»Was war das jetzt?«, fragte er Shannon.

Die anderen anwesenden Journalisten sahen sich nicht minder verwirrt an. Ein Summen von Fragen und Vermutungen erfüllte den Raum. Vereinzelte Stimmen riefen noch immer laut nach Antworten, nach Verantwortlichen. Das Podium blieb leer. Nach ein paar Minuten begannen die Anwesenden, ihre Sachen zu packen. Shannon und Turner schlossen sich ihnen an. Beim Hinausgehen lästerten die meisten über die unprofessionelle Medienarbeit. Shannon schwieg. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber sie hatte das Gefühl, dass hinter dem abrupten Ende des Selbstlobs von diesem Blanchard mehr steckte. Jemand wie er liebte die Kameras und die Aufmerksamkeit. Ohne einen triftigen Grund würde er nicht so schnell darauf verzichten. Sie hatten den Ausgang des Gebäudes noch nicht erreicht, als sich Shannons Ahnung verstärkte. Von der Straße hörte sie Autos hupen, durch die Glastür des Entrees sah sie Menschen auf den Bürgersteigen, die durcheinanderliefen oder wild gestikulierend diskutierten, manche tippten nervös auf ihren Mobiltelefonen.

Draußen herrschte ein grauer Tag, es pfiff ein unangenehm kalter Wind. Shannon musste nicht lange suchen, um den Grund für die Aufregung zu entdecken. Alle Schaufenster in der Straße waren unbeleuchtet, die Verkehrsampeln auf den Kreuzungen dunkel. Die Autos stauten sich bereits.

»Nicht schon wieder«, stöhnte Turner. »Hat der Typ da eben nicht erklärt, dass alles vorbei ist?«

»Okay, wir gehen noch einmal hinein«, schlug Shannon vor. »Die sind uns eine Erklärung schuldig.«

Sie wandte sich zum Gebäude um und sah, wie Sicherheitspersonal die Türen von innen verriegelte.

Im Operation Centre erwartete Blanchard ein ähnliches Durcheinander wie im Kontrollraum. Ein Blick auf die Monitore zeigte ihm das Problem.

Der IT-Chef vom Dienst, Albert Proctet, ein jüngerer Mann mit Dreitagebart und buntem Hemd, erwartete ihn mit gerunzelter Stirn. Er zeigte auf die Bildschirme, auf denen neben vielen grünen Kontrollfeldern einige orangefarben und eines rot leuchteten.

Jede Lampe symbolisierte einen der Server, die das Netz kontrollierten und steuerten. Dass der eine oder andere ab und zu ausfiel, war nicht ungewöhnlich. Die Systeme waren redundant abgesichert, für einen ausgefallenen Server übernahm ein anderer.

»Die Ersatzsysteme übernahmen, doch dann fiel auch das erste von ihnen aus.«

Das hieß, eine Schaltstation des Stromnetzes konnte nicht mehr gesteuert werden und wurde deaktiviert. Unter normalen Umständen kein Problem, dafür sorgte die Redundanz im Stromsystem, dann wurde der Strom in das entsprechende Gebiet über andere Schaltstellen und Leitungen geschickt. Doch jetzt kämpften sie schon mit einem Netz, das mehr und mehr einem Fleckenteppich ähnelte, und die einzelnen Flecken hielten sich nur mühsam in einem labilen Gleichgewicht. Jede ausgefallene Umschaltstelle konnte eine ganze Region erneut vom Strom trennen.

Einer der Männer im Raum rief Blanchard zu einem Telefon.

»Der Kontrollraum!«

Er presste den Hörer ans Ohr.

»Was ist?«

»Wir haben gerade Region sechs verloren«, erklärte die Stimme am anderen Ende.

Blanchard stellte sich die große Übersichtswand im Kontrollraum vor, auf der ein Netz grüner Linien gerade rot geworden war.

Auf den Monitoren vor ihm sprangen währenddessen drei orangefarbene Lichter gleichfalls auf Rot. Die Steuerungen dreier weiterer Schaltstellen hatten sich eben verabschiedet.

»Region zwei wechselt zu Gelb«, erklärte sein Gesprächspartner aus dem Kontrollraum.

»Region zwei und fünf auf Rot, vier auf Gelb, jetzt Rot. Was ist da los? Wir verlieren wieder das ganze Netz!«

Dem instrumentenlosen Schiff in der Nacht war auch der Antrieb abhandengekommen. Hilflos trieb es, wohin auch immer.

Den Haag

»Wie stellen Sie sich das vor?«, fragte Manzano. Er hatte sich zurückgemeldet, bevor Bollard wieder in Ischgl anrufen musste. »Was soll ich tun? Und wo?«

»Hier in Den Haag«, antwortete Bollard und überlegte, was den Sinneswandel des Mannes ausgelöst haben mochte. »Bei uns laufen eine Menge Informationen zusammen. Sie können uns bei der Analyse helfen.«

»Ich habe Kleidung für drei Tage mit. Die Hälfte davon ist bereits getragen. Waschmaschinen gehen zurzeit nicht. Läden haben zu.«

»Dafür finden wir eine Lösung.«

»Wo soll ich wohnen?«

»Im Hotel. Einige haben Notstromversorgung.«

»Sind da noch Zimmer frei? Wer es sich leisten kann, hat sich diesen Luxus wohl schon gesichert.«

Gute Einwände, die Bollard nur zu gern bestätigt hätte, um den Mann zu lassen, wo er war. Doch Direktor Ruiz hatte andere Wünsche.

»Die EU hat genug Kontingente in den Hotels von Den Haag.«

»Den Haag. Wie komme ich da hin?«

»Ich organisiere einen Flug.«

Ich kann nicht glauben, dass ich das tue, dachte Bollard. Das sind die Typen, gegen die ich eigentlich vorgehen muss. Und jetzt muss ich ihm ein Flugzeug schicken.

»Wie? Ich dachte, der Flugverkehr sei eingestellt.«

»Das lassen Sie meine Sorge sein.«

»Eine Mitarbeiterin des EUMIC möchte mitkommen«, erklärte Manzano. »Sie sagt, dass sie in Brüssel gebraucht wird.«

»Dann soll sie das. Im Flieger ist genug Platz.«

Saint-Laurent-Nouan

Marpeaux wusste nicht gleich, was ihn aufgeweckt hatte. Bis seine Frau fluchte. Er blieb liegen und versuchte weiterzuschlafen. Er drehte sich um, da hörte er seine Frau abermals schimpfen, dann trampelten ihre Schritte durch das Haus. Er rieb sich die Augen, stand auf, ging auf die Toilette und spülte – kein Wasser. Er versuchte es noch einmal, ohne Erfolg. Auch der Wasserhahn röchelte – und lieferte nichts. Marpeaux stöhnte auf, betätigte den Lichtschalter. Nicht schon wieder!

»Schon wieder kein Strom«, erklärte seine Frau von der Badezimmertür, die Arme in die Hüften gestemmt.

Marpeaux zuckte mit den Schultern. »Was soll ich machen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich sag’s ja nur …«

Auf eine warme Dusche durfte er demnach nicht hoffen. Er zog sich an, dann wählte er die Nummer des Kraftwerks. Beim dritten Läuten hob jemand ab.

»Ich bin es, Yves«, erklärte er dem Schichtleiter. »Alles in Ordnung?« Im Hintergrund hörte er Warnsignale.

»Weiß ich noch nicht«, antwortete dieser hektisch. »Wir haben gerade erneut eine Schnellabschaltung hinter uns.«

Weshalb wusste er dann nicht, ob alles in Ordnung war?, fragte sich Marpeaux.

»Was sind das für Signale, die ich da höre.«

»Wieder etwas mit dem Notstrom. Ich kann gerade nicht reden. Bis später.«

Ein paar Sekunden lauschte Marpeaux dem Freizeichen, dann legte er auf. Sein Kollege war seit elf Jahren dabei, seit drei Jahren Schichtleiter. So gestresst hatte Marpeaux ihn noch nie erlebt.

Er eilte in den Flur, warf sich seine Jacke über und sagte zu seiner verwirrt dreinblickenden Frau: »Ich muss ins Kraftwerk.«

Ischgl

Nach dem Frühstück hatten sie sich auf die Bank vor der Hütte gesetzt. Wer keinen Platz fand, stellte sich einen Liegestuhl dazu. Angström empfand ihre Lage als surreal. Aber wie sollten sie anders mit der Situation umgehen? Heulen und Zähneklappern half niemandem. Die Stimmung war überdreht. Sie hatten ihre Schwüre vom Morgen schnell über Bord geworfen und eine Flasche Prosecco bestellt. Nur sie und Manzano tranken nichts. Für den Nachmittag planten van Kaalden und Terbanten eine Langlaufrunde. Angström bezweifelte, dass sie dazu kommen würden, nachdem sie die dritte Flasche öffneten.

Gegen zwölf kamen zwei Männer in Uniformen zwischen den Hütten auf sie zu: »Piero Manzano und Sonja Angström?«, fragte der kleinere der beiden.

Angström richtete sich auf. Manzano meldete sich.

»Wir sind von der Polizei. Wir kommen, um Sie abzuholen. Im Tal steht ein Hubschrauber bereit.«

Das Geplapper der anderen verstummte. Die beiden holten ihre gepackten Taschen aus der Hütte. Angström verabschiedete sich mit einer Umarmung von ihren Freundinnen.

»Eine schöne Woche noch«, wünschte sie ihnen.

»Komm gut nach Hause.«

In ihren Gesichtern las sie die Besorgnis und Angst, die sie bisher weggetrunken hatten. Der Abschied spülte alles wieder hoch. Sie beobachtete, wie Manzano den alten Bondoni umarmte. Die Geste hätte sie den beiden Männern nicht zugetraut. Aber vielleicht waren sie sich der Bedeutung des Moments bewusst.

»Und ich darf dich wirklich hier allein lassen?«, fragte Manzano Laras Vater.

»Ich bin ja nicht allein, sondern in charmanter Gesellschaft.«

Manzano wandte sich an Lara. »Ist es in Ordnung, dass er hierbleibt? Euren Urlaub habt ihr euch sicher anders vorgestellt.«

Lara Bondoni legte einen Arm um die Schultern ihres Vaters. »Ich sehe ihn ohnehin zu selten. Schade nur, dass ihr fortmüsst.«

Sie löste sich von ihrem Vater und umarmte Manzano.

»Viel Glück!«

Mit einem Geländewagen brachten die Polizisten sie ins Tal. Während der Fahrt sprachen sie nicht viel. Nach zwanzig Minuten hielten sie auf einem schneebedeckten Feld neben einem Hubschrauber. Als sie ausstiegen, begannen seine Rotorblätter sich behäbig zu drehen und immer mehr Tempo aufzunehmen.

»Ich bin noch nie in so einem Ding geflogen«, rief Angström Manzano über den Motorlärm zu, als sie gebückt auf das Fluggerät zuliefen.

»Ich auch nicht! Und ich hasse Fliegen!«

Ratingen

Im Poolraum herrschte trotz des Vormittags Dämmerlicht. Das Wasser im Becken war noch nicht zu kalt. Die dreißig Minuten Schwimmen hatten Wickley gut aufgewärmt. Er stieg in die kühle Luft hinaus. Er fröstelte, rubbelte schnell seine Haare, trocknete sich ab und schlüpfte in seinen Bademantel. Seine Frau betrat den Raum, eine Decke über den Schultern.

»Meinst du wirklich, dass die Einladung unter diesen Umständen stattfindet?«, fragte sie.

»Wir haben keine Absage bekommen«, antwortete Wickley. »Und frisch gemacht habe ich mich eben.«

»Eine heiße Dusche wäre mir lieber«, seufzte sie. »Außerdem, wer sagt dir, dass die Absage uns nicht erreicht hat? Wir sind weder über Festnetz noch mobil erreichbar. Und die Balsdorffs wahrscheinlich ebenso wenig. Wie also sollten sie uns informieren?«

»Siegmund von Balsdorff ist Vorstand eines der größten Energiekonzerne des Landes. Höchstwahrscheinlich hat er erstens eine Notstromanlage im Haus …«

»Im Gegensatz zu uns …«

»… denkt deshalb zweitens gar nicht daran, dass es bei seinen Gästen anders sein könnte …«

»So kann man sich täuschen …«

»… und diese daher davon ausgehen, dass eben auch er eine hat …«

»Warum haben wir eigentlich keine?«

»… und ganz abgesehen davon, sollte er tatsächlich absagen wollen, würde er einen Weg finden, und sei es, einen berittenen Boten zu senden.«

»Die Aussicht auf ein geheiztes Haus hat natürlich durchaus ihren Reiz.«

»Nun hör schon auf«, sagte Wickley und nahm sie in den Arm. »Du hast bis eben gemütlich vor dem Feuer am offenen Kamin gesessen und sicher nicht gefroren.«

»Aber mangels funktionierender Dusche und Badewanne müsste ich auch noch in dieses Eisbecken, um mich frisch zu machen«, klagte sie.

Wickley strich sich die Haare zurück.

»Wenn du keine Lust hast, fiele mir natürlich auch etwas anderes ein, um uns aufzuwärmen.«

Er fuhr mit seiner kalten Hand unter ihre Bluse.

Sie schrie auf und sprang zur Seite.

»Überredet!«, rief sie. »Wir fahren zu den Balsdorffs.«

Saint-Laurent-Nouan

Marpeaux hielt sich im Hintergrund. Bei ihm standen mittlerweile die Pressesprecherin und der Kraftwerksleiter persönlich. Die Leitstelle blinkte wie ein Weihnachtsbaum. Fast alle Kraftwerksfahrer standen mit dicken Büchern vor den Armaturen und suchten nach den Erklärungen für die Meldungen. Der Schichtleiter lief zwischen ihnen hin und her, diskutierte da, gab dort eine Anweisung. Dann telefonierte er. Schließlich kam er zu Marpeaux und dem Direktor.

»Druck im Reaktor und Temperatur im Primärkühlsystem steigen weiter«, berichtete er. Auf seiner Stirn entdeckte Marpeaux einen dünnen Schweißfilm.

Sämtliche in Frankreich aktiven Kernkraftwerke betrieben Druckwasserreaktoren. Im Unterschied zu Siedewasserreaktoren, wie etwa in der Katastrophenanlage Fukushima-Daiichi, besaßen sie zwei gesonderte Kühlkreisläufe, einen primären und einen sekundären. In Druckwasserreaktoren beschränkte sich hohe Radioaktivität auf den Primärkreislauf. Dieser lief durch den Druckbehälter des Reaktors, wo das Wasser bei einem Druck von etwa 150 bar auf 320 Grad Celsius erhitzt wurde. Nach dem Prinzip eines Wärmetauschers lief dieses heiße Wasser nun durch Rohre, die ihrerseits von Wasser des Sekundärkreislaufs umgeben waren, das sie erhitzten. Dank der Rohre blieb die Radioaktivität weitestgehend im Primärkreislauf gefangen. Während das wieder abgekühlte Wasser danach erneut durch den Reaktor geschickt wurde, erzeugte der nun erhitzte Sekundärkreislauf jenen radioaktivitätsarmen Dampf, der die Turbinen antrieb. So gesehen war der Druckwasserreaktor relativ sicher. Nicht jedoch ihrer in diesem Augenblick.

Fieberhaft überflog Marpeaux die zahllosen möglichen Gründe für die Anomalie – von einem Ausfall der Dieselaggregate über fehlerhaft geöffnete oder geschlossene Ventile bis zu elektronischen Pannen bei der Steuerung des Systems oder Defekten, die bis jetzt noch niemand kannte. So viel hatten die weltweiten Zwischenfälle in den vergangenen Jahrzehnten gezeigt: Viele Störfälle hatten die Experten vorher für unmöglich gehalten – bis sie eingetreten waren.

»Die Dieselmotoren?«, fragte Marpeaux.

»Zwei sprangen nicht an und der, der beim letzten Mal defekt war, laut Instrumenten schon. Drei Teams sind vor Ort und untersuchen die Geräte gerade.«

Sie mussten dringend die Temperatur im Primärkreislauf unter Kontrolle bekommen, ebenso wie den Druck im Reaktorgefäß. Noch hatten sie dazu ausreichend Möglichkeiten, bevor sie drastischere Maßnahmen ergreifen mussten, etwa hoch radioaktiven Dampf aus dem Primärkreislauf abzulassen, um den Druck im Reaktorbehälter zu verringern.

Unweigerlich schossen Marpeaux die zwei partiellen Kernschmelzen durch den Kopf, die Saint Laurent bereits erlebt hatte. Sowohl jene 1969 als auch die von 1980 hatten in den längst stillgelegten Magnoxreaktoren einer veralteten Bauart der Blöcke A1 und A2 stattgefunden. Mit Stufe 4 auf der siebenstelligen Skala für die Internationale Bewertung Nuklearer Ereignisse INES hatte sie die französische Atomaufsichtsbehörde als die schwersten Unfälle kategorisiert, die sich jemals in Frankreich ereignet hatten. Danach waren die Blöcke für Jahre unbrauchbar gewesen, Dekontaminierung und Wiederinbetriebnahme hatten Vermögen verschlungen. Ein paar Jahre später waren sie stillgelegt worden.

»Paris wird sich nicht freuen«, bemerkte der Direktor.

Marpeaux fragte sich, ob er damit die Électricité de France oder die Behörden oder beide meinte. Ein Störfall käme zur Unzeit. Per Fernsehen oder Rundfunk würden Informationen und Warnungen in der momentanen Situation die Bevölkerung kaum erreichen. Was vielleicht sogar besser war, solange die Notwendigkeit nicht bestand. Wesentlich mehr beunruhigte Marpeaux die Tatsache, dass sie in Wahrheit keine Ahnung hatten, was im Reaktor vor sich ging. Seit einer Stunde waren sie praktisch im Blindflug unterwegs.

Den Haag

Der Hubschrauber hatte sie zu einem Militärflughafen bei Innsbruck gebracht. Von dort flog sie ein kleiner Düsenjet nach Den Haag. Mit an Bord war ein österreichischer Kontaktoffizier der Europol. Er berichtete seinen Kenntnisstand, oder das, was er dafür ausgab, und das war nicht viel. Weiterhin waren mehr als drei Viertel Europas ohne Strom. Kleinere Regionen und einige Städte hatten eine Grundversorgung hergestellt. Manzano versuchte vorsichtig herauszufinden, ob er überhaupt schon von den Codes in den italienischen und schwedischen Zählern wusste. Falls ja, ließ er es nicht durchblicken.

Als sie den Flieger in den Niederlanden verließen, empfingen sie kalter Wind und einzelne Regentropfen. Am Fuß der Flugzeugtreppe erwartete sie ein Mann in einem dunklen Wintermantel. Er hatte kurze, braunrote Haare, die sich zu lichten begannen. Manzano fiel sein aufmerksamer Blick auf. Er stellte sich als François Bollard vor.

»Was ist mit Ihrem Kopf passiert?«

Manzano musste wohl damit rechnen, noch öfter danach gefragt zu werden. Vielleicht sollte er sich eine witzige Antwort zurechtlegen, aber zu Scherzen war er nicht aufgelegt.

»Eine Ampel ist ausgefallen«, erwiderte er.

»Nicht nur eine. Jetzt bringen wir Sie erst einmal in Ihr Hotel, Herr Manzano. Es liegt in Gehweite zu meinem Büro. In zwei Stunden gibt es eine erste Besprechung, an der Sie teilnehmen sollen. Für die Weiterreise von Frau Angström nach Brüssel haben wir einen Wagen organisiert. Er steht bereits vor dem Hotel.«

»Danke. Hoffentlich hat er genug Benzin«, sagte Angström.

»Die Behörden haben ausreichend Treibstoffreserven, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten«, erklärte Bollard.

Manzano spürte leises Bedauern, dass er Angströms Gesellschaft verlieren sollte. Er hatte ihre zupackende und direkte Art schätzen gelernt. Außerdem war sie eine gute Zuhörerin und besaß Humor.

»Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, wollen Sie vermutlich Ihren Computer benutzen«, sagte Bollard. »Außerdem brauchen wir unsere eigenen selbst. Natürlich müssen wir Ihren kurz auf Malware überprüfen. Wäre das in Ordnung?«

Manzano zögerte.

»Wenn ich dabei bin«, stimmte er schließlich zu.

Sie fuhren durch Straßen mit schönen alten Häusern, die einen Eindruck vom einstigen Reichtum der Händlerstadt vermittelten. Manzano war zum ersten Mal in den Niederlanden. Ausgerechnet vor einem gesichtslosen Neubau hielten sie. Über dem Eingang stand »Hotel Gloria«.

»Ich habe eine etwas unverschämte Frage«, begann Angström. »Darf ich noch in dein Zimmer mitkommen, um mich zu duschen? In meiner Wohnung in Brüssel kann ich das ja vermutlich bis auf Weiteres nicht.«

»Selbstverständlich«, antwortete Manzano und freute sich über den hinausgezögerten Abschied.

Bollard drückte Manzano einen kleinen Stadtplan in die Hand und zeigte ihm darauf den Weg zur Europol-Zentrale.

»Melden Sie sich beim Empfang an. Sie werden dann abgeholt.«

Das Hotel Gloria war ein schmuckloser Zweckbau. Die Empfangshalle zierten Kopien moderner Designmöbel. Wie Manzano erfuhr, bot das Hotel keine gewöhnlichen Zimmer, sondern Appartements mit Service. Seines bestand aus einem kleinen Flur mit Kochnische, Toilette, Bad und einem großen Schlafraum mit Sitzecke und Schreibtisch. Praktisch und modern eingerichtet. Manzano fragte sich, was er in der kleinen Küche kochen sollte. Im Moment würde er keine offenen Läden finden, die ihm Lebensmittel verkauften.

»Mahlzeiten bekommen Sie im Hotelrestaurant«, erklärte der Hotelangestellte. »Das Menü ist allerdings reduziert.«

Während Manzano sein spärliches Gepäck verstaute, verschwand Angström im Bad. Er studierte die Hotelunterlagen und hörte das Rauschen der Dusche. Er ließ kurz seine Fantasie spielen, dann probierte er das Telefon aus. Er wählte die Nummer des Feriendorfs in Ischgl. Bei der freundlichen Dame am Empfang hinterließ er die Nachricht für Bondoni und Angströms Freundinnen, dass sie wohlbehalten in Den Haag angekommen waren. Er legte auf, warf sich auf das Sofa und schaltete den Fernseher ein. Auf einigen Kanälen blieb der Bildschirm schwarz oder verschneit. Er fand eine Nachrichtensendung auf Englisch.

Eine Reporterin in flauschigem Mantel stand vor einer großen Halle. Hinter ihr arbeiteten Männer in weißen Overalls.

»… beginnen zu verderben. Mir ist hier draußen kalt, schließlich sind es nur neun Grad. Aber nach über vierundzwanzig Stunden ohne Strom ist es auch in dieser Kühlhalle hinter mir nicht viel kälter.«

Die Kamera schwenkte an ihr vorbei auf ein großes, offenes Schiebetor, durch das man in die Halle sehen konnte. Auf hohen Regalen stapelten sich palettenweise Verpackungskartons.

»Diese Halle gehört einem der größten Lebensmittelkonzerne der Welt. Hier lagern etwa zweitausend Tonnen Lebensmittel im Wert von vielen Millionen Euro. Eine ganze Großstadt könnte davon einen Tag ernährt werden.«

Die Kamera fing eine Szene ein, wie einer der Arbeiter einen Karton aufschnitt und eine kleinere Verpackung herauszog. Manzano konnte nicht genau erkennen, was es war. Der Mann schnitt sie auf, steckte seine Hand hinein und hielt ein Stück Fleisch in die Kamera. Es schillerte grünlich.

»Die Waren in diesem Lager sind nicht mehr zu gebrauchen. Und das ist nur eines von vielen überall in Europa. Vielleicht beklagen sich in den Ländern weiter im Norden und in Mitteleuropa die Menschen jetzt darüber, dass es bei ihnen noch viel kälter ist als hier in Großbritannien. Das Positive daran ist, dass ihre Lebensmittel auch ohne Strom noch gut gekühlt und genießbar bleiben. Mary Jameson, Dover.«

Leider können viele dieser Menschen in den kalten Ländern ihre gut gekühlten, vielleicht sogar tiefgefrorenen und genießbaren Lebensmittel ohne Strom aber nicht auftauen und zubereiten, dachte Manzano.

Angström kam aus dem Bad, in ihren Jeans und einem Wollpullover, rubbelte ihre Haare trocken.

»Ah, war das herrlich! Was gibt es Neues?«

»Nichts, was wir nicht schon wüssten.«

»Ich trockne noch meine Haare, dann bin ich weg.«

Sie verschwand erneut ins Bad. Manzano hörte den Fön und verfolgte abermals die Berichterstattung im Fernsehen. Der Moderator im Studio kündigte einen weiteren Bericht an.

»Nun, ein Beispiel aus Dänemark zeigt, dass die Menschen über die Kälte nicht überall so froh sind, wie Mary das empfiehlt.«

Auf dem Bildschirm erschien eine Straßenszene. Menschen liefen dick vermummt über den Bürgersteig, ihr Atem dampfte in der Kälte.

»Die Temperatur beträgt hier im dänischen Aarhus null Grad. Seit der Strom ausfiel, können die meisten Menschen ihre Wohnung nicht mehr heizen«, erklärte die Stimme eines Sprechers. »In den ersten Stunden behalfen sie sich noch mit warmer Kleidung. Doch letzte Nacht versuchte es ein Mann in diesem Haus« – Foto eines mehrstöckigen Fachwerkhauses – »mit einem anderen Mittel.«

Zwei Hände zündeten ein Streichholz an.

»Er wollte in seiner Wohnung ein Feuer entfachen, um sich zu wärmen.«

Der Fernseher wurde kurz schwarz. Manzano dachte schon, er wäre ausgefallen. Dann blendete ein grelles Licht auf, wechselte in orangefarbenes Flackern. Verwackelte Bilder fingen Flammen ein, die aus zwei Fenstern schlugen. Zoomten zurück, nun erkannte Manzano, dass ein ganzes Haus brannte. Davor blinkten die Blaulichter von Feuerwehrwagen. Feuerwehrmänner mit Löschschläuchen auf Leitern.

»Die Folgen waren verheerend. Das Feuer geriet außer Kontrolle, das dreihundert Jahre alte Haus brannte völlig ab. Nachbarhäuser wurden schwer beschädigt.«

Männer mit einer Trage, auf der etwas Zugedecktes lag. Manzano ahnte, dass es ein menschlicher Körper sein musste.

»Der Mann starb ebenso wie eine Achtzigjährige aus der Wohnung darüber.«

Menschen in Nachthemden, verrußt, hustend, mit tränenverschmierten Gesichtern.

»Zwölf weitere erlitten schwere Verletzungen. Über achtzig Leute mussten evakuiert und in provisorischen Quartieren untergebracht werden.«

Dann kehrte der Moderator im Studio zurück. Manzano bewunderte seine professionell erschütterte Miene.

»Das waren zwei Beispiele, welche Folgen …«

Angström stand mit ihrer Reisetasche in der Tür.

»Ich bin so weit.«

Manzano drehte den Fernseher ab. Er begleitete sie in die Lobby.

Sie sah ihn ernst an. »Viel Glück«, sagte sie, dann umarmte sie ihn.

»Dir auch«, gab er zurück und drückte sie ebenfalls. Vielleicht ein bisschen länger als bei einer Verabschiedung unter Kurzzeitbekannten üblich.

»Wenn das alles vorbei ist, trinken wir ein Gläschen zusammen, ja?«, schlug sie vor, als sie sich schließlich voneinander lösten. Er bemerkte, dass sie sich zu ihrem Lächeln zwingen musste.

Sie reichte ihm eine Visitenkarte. Auf der Rückseite hatte sie ihre Privatadresse und Telefonnummer aufgeschrieben.

»Ruf an, wenn du gut angekommen bist«, bat er.

»Wenn die Telefone noch funktionieren …«

Sie stieg in den Wagen und winkte ihm zum Abschied. Manzano sah dem blonden Schopf hinter der Heckscheibe nach. Bevor das Auto um die Ecke bog, drehte sie sich noch einmal kurz um. Manzano fühlte einen Kloß im Hals. Dann war die Straße leer.

Der Regen wurde stärker.

Paris

»Gut, was haben wir?«

Blanchard wischte sich den Schweiß von der Stirn. In der Rechnerzentrale des CNES hatte er die Softwarespezialisten versammelt. Rund ein Dutzend Männer scharten sich um ihre Laptops, die an einem Schlangennest von Kabeln hingen.

»Wir haben eine dicke Infektion im System«, erklärte Albert Proctet.

»Eine Infektion?«, brüllte Blanchard. »Was heißt: eine Infektion?« Er bemerkte seine Lautstärke und drosselte seine Stimme. »Wir haben eines der besten Sicherheitssysteme in Frankreich. Müssen es haben. Und Sie erklären mir, jemand hat es infiziert?«

Proctet zuckte mit den Schultern. »Anders lassen sich die Abstürze nicht erklären. Wir scannen die Systeme bereits mit Antivirensoftware. Bislang ohne Erfolg. Das wird auch noch eine ganze Weile dauern.«

»Wird es nicht!«, Blanchard wurde wieder laut. »Vor wenigen Stunden habe ich da draußen gestanden und die Zuverlässigkeit der französischen Netze gepriesen! Wir blamieren uns vor der ganzen Welt! Wozu geben wir Abermillionen für diese Systeme aus, wenn dann jeder hereinspazieren und sie abstellen kann? Was ist mit den Back-ups?«

Wie die meisten großen Netzbetreiber hatte auch CNES eine Kopie seiner Zentrale inklusive aller Systeme, die im Notfall einfach die Steuerung übernahm.

»Dasselbe«, erklärte Proctet. »Hier hat jemand ordentlich gearbeitet.«

»Hier hat jemand verdammten Mist gebaut!«, explodierte Blanchard. »Das wird Köpfe kosten, darauf können Sie Gift nehmen.«

»Momentan brauchen wir alle Köpfe«, erinnerte Proctet ihn ungerührt.

Blanchard kochte innerlich über die Frechheit des jungen Mannes. Leider hatte er nur allzu recht.

»Wie sieht der Fahrplan aus?«, fragte Blanchard, jetzt deutlich beherrschter.

»Wir setzen gerade einen Rechner auf Basis der Standard-Installationsroutinen auf«, erklärte Proctet. »Den lassen wir dann erst einmal laufen und testen. Das wird ein paar Stunden dauern. Das Problem ist, dass heutzutage viele Softwarepakete, die wir für unsere Recherchen brauchen werden, nur über das Internet verfügbar sind. Mit dem gibt es auch Schwierigkeiten, er ist völlig überlastet und durch den Stromausfall teilweise außer Gefecht gesetzt.«

Blanchard stöhnte. »Das darf alles nicht wahr sein! Wieso haben wir diese Dinge nicht hier auf DVDs oder Servern?«

Proctet grinste ihn an.

»DVDs haben wir leider nicht, und die Server sind infiziert.«

»Was ist denn das für eine Sicherheitsarchitektur?«, brauste Blanchard erneut auf, riss sich aber sofort wieder zusammen. »Okay. Und dann?«

»Wenn wir so weit sind, überprüfen wir die Systeme. Ein paar Spezialisten haben wir außerdem angefordert. Sie sind unterwegs.«

Düsseldorf

»Eine Zumutung«, schimpfte Siegmund von Balsdorff. »Setzt uns in ein eiskaltes Besprechungszimmer und kanzelt uns ab wie Schuljungen.«

In Wickleys Runde standen neben dem Vorstandsvorsitzenden des größten deutschen Energiekonzerns Führungskräfte aus verschiedenen Branchen und ein bekannter TV-Schauspieler. Die meisten kannte Wickley flüchtig von anderen Gelegenheiten, manche beruflich etwas besser.

»Wirkungsvolle Inszenierung«, bemerkte Medienmanager Kostein und erntete dafür einen befremdeten Blick von Balsdorff. Der Konzern, in dem Kostein tätig war, gehörte zu den bevorzugten Ansprechpartnern Balsdorffs, wenn es um Öffentlichkeitsarbeit ging.

»Aus kommunikationstechnischer Sicht«, fügte Kostein eilig hinzu. »Wenn auch vielleicht etwas überdramatisiert. Zwei Tage lang nur mit Kamin und Waschwasser aus dem Pool ist ja ganz witzig, man fühlt sich ein wenig wie zu Pfadfinderzeiten. Wir haben über dem Feuer sogar schon Würstchen gegrillt«, lachte er. Die anderen fielen ein.

»Das kommt davon, wenn man die Atomkraftwerke abdreht«, erklärte Unternehmensberaterin van Kolck, »ohne sich ausreichend Gedanken über den Umbau der Energiesysteme gemacht zu haben.«

Wie alle anderen namhaften Unternehmensberatungsfirmen hatte auch jene, der van Kolck vorstand, in den vergangenen Jahren eigene Teams auf das Thema Energie angesetzt, Studien erstellt und veröffentlicht, Symposien abgehalten, Unternehmensleiter, Politiker und führende Beamte zu luxuriösen Studienreisen eingeladen, was so dazu gehörte, um Kompetenz in einem Gebiet aufzubauen oder zumindest welche vorzugeben und die notwendigen Kontakte zu vertiefen. Den Beratungsbedarf von Industrie und Behörden bezifferten die Berater mit Milliarden. Und sie setzten alles daran, diese zu verdienen. Längst war es üblich geworden, dass Gesetze zwar von den Abgeordneten des Bundesrats beschlossen, zuvor aber von den Industrievertretern mit den besten Kontakten und bestechendsten Argumenten jeder Art geschrieben wurden, ob es sich um den Finanz-, Medizin- oder eben den Energiebereich handelte.

»Da machen sich die Leute sehr unterschiedliche Gedanken«, sagte Uwe-Hans Debberlein, Gründer von einem der größten deutschen Windkraftwerksproduzenten und -betreiber.

»Selbstverständlich«, erwiderte van Kolck. »Sie sind natürlich für den Ausbau der Windenergie. Macht Sie zu einem reichen Mann.«

»Auch Solarenergie kann man für Deutschland ausgezeichnet nutzen«, wandte Achim Breden, Technikvorstand eines großen Anlagenbauers, ein.

Debberlein lachte.

»Das würde ich auch behaupten, wenn mein Unternehmen Milliarden in Desertec investiert hätte.«

»Großartiges Projekt!«, polterte Noot. Der Schauspieler hatte, obwohl es kaum zwei Uhr war, schon ordentlich dem Glühwein zugesprochen, den ein frierender Kellner auf der Terrasse aus großen Töpfen schöpfte. »Wir machen uns zwar vom Öl unabhängig, aber nicht von den Launen arabischer Diktatoren. Statt mit Öl erpressen sie uns dann mit Sonne. Wirklich, eine fabelhafte Alternative!«

»Die Verhältnisse in diesen Ländern ändern sich«, erinnerte Breden. »Die Demokratiebewegungen …«

Noot schlug sich an die Stirn. »Ah, jetzt verstehe ich, woher diese sogenannten Demokratiebewegungen kommen! Zugegeben, das ist subtiler, als es Bush im Irak gemacht hat.«

»Ich muss das fragen«, mischte sich Jutta Dorein, Direktorin einer Privatklinik, ein. »Herr von Balsdorff, wie kommt es, dass bei Ihnen Licht und Strom funktionieren?«

Von Balsdorff lächelte sie verschwörerisch an, nickte mit dem Kopf. »Kommen Sie mit, dann zeige ich es Ihnen.«

Die Gruppe folgte ihm durch die Eingangshalle, unterwegs schlossen sich noch einige an, die im Vorbeigehen über die Tour informiert worden waren. Schließlich stieg eine Gesellschaft von rund zwanzig Personen in den Keller hinab.

Wickley kannte die Geräte, wenn auch nicht die aus von Balsdorffs Keller.

Der Hausbesitzer erklärte zuerst in kurzen Worten das Brennstoffzellengerät. Lange Jahre war die Technik als zu teuer vernachlässigt worden. Neue Werkstoffe und Techniken hatten sie zunehmend interessant gemacht. Im Unterschied zu Motoren, die Energieträger wie Öl verbrannten, verwandelten Brennstoffzellen die Energie etwa aus Gas oder Wasserstoff auf chemischem Weg zu Strom.

»Hier haben wir schon einen modernen intelligenten Stromzähler«, erläuterte von Balsdorff. »Eigentlich ist er viel mehr als ein Stromzähler, er ist das Energiemanagementsystem des Hauses, macht das Heim zum Smart House.« Er zog sein Mobiltelefon hervor. »Den kann ich sogar mit dem hier steuern.«

»Oh, Sie haben hier Netz?«, fragte eine Frau erfreut.

»Nein. Aber auf kurze Distanz funktioniert das auch über Bluetooth.«

»Worüber?«, hörte Wickley die Dame ihren Nachbarn leise fragen.

Im nächsten Raum präsentierte von Balsdorff eine Mikro-Kraft-Wärme-Kopplungsanlage. »Auch sie produziert zeitweise mehr Strom, als ein Durchschnittshaushalt benötigt, und kann diesen ins Stromnetz einspeisen. Diese Modelle bieten unsere Partner bereits am Markt an.«

Schließlich klatschte von Balsdorff in die Hände, als wollte er eine Schar Gänse durch den Hof treiben. »So, Kinders, jetzt ist aber genug! Wir sind doch nicht zum Arbeiten hier!«

Die Gäste zogen wieder nach oben ab. Aus dem Augenwinkel entdeckte Wickley, wie in der Halle neue Gäste eintrafen. Ein Mann des Personals, der sie empfing, nickte kurz, nachdem sie mit ihm gesprochen hatten, ging zu von Balsdorff, der als Letzter aus dem Keller gekommen war. Er flüsterte dem Hausherrn etwas vertraulich zu, dieser folgte ihm zu den Neuankömmlingen. Dann schickte er den Bediensteten mit einer Handbewegung fort, die besagen sollte, dass er auch die übrigen Gäste wieder ins Wohnzimmer führen sollte. Irgendetwas an den Männern wirkte auf Wickley seltsam. Sie sahen nicht wie Gäste aus. Er hielt sich abseits und beobachtete die Szene von der anderen Seite der Eingangshalle. Die zwei Männer hatten ihre Mäntel nicht ausgezogen. Eindringlich redeten sie auf von Balsdorff ein. Dieser hörte zu, nickte mehrmals. Sie verließen das Haus, um gleich darauf mit zwei schweren Koffern zurückzukehren. Von Balsdorff führte sie zu einer Tür neben der Treppe. Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs konnte Wickley sein Gesicht sehen. Dessen Farbe unterschied sich nicht von den weißen Wänden der Villa. Der vor wenigen Minuten noch gesund gebräunte Vorstand wirkte um zehn Jahre gealtert.

Ein paar Minuten blieb er hinter der Tür, dann trat er allein wieder heraus und kehrte zu seinen Gästen ins Wohnzimmer zurück. Wickley folgte ihm.

»Arbeit auch am Wochenende?«, fragte er scherzhaft.

»Wie? Ach …« Von Balsdorff winkte ab. »Sie wissen ja, wie das ist.«

Von Balsdorff mischte sich unter die Gesellschaft, Wickley sah ihn wieder verbindlich lächeln, interessiert zuhören, scherzen. Nur seine Gesichtsfarbe blieb, als hätte er gerade vom Tod seiner Kinder erfahren.

Den Haag

Mithilfe von Bollards Stadtplan brauchte Manzano tatsächlich nur zehn Minuten zur Europol-Zentrale. Im Hotel hatte man ihm einen Regenschirm geliehen. Auf dem Weg dachte er noch einmal über die seltsame Entwicklung der Dinge nach. Am meisten beschäftigte ihn die Frage, warum Europol ihn geholt hatte. Sein alter Ruf als Hacker schien ihm dafür zu wenig. Von seinen Aktivitäten seit der Verurteilung sollten sie wenig bis nichts wissen. Natürlich mutmaßte Bollard richtig, wenn er annahm, dass Manzano seither nicht untätig gewesen war. Ziemlich erfolgreich sogar. Nur hatte er sich eben vorsichtiger verhalten. Auch die Entdeckung des Codes hielt er für kein ausreichendes Motiv. Seine Überlegungen führten zu keinem Ziel, und seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Sonja Angström. Ob sie gut nach Brüssel gelangen würde?

In dem Gebäudekomplex bemerkte er nichts vom Stromausfall. Aus einigen Fenstern strahlte Licht in den grauen Tag. Geschäftige Menschen liefen über Höfe und durch die Hallen. Manzano meldete sich am Empfang. Bollard holte ihn persönlich ab.

Während sie mit dem Fahrstuhl in den vierten Stock fuhren, fragte Bollard ihn – wie immer auf Englisch: »Haben Sie etwas gegessen?«

»Ja, im Hotel gab es Fisch mit Kartoffeln.«

»Und wie ist das Quartier?«

»Fließend Warmwasser, Heizung, sogar Fernsehen. Ich kann mich nicht beklagen. Nur die Kleiderfrage muss ich noch lösen.«

»Sagen Sie mir Ihre Konfektionsgröße und was Sie ungefähr wollen. Ich kümmere mich darum.«

Manzano war kein Fashion-Addict, doch der Gedanke, dass ein Fremder Kleidung für ihn aussuchte, gefiel ihm nur bedingt. Vielleicht aber nur, weil es ihn an Kindheitstage erinnerte, als seine Mutter das für ihn getan hatte.

Bollard führte ihn in ein nagelneues Büro. Manzano roch noch die Ausdünstung der Kunststoffmöbel. An einem kleinen Besprechungstisch wartete ein weiterer Mann, klein, dick, vor sich einen Laptop. Bollard nannte einen französisch klingenden Namen und erklärte: »Er wird Ihren Rechner scannen.«

Zögerlich übergab ihm Manzano seinen Computer. Während der Mann ihn startete, reichte Bollard Manzano ein Papier.

»Eine Geheimhaltungsverpflichtung.«

Manzano überflog den Text, behielt dabei jedoch ebenfalls den Bildschirm seines Laptops im Auge.

Standardformulierungen, wie er sie auch von vielen seiner privaten Auftraggeber kannte. Er rechnete nicht damit, großartige Geheimnisse zu erfahren oder bewahren zu müssen. Die ganze Sache betraf viel zu viele Organisationen und Menschen, als dass man Wichtiges auf Dauer würde geheim halten können. Irgendwer würde früher oder später etwas an die Öffentlichkeit durchsickern lassen, sei es aus Eitelkeit, politischem Taktieren, Neid oder anderen Gründen. Er kritzelte seinen Namen auf das Formular und gab es Bollard zurück. Dann wandte er sich wieder dem IT-Techniker zu, der aber weder versuchte, seine Daten abzugreifen, noch etwas zu installieren.

»Wollen Sie einen Tee?«, fragte Bollard. »Oder Kaffee?«

»Kaffee, bitte.«

Bollard bestellte über das Telefon zwei Tassen Kaffee. Dann trat er erneut zu Manzano.

»Wir werden gleich unsere erste Lagebesprechung halten. Die anderen Anwesenden sind alle Mitarbeiter von Europol oder Experten, mit denen wir schon lange zusammenarbeiten. Sie werden die Leute mit der Zeit kennenlernen. Nicht alle sind ganz einfach, aber immer ausgezeichnet auf ihrem Gebiet.«

Es klopfte. Eine junge Frau brachte den Kaffee.

»Womit, glauben Sie, haben wir es zu tun?«, fragte Manzano.

»Das werden wir in der Lagebesprechung analysieren.«

Sie tranken ihren Kaffee.

»Sie kommen aus Frankreich, nicht wahr?«, fragte Manzano. »Wie lange sind Sie schon in Den Haag?«

»Seit einem Jahr.«

»Auf dem Weg hierher habe ich gesehen, dass in normalen Haushalten kein Strom fließt. Darf ich fragen, wie das bei Ihnen ist?«

Bollard antwortete offen: »In unserem Haus geht nichts. Ich habe meine Familie vorübergehend in einem Quartier untergebracht, das unabhängig versorgt wird.«

Das Telefon klingelte. Bollard meldete sich. Manzano konnte die Stimme des anderen durch die Leitung hören, verstand aber nicht, was er sagte.

»Aha«, sagte Bollard. Und: »Okay. Verstehe. Nicht gut.«

Er legte auf, ging zu seinem Schreibtisch und sah etwas im Computer nach.

»Nicht gut«, wiederholte er. Mit Schwung hieb er auf eine Taste. Der Drucker neben dem Schreibtisch ratterte los. Bollard zog die Papiere heraus und schwenkte sie durch die Luft.

»Interessante Neuigkeiten.«

Er sah auf die Uhr.

»Mist! Entschuldigen Sie. Eigentlich beginnt unser Termin gleich. Ich muss noch zwei Telefonate führen.«

»Telefonieren können Sie noch?«

»Wir haben hier Notstromanlagen, die auch die Telefonanlagen speisen. Bei Fernverbindungen kommt man gelegentlich noch durch. Lokal so gut wie nicht mehr.«

Bollard wählte, wartete, dann sprach er auf Französisch.

»Hallo, Maman.« Seine Mutter. Manzano hatte in der Schule vier Jahre lang Französisch gelernt und war ganz gut darin gewesen. Die Erinnerung daran und die Verwandtschaft mit seiner Muttersprache ließen ihn Bollards Gespräch im Wesentlichen mitverfolgen.

Bollard warnte seine Mutter.

»Nein, ich kann jetzt nicht mehr sagen. Spätestens morgen oder übermorgen erfahrt ihr sicher mehr. Hör mir jetzt genau zu: Nehmt das alte Radio aus der Garage wieder in Betrieb. Seht zu, dass ihr noch Batterien dafür bekommt, falls ihr keine habt. Schaltet es auf einen Nachrichtenkanal. Geht sorgfältig mit euren Lebensmittelvorräten um. Seht zu, dass der Brunnen intakt bleibt. Ich werde außerdem versuchen, die Doreuils aus Paris zu euch zu schicken. Bitte seid nett zu ihnen. Gib mir Papa.«

Er schwieg, behielt den Hörer am Ohr.

Vor Manzano klappte der kleine Dicke seinen Laptop zu und sagte: »Alles in Ordnung. Danke.«

»Internet funktioniert noch?«, fragte Manzano ihn.

»Für die breite Bevölkerung kaum mehr. Hier haben wir eine direkte Verbindung zum Backbone.« Also zu den richtig dicken Leitungen, deren Schaltstationen mit ausreichend Notstrom versorgt werden konnten. »Das bleibt bislang stabil.«

Er gab dem telefonierenden Bollard ein Daumen-hoch-Zeichen und verließ das Zimmer.

Manzano packte seinen Computer ein, während Bollard sein Gespräch fortsetzte.

»Hallo, Papa. Ich habe Maman schon einiges erklärt. Wahrscheinlich kommen euch die Doreuils besuchen. Was ich dir jetzt sage, behandle bitte sehr vertraulich. Geht morgen früh so bald wie möglich zur Bank und hebt so viel Bargeld ab, wie ihr bekommen könnt. Ich möchte den Teufel nicht an die Wand malen, aber sieh zu, dass du deine Flinten feuerbereit und ausreichend Munition hast.«

Manzano traute seinen Ohren nicht. Bollards Gesprächspartner offensichtlich auch nicht. Der Franzose hielt inne, als sein Vater am anderen Ende der Leitung etwas sagte.

»Ich sage nur, dass du vorbereitet sein sollst. Aber erzähl Maman und den Doreuils nichts davon. Hoffen wir, dass meine Sorgen unberechtigt sind. Ich liebe euch, salut.«

Manzano betrachtete Bollard voller Sorge. Für ihn sah der Mann nicht wie jemand aus, der zu seinen Eltern ohne Weiteres »Ich liebe euch« sagte. Er fragte sich, was für Nachrichten Bollard erhalten haben mochte. Dieser wählte inzwischen eine neue Nummer. Wieder redete er auf Französisch. Nach ein paar Sätzen begriff Manzano, dass er mit seinem Schwiegervater sprach. Die Unterhaltung verlief nicht ganz so flüssig. Manzano reimte sich aus Bollards Bemerkungen seinen Teil zusammen.

»Fahrt zu meinen Eltern nach Nanteuil. Sie erwarten euch.«

- - -

»Stellt jetzt keine Fragen, bitte. Tut es einfach. Sobald wie möglich.«

- - -

»Diesmal kommt auch bei euch der Strom nicht so schnell wieder.«

- - -

»Packt genug warme Kleidung ein. Es könnte ein paar Tage dauern. Vielleicht länger.«

- - -

Ungeduldig: »Ja! Vielleicht sogar eine Woche oder mehr.«

- - -

»Meine Eltern können mit Holz heizen, haben einen eigenen Brunnen und ein paar Hühner.«

- - -

»Seht zu, dass ihr bei einem Bankautomaten noch möglichst viel Bargeld bekommt, falls ihr einen findet, der funktioniert.«

- - -

»Ja! Und wenn ihr keinen findet, geht sofort morgen früh zur nächsten Bank bei meinen Eltern und hebt dort ab, was ihr kriegt.«

- - -

»Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Vertrau mir. Aber sag es nicht weiter. Und seht zu, dass ihr aus Paris wegkommt, bevor andere das auch wollen.«

- - -

»Ihr und den Kindern geht es gut, keine Sorge. Ich umarme euch.«

Er legte auf. Sein Gesicht wirkte bleicher und zerfurchter als zuvor. Mit verlegener Miene sah er Manzano an.

»Zeit für unseren Termin. Gehen wir.«

Den Besprechungsraum beherrschte ein langer ovaler Tisch. An einer Wand hingen sechs Großbildschirme. Die meisten Anwesenden waren Männer, Manzano entdeckte nur drei Frauen. Bollard zeigte ihm seinen Platz und ging weiter an einen anderen, direkt unter den Monitoren.

Manzanos linker Nachbar war ein untersetzter Mann Anfang fünfzig. Auf seiner runden Nase trug er eine große Brille mit Goldrand, darunter einen buschigen Schnurrbart. Auf Englisch stellte er sich als Jan Lenneding vor, tätig bei Europol.

Zu seiner Rechten saß ein etwas Jüngerer mit scharfen Gesichtszügen. Triathlon, dachte Manzano, oder Ironman. Er arbeitete ebenfalls für die Behörde.

Manzano erklärte, er sei als Berater engagiert, wofür er überraschte Blicke erntete.

»Guten Tag, meine Damen und Herren.«

Bollard war aufgestanden, sprach Englisch.

»Wenn man einen solchen Tag gut nennen kann.«

Er hielt eine kleine Fernsteuerung in der Hand. Auf dem Großbildschirm über ihm erschien eine Europakarte. Der Großteil des Kontinents war rot eingefärbt. Norwegen, Frankreich, Italien, Ungarn, Rumänien, Slowenien, Griechenland und zahlreiche kleine Regionen in anderen Ländern trugen eine rot-grüne Schraffur.

»Dieser Raum ist bis auf Weiteres unsere Einsatzzentrale. Wofür, das werde ich Ihnen gleich erklären: Seit bald achtundvierzig Stunden sind weite Teile Europas ohne Strom, wenn auch manche Gebiete eine zeitweise Grundversorgung zurückerlangten. Sie sind auf der Karte schraffiert eingezeichnet. Spätestens seit heute Vormittag wissen wir, dass es sich dabei nicht um einen Zufall handelt. In der Nacht bereits erhärtete sich der Verdacht, dass in Italien und Schweden ein Code in die Smart Meter der Privathaushalte eingeschleust wurde.«

Manzanos schnurrbärtiger Nachbar beugte sich zu ihm und flüsterte: »Sind wohl doch nicht so intelligent, diese smarten Stromzähler.«

»Nun erklären Manipulationen in den Netzen zweier Länder noch nicht den Zusammenbruch auf weiten Teilen des Kontinents. Bei früheren Krisen wurden instabile Systeme abgetrennt, und der Rest konnte innerhalb weniger Stunden stabilisiert werden. Das ist diesmal nicht gelungen, was Anlass zur Besorgnis gibt.«

Auf der Leinwand hinter ihm erschienen Kreis- und Balkengrafiken in verschiedenen Farben.

»In Übungsszenarien für großflächige Stromausfälle wird angenommen, dass es in einigen Kraftwerken durch die Frequenzschwankungen zu Schäden kommen kann. Die Schätzungen reichen von zehn bis dreißig Prozent.«

In den Grafiken im Hintergrund änderten sich die Größe verschiedener Tortenspalten und Balken.

»In den meisten europäischen Ländern scheint die Rate aktuell deutlich höher zu liegen. Aus manchen heißt es, bis zu achtzig Prozent könnten betroffen sein.«

Ein Raunen ging durch den Raum.

»Deutlich mehr Kraftwerke als vermutet haben Schwierigkeiten, den Betrieb wieder aufzunehmen.«

Eine Männerstimme rief dazwischen: »Schäden durch Frequenzspannungen müssten durch die automatischen Notabschaltungen nahezu ausgeschlossen sein. Sind denn die Generatoren zerstört worden oder Trafos?«

»Das wäre eine Katastrophe«, bemerkte ein anderer.

»Dazu haben wir noch zu wenige verlässliche Daten. Erste Meldungen berichten eher von undefinierten Problemen beim Versuch des Hochfahrens.«

»Stuxnet?«, fragte ein anderer. »Oder was Ähnliches?«

»Wird bereits geprüft. Kann natürlich dauern, bis man etwas findet.«

»Undefinierte Probleme«, meinte einer. »Das klingt nicht unbedingt nach Generatorschäden.«

»Nein«, bestätigte Bollard. »Die Betreiber suchen noch nach Ursachen. Der dritte Puzzlestein«, fuhr er fort, »tauchte heute Morgen auf.«

Wieder erschien hinter ihm die Landkarte des unterschiedlich gefärbten und gestreiften Europas.

»Seit zehn Uhr setzten Computerabstürze die Zentralen zahlreicher Netzbetreiber außer Gefecht. Betroffen waren Norwegen, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Polen, Rumänien, Italien, Spanien, Serbien, Ungarn, Slowenien und Griechenland.«

Noch schraffierte Länder auf der Karte färbten sich rot. Von den Zuhörern kamen Rufe des Erschreckens und Begreifens.

»In der Folge brachen viele der notdürftig wieder errichteten Netze erneut zusammen. Was in jeder der einzelnen Zentralen ursprünglich noch wie ein unglücklicher Zufall aussah, offenbarte sich natürlich bald in diesem Gesamtbild. Meine Damen und Herren, jemand greift Europa an.«

Schweigen breitete sich im Raum aus.

»Wissen wir, wer?«, fragte schließlich ein Mann am anderen Ende des Tisches.

»Nein«, antwortete Bollard. »Die Betreiber konnten die Zähler, über die die Schadcodes eingespeist wurden, ausforschen. Insgesamt waren es in jedem Land drei. Vier der dazugehörigen Häuser und Appartements sind bewohnt.«

Bollard zeigte Bilder, die wahrscheinlich von den Behörden in Italien und Schweden stammten. Manzano erkannte typische Details italienischer Einrichtungen auf einigen Fotos.

»Die Bewohner gaben unisono an, vor dem Ausfall von Servicemitarbeitern der jeweiligen Elektrizitätsgesellschaft besucht worden zu sein. Nach anfänglichen Zweifeln wirkten sie jedoch glaubwürdig. Mit ihrer Hilfe werden zurzeit Phantombilder dieser angeblichen Servicearbeiter angefertigt. Die nationalen Behörden hatten zunächst Schwierigkeiten, die Daten der Mieter aus den leeren Wohnungen zu erheben, weil die Stromversorgung der notwendigen Datenbanken teilweise ausgefallen war und erst Notstromgeneratoren besorgt werden mussten. Die ersten Überprüfungen ergaben keinerlei kriminelle oder sonst wie auffällige Vergangenheit der Betroffenen. Auf jeden Fall werden die Ermittlungen mit jedem Tag, den der Strom ausbleibt, schwieriger.«

»Wird nach diesen Erkenntnissen der Verteidigungsfall ausgerufen werden?«

»Diese Entscheidung obliegt den einzelnen Staaten beziehungsweise der NATO. Das Problem ist, dass wir die Angreifer nicht kennen. Ist es eine außereuropäische Macht? Sind es Terroristen? Oder simple Kriminelle? Im ersten Fall liegt der Verteidigungsfall nahe. Die Bekämpfung von Terroranschlägen und organisierter Kriminalität dagegen ist Polizeiaufgabe. Damit kommt unserer Behörde eine eminent wichtige Aufgabe zu. Vor allem die Verbindungsbeamten in den einzelnen Staaten bitte ich um enge Kooperation. Nationale Alleingänge sind bei dieser gesamteuropäischen Bedrohung sinnlos. Dossiers über die italienischen und schwedischen Erkenntnisse finden Sie bereits in Ihren E-Mails und auf dem Server mit dem Namen ›Blackout‹. Sie sollten schnellstmöglich an alle nationalen Behörden weitergegeben werden. Auf der anderen Seite brauchen wir alle Erkenntnisse über mögliche Manipulationen aus den einzelnen Staaten. Seien es die Probleme mit den Kraftwerken oder der Ausfall der Leitstellen in Frankreich und den anderen Ländern.«

Bollard blickte noch einmal in die Runde: »Sorgen Sie bitte dafür, dass wir alle neuen Informationen zeitnah erhalten. Wir bündeln sie dann in unserem Analyseteam und verteilen sie wieder an die anderen nationalen Behörden.«

»Wenn das die Öffentlichkeit erfährt«, stöhnte ein Mann links von Manzano.

»Das wird sie vorläufig nicht«, sagte Bollard mit Bestimmtheit.

Vor dem Besprechungsraum wartete Manzano auf Bollard.

»Meinen Sie das ernst?«, fragte er ihn.

»Was?«

»Dass die Menschen nicht darüber aufgeklärt werden, worauf sie sich einstellen müssen.«

»Die Bevölkerung wird erfahren, dass der Ausfall noch ein paar Stunden oder in einigen Gebieten wenige Tage anhalten kann. Informationen über einen Angriff könnten eine Panik auslösen.«

»Aber es werden nicht wenige Tage in ein paar Gebieten sein!«

»Die Behörden in ganz Europa sind bereits dabei, Vorkehrungen zu treffen. Solche Situationen wurden trainiert. Denken Sie daran, dass alles, was wir hier besprechen, absoluter Geheimhaltung unterliegt.«

»Natürlich«, antwortete Manzano, ohne seine Missbilligung zu verbergen.

Bollard musterte ihn eindringlich, dann schlug er die Richtung zu seinem Büro ein.

Manzano folgte ihm. Er musste einen Gedanken noch loswerden.

»Die Software für Betrieb und Steuerung von Stromnetzen und Kraftwerken ist erstens sehr komplex und zweitens ausgesprochen spezialisiert. Weltweit gibt es nur wenige Unternehmen, die solche Systeme überhaupt liefern können. Stuxnet wurde bereits angesprochen. Wäre es ein Problem, eine Liste aller Kraftwerke, Netzbetreiber und anderer Energieunternehmen mit Problemen und deren jeweiligen Softwarelieferanten aufzustellen?«

Unaufgefordert folgte er Bollard in dessen Büro.

»Einfach wird es sicher nicht. Und vermutlich auch nicht so übersichtlich, wie Sie sich das erhoffen. Worauf wollen Sie hinaus?«

»Das weiß ich noch nicht.«

Bollard betrachtete ihn mit einem skeptischen Blick.

»Mein Verdacht ist sehr vage«, erklärte Manzano. »Wenn ich wenigstens aus ein paar Ländern einige Daten bekommen könnte, wäre mir schon sehr geholfen.«

Bollard nickte. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

Paris

Natürlich funktionierte der Fahrstuhl in Shannons Haus ebenso wenig wie die öffentlichen Verkehrsmittel. Erschöpft stieg sie die Treppen zu ihrer Wohnung hoch. Wenigstens wurde ihr dabei wieder warm.

Zwei Stunden war sie zu Fuß von der Redaktion bis hierher unterwegs gewesen. Ein paar Aufnahmen mit der kleinen Handycam hatte sie gemacht, bis der Akku fast leer war.

Oben angekommen sah sie Koffer und Taschen vor der Tür ihrer Nachbarn. Bertrand Doreuil stellte gerade noch ein Gepäckstück dazu. Vor seiner Rente war der große, magere Mann mit dem schütteren grauen Haar führender Beamter in einem Ministerium gewesen, das wusste Shannon. Sie kannte ihn als amüsanten Gesprächspartner und hilfsbereiten Nachbarn.

»Guten Abend, Monsieur Doreuil. Flüchten Sie?«, fragte sie lachend. »Kann ich verstehen.«

Doreuil sah sie irritiert an.

»Äh, nein. Wir besuchen für ein paar Tage die Schwiegereltern meiner Tochter.«

»Ihre Frau hat nichts davon erzählt.«

»Äh, sie haben uns spontan eingeladen.«

Shannon beäugte das Gepäck. Für sie sah das nicht nach ein paar Tagen, sondern mindestens nach einer Weltreise aus.

»Da haben Sie aber eine Menge Gastgeschenke mit«, meinte sie. »Hoffentlich gibt es an Ihrem Ziel Strom.«

Hinter ihm erschien seine Frau.

»Hach, die Bollards heizen mit Holz, wenn es sein muss. Und wenn wir was essen wollen, schlachten sie einfach ein Huhn aus dem Stall«, scherzte sie.

Ihr Mann lächelte säuerlich.

»Ich komme gerade von einer Pressekonferenz, in der ein Verantwortlicher erklärte, dass bald alles wieder läuft.«

»Wird es sicher auch«, flötete Madame Doreuil.

»Das behauptete der Mann allerdings vor dem neuerlichen Ausfall. Wollte nicht Ihre Tochter mit ihrer Familie zu Besuch kommen?«

»Ach ja, sie mussten die Reise wegen der Stromausfälle verschieben. Und mein Schwiegersohn kann Den Haag zurzeit nicht verlassen.«

Ihr Mann warf ihr einen strengen Blick zu. Annette Doreuil lächelte ihn unsicher an und wandte sich dann wieder an Shannon: »Ah, könnten Sie so lieb sein und nach unserer Post sehen?«

Langsam waren das zu viele Ähs und Ahs. Das Getue passte nicht zu den sonst so souveränen Doreuils.

»Aber selbstverständlich«, erwiderte Shannon so unbefangen wie möglich, während in ihrem Kopf die Gedanken heißliefen. Sie hatte Doreuils Schwiegersohn einige Male getroffen. Er besetzte eine führende Position bei Europol, wenn sie sich recht erinnerte, war er für Terrorbekämpfung zuständig. Warum konnte dieser Mann wegen eines Stromausfalls seinen Arbeitsplatz nicht verlassen? Und weshalb hatte Doreuil seine Frau so mahnend angesehen, als sie ihr davon erzählte. Shannons Journalisteninstinkt war geweckt.

»Geht es Ihrer Tochter gut?«, fragte sie.

»Bei ihnen gibt es zwar auch keine Elektrizität, aber es geht ihr gut. Wir haben heute erst mit unserem Schwiegersohn telefoniert …«, antwortete Madame Doreuil.

»Schatz«, unterbrach sie ihr Mann, »ich glaube, wir haben dann alles. Wir sollten los, damit wir nicht zu spät ankommen. Du weißt, die Bollards gehen zeitig schlafen.«

»Soll ich Ihnen beim Tragen helfen?«, fragte Shannon. »Sie haben ja jede Menge Zeug, und der Fahrstuhl geht nicht.«

»Das wäre …«, setzte Madame Doreuil an.

»… nicht notwendig«, führte ihr Mann den Satz zu Ende. »Aber danke für das Angebot.«

Shannon schickte ein stilles Dankgebet gen Himmel dafür, dass weder ihre Vermieterin noch ihre Mitbewohner je in ein Luxustelefon investiert hatten. Mit dem altmodischen Festnetzgerät erreichte sie nach ein paar Versuchen die Redaktion. Dort hatten sie nach den Erfahrungen der letzten Tage ein altes Telefon aus einem Archiv ausgegraben und einen Anschluss damit ausgestattet.

»Da steckt was dahinter«, versicherte sie Laplante eindringlich. Turner war nicht erreichbar. »Informier die Korrespondentin in Brüssel.«

»Die erreiche ich nicht.«

»Dann fahre ich selbst nach Den Haag. Mit dem Auto bin ich in fünf Stunden dort.«

»Ich dachte, du hast keinen Wagen.«

»Das ist das Problem dabei. Ich dachte, vielleicht könntest du mir …«

»Und wie komme ich dann nach Hause und ins Büro? Wenn die Öffentlichen nicht fahren?«

»Der Sender könnte mir einen Leihwagen …«

»Für so eine vage Idee? Sicher nicht.«

»Eric, da ist was im Busch. Ein leitender Terrorismusbekämpfer bei Europol darf Den Haag in dieser Situation nicht für ein paar Tage Urlaub zu seiner Familie verlassen. Warum wohl?«

»Allgemeine Bereitschaft?«

»Komm mir nicht so! Ihr seid also nicht daran interessiert?«

»Ich kann ja weiterhin versuchen, unsere Korrespondenten für die Beneluxländer zu erreichen.«

»Bis dahin ist das keine Story mehr.«

Sie legte auf. Sie startete ihren Laptop und rief über das alte Telefonmodem in ihrem Computer das Internet auf.

Einige Webseiten erreichte sie nicht. Andere langsam und mit Unterbrechungen. Immerhin. In internationalen Verzeichnissen suchte sie nach Kontaktdaten für Europol und François Bollard in Den Haag. Die europäische Polizeibehörde fand sie. Dagegen tauchte Bollards private Telefonnummer nirgends auf. Aber sie stieß auf eine Adresse.

Und wie kam sie nach Den Haag? Die Bahn würde ohne Strom nicht mehr fahren. Vielleicht existierte eine Buslinie. Die Suchmaschine spuckte ein paar Ergebnisse aus. Tatsächlich fuhr normalerweise ein Übernachtbus. Am Morgen wäre sie dort. Shannon sah auf die Uhr. Der Bus startete in fünf Stunden. Wenn er fuhr. Sie überprüfte die Bargeldbestände in ihrem Portemonnaie. Siebzig Euro. Das würde nicht genügen. Sie durchwühlte alle Taschen, Hosen, Schubladen in ihrem Zimmer. Schließlich hatte sie hundertvierzig Euro zusammen. Immer noch zu wenig.

Sie lief auf die Straße hinunter zur nächsten Filiale ihrer Bank. Im Radio hatten sie gesagt, dass viele Bankautomaten weiterhin funktionierten und auch die Banken morgen öffnen würden. Sie schob ihre Karte in den dafür vorgesehenen Schlitz neben der Tür. Die öffnete sich tatsächlich und gewährte ihr Zutritt zum Vorraum mit dem Geldautomaten. Dessen Display zeigten dieselben Angaben wie immer.

Shannon prüfte ihren Kontostand.

2 167,- Euro.

Die mageren Ersparnisse jahrelanger Kameraschlepperei.

Shannon hob eintausendfünfhundert ab.

Sie stopfte das Geld in eine Hosentasche und eilte zurück in die Wohnung.

Sie packte einen Seesack voll warmer Kleidung. Dazu ihre beiden Digitalkameras, alle Batterien und Akkus, die sie finden konnte, schließlich noch ihren Laptop. Zu Fuß wäre sie mindestens eineinhalb Stunden bis zur Busstation unterwegs. Sie rief die Nummer eines Taxiservice an und landete in der Warteschleife. Nach zehn Minuten legte sie auf. Vielleicht konnte sie auf der Straße eines herbeiwinken. Sie zog ihre Daunenjacke und dicke Stiefel an, schulterte den Seesack, sah sich noch einmal um und verließ die Wohnung. Im Treppenhaus war es stockfinster.

Den Haag

Den Kopf voller Gedanken hastete Manzano durch den Regen in sein Hotelzimmer zurück. Er überlegte, ob er Sonja Angström anrufen sollte. Ihre Nummer im MIC hatte sie ihm gegeben. Er wählte sie. Nach einigen Freizeichen meldete sich eine fremde Stimme. Er fragte nach Angström.

»Die ist im Urlaub«, lautete die Antwort. Manzano fühlte sich nicht bemüßigt, die Person am anderen Ende aufzuklären, dass Angström demnächst an ihrem Arbeitsplatz auftauchen würde. Er legte auf. Sie wird wohl noch in ihrer Wohnung sein, dachte er, Kleidung wechseln, nach dem Rechten sehen. Auch diese Nummer hatte sie ihm gegeben. Er wählte sie, doch die Leitung blieb tot.

Manzano warf sich auf das Bett und loggte sich in das Europol-Netz ein. Der kleine Dicke hatte ein Network Access Control eingerichtet. Sobald sich Manzano in das Netzwerk der Behörde einklinken wollte, würde der Laptop zuerst mit einem Quarantänenetz verbunden und dort geprüft. Bei dieser Gelegenheit konnte Europol auch alle Aktivitäten Manzanos auf dem Gerät nachvollziehen. Sobald er als »sauber« galt, wurde er zum eigentlichen Netz zugelassen. Selbstverständlich musste jemand wie Europol derartige Sicherheitsmaßnahmen einsetzen. Erst recht, wenn sie Behördenfremde wie ihn zuzogen.

Bollard hatte ihm empfohlen, sich erst einmal über ein paar Grundlagen zu informieren. Ein Ordner fasste für alle Beteiligten wichtige Informationen zusammen. Den klickte Manzano an.

»Und was treibt er?«

Bollard hatte nur kurz geklopft und war in das Hotelzimmer getreten, ohne die Aufforderung zum Eintreten abzuwarten. Der Raum unterschied sich von den anderen Unterkünften durch Stapel von elektronischem Equipment, die sich auf und neben dem Schreibtisch türmten. Drei kleine Bildschirme zeigten schwarz-weiße Ansichten eines anderen Hotelzimmers. Auf dem mittleren erkannte Bollard Manzano, der auf seinem Bett saß, den Laptop im Schoß. Er schien konzentriert zu lesen. Nur gelegentlich tippte ein Finger kurz auf die Tastatur.

Es hatte ihn nicht viel Überzeugungskraft gekostet, die niederländischen Behörden zur Beschattung und Abhörung Manzanos zu bewegen. Während der Italiener sich noch im Flugzeug hierher befunden hatte, hatten sie sein Zimmer mit Kameras und Mikrofonen präpariert. In einem Hotelzimmer zwei Stockwerke über Manzanos überwachten rund um die Uhr Beamte den Mann. Wenn er das Hotel verließ, waren zwei Teams an ihm dran. Bollard glaubte zwar nicht, dass sie mit Manzano einen der Täter mitten unter sich hatten. Aber er wollte kein Risiko eingehen.

»Nicht viel«, antwortete Manzanos Beschatter, ein mürrischer Mittdreißiger in Jeansjacke. »Hat dreimal telefoniert.«

»Welche Nummern?«

»Einmal das MIC in Brüssel. Hat nach Angström gefragt. Dann Angströms private Nummer. Hat sie aber weder da noch dort erreicht. Die dritte Nummer war in Österreich. Das Feriendorf bei Ischgl. Hat eine Nachricht und seine Telefonnummer für einen gewissen Bondoni hinterlassen, gefragt, wie es ihm und den Frauen geht, und gesagt, dass er wieder anruft. Seitdem sitzt er auf dem Bett und liest in seinem Computer.«

»Hat er nur gelesen?«

»Soweit ich das verfolgen konnte, ja.«

»Okay, dann bin ich wieder weg. Sie informieren mich, wenn er etwas Auffälliges unternimmt.«

Bollard überlegte kurz, ob er nach Hause fahren sollte. Dusche hatte er im Büro, zum Schlafen brauchte er kein geheiztes Haus, von dort aus war er schnell an seinem Arbeitsplatz und verbrauchte weniger Benzin. Aber er wollte Marie und die Kinder an ihrem ersten Abend in dem fremden Quartier nicht allein lassen.

Auf den Straßen waren mehr Autos als gewöhnlich unterwegs. Noch hatten die Leute genug Treibstoff in den Tanks. In den kommenden Tagen wird sich das ändern, dachte Bollard. Seine eigene Tankanzeige stand etwa auf halber Höhe. Nach den Ereignissen der vergangenen Stunden hatte die Zentrale allen unverzichtbaren Mitarbeitern in Aussicht gestellt, Zugang zu den Treibstoffnotreserven zu erhalten, die für Hilfsdienste und Behörden vorgesehen waren.

Vor dem Gutshof parkte ein Dutzend Wagen. Bollard stellte seinen dazu, klingelte und wurde von einer blonden Frau in kariertem Hemd eingelassen, die sich als die Hausherrin Maren Haarleven vorstellte.

»Kommen Sie herein«, forderte sie ihn auf. »Ihre Familie sitzt gerade beim Abendessen.«

Bollard folgte ihr in eine geräumige Stube mit ein paar großen Tischen, die alle besetzt waren. Er erkannte ein paar Gesichter. Nachdem er den Platz für seine Familie gesichert hatte, hatte er die Adresse an einige Kollegen weitergegeben.

Die Kinder begrüßten ihn mit aufgeregtem Geplapper über den Bauernhof und seine Tiere. Während des Essens sprachen sie nicht über den Stromausfall. Erst als die Kinder schliefen, fragte Marie ihn leise: »Sagst du mir, was los ist?«

»Ihr werdet ein paar Tage hierbleiben müssen. Den Kindern scheint es ja zu gefallen.«

»In den Nachrichten brachten sie, dass der Strom daheim wieder weg ist.«

Mit daheim meinte sie Frankreich, begriff Bollard. Er nickte.

»Ich habe mit meinen Eltern telefoniert. Und mit deinen.«

»Wie geht es ihnen?«

»Gut«, log er. »Ich habe deine Eltern gebeten, meine zu besuchen.«

Sie runzelte ihre Stirn. »Weshalb?«

»Falls der Ausfall länger andauert.«

»Warum sollte er das?«

»Man weiß ja nie.«

»Und warum zu deinen Eltern? Weil die Landschaft so nett ist? Um die Loire-Schlösser wieder einmal zu besichtigen?«

»Weil sie einen eigenen Brunnen besitzen, einen mit Holz beheizbaren Kamin und einige Hühner.«

Die kommerzielle Landwirtschaft hatten die Bollards vor Jahrzehnten zugunsten eines Bed-and-Breakfasts aufgegeben, die Felder verpachtet. Die Grundstückspreise waren seit damals so exorbitant gestiegen, dass ein paar kleine Verkäufe seine Eltern zu noch wohlhabenderen Leuten gemacht hatten. Nur für den Eigenbedarf hielten sie noch ein paar Hühner, Schweine und Kühe.

Seine Frau musterte ihn besorgt, drang aber nicht weiter in ihn. Sie wusste, dass er ihr nicht immer alles über seinen Beruf erzählen konnte.

»Na ja«, bemerkte sie mit einem Schulterzucken. »Hoffentlich vertragen sie sich.«

Berlin

Im Bundeskanzleramt war Michelsen bislang nur zu öffentlichen Anlässen gewesen. Und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie zu einem wie diesem nie hingehen wollen. Sie war nicht allein. In ihrer Gesellschaft fanden sich Mitarbeiter aus allen Bereichen des Krisenstabs. Binnen weniger Stunden hatten sie unter Hochdruck eine Präsentation erarbeitet. Wenn man das eine Präsentation nennen konnte. Michelsen erinnerte das Szenario an die Höllenbilder von Hieronymus Bosch. Seit der Nachricht vom Vormittag waren sie in ein neues Stadium getreten. Überall herrschte höchste Nervosität. Nachdem sie am Eingang von Sicherheitsleuten kontrolliert worden war, brachte sie ein junger Mann mit den anderen in einen großen Konferenzraum im zweiten Stock. Zwei weitere Männer halfen ihr dabei, dort ihre Laptops anzuschließen. Niemand sprach viel. Alle beschränkten sich auf den Austausch der notwendigsten Informationen. Der Schock saß zu tief. Rationales, professionelles Handeln oder wenigstens das Vorgeben desselben schien die einzige Strategie, der eigenen Gefühle Herr zu werden. Michelsen selbst wunderte sich über ihre Ruhe. Sie wusste aber auch, dass diese nur ein vorübergehender Zustand war. Irgendwann würde alles hervorbrechen. Hoffentlich nicht zum falschen Zeitpunkt.

Schweigend warteten sie auf ihr Publikum. Michelsen fiel auf, dass alle vermieden, die anderen anzusehen. Niemand wollte die Angst in seinen Augen preisgeben. An einer Wand des Raumes hingen zehn Bildschirme in zwei Reihen übereinander. Auf einigen waren Gesichter älterer Männer zu sehen. Manche waren schon gestern Nachmittag bei dem Treffen der Energiebosse mit dem Bundeskanzler dabei gewesen, Michelsen erkannte Heffgen und von Balsdorff. Sie nestelten an ihren Jacketts oder richteten noch Unterlagen neben dem Computer, vor dessen Kamera sie offensichtlich saßen. Die Minuten verrannen. Der Berliner Himmel war so finster wie ihre Gedanken. Sie dachte daran, wie privilegiert sie war, noch immer in geheizten Räumen sitzen zu dürfen. Laute Schritte rissen sie aus ihren Gedanken.

Der Bundeskanzler trat als Erster ein. Bestimmt, flott, ernst. Er schüttelte allen die Hände. Er war ein schlanker Mann mit der leichten Beugung des Rückens von groß gewachsenen Menschen, die sich kleiner machen wollen. Seine scharfen Gesichtszüge erinnerten Michelsen und viele andere Deutsche an jenes Regierungsoberhaupt, das im kollektiven Gedächtnis des Landes noch immer als das eindrucksvollste und erfolgreichste galt, Konrad Adenauer. Eine Ähnlichkeit, die sicher zu seinem Wahlerfolg beigetragen hatte. Allerdings war er dreißig Jahre jünger, als der Alte bei seiner Wahl gewesen war, und stammte aus dem anderen politischen Lager. Die Folgen der Wirtschaftskrise hatten soziale Ideen wieder gesellschaftsfähig gemacht. Umso kurioser, dass ausgerechnet ein Quereinsteiger aus der Wirtschaft die Sympathien der sozialdemokratischen Funktionäre und der Wählerschaft gefunden hatte. Michelsen hatte ihn nicht gewählt. Sie hielt ihn für einen gesinnungslosen Opportunisten. Aber wenn sie es sich recht überlegte, dachte sie das von den meisten Politikern in führenden Positionen. Vielleicht lag das auch nur daran, dass sie in einer Zeit aufgewachsen war, als es in der Politik noch um Ideen zu gehen schien. Immerhin musste man ihm anrechnen, dass er das Land bislang besser durch die wirtschaftliche Krise steuerte als die meisten seiner westlichen Kollegen. Auch jetzt verbreitete er eine Stimmung von Entschlossenheit und Tatkraft. Ihm folgten das gesamte Kabinett und alle Regierungschefs der Länder bis auf den von Schleswig-Holstein, der aus Gesundheitsgründen seine Stellvertreterin gesandt hatte. Das Händeschütteln dauerte einige Minuten, dann nahmen alle Platz.

»Ich danke den Anwesenden für ihr Kommen und begrüße auch die Damen und Herren, die per Satellit zugeschaltet sind«, eröffnete der Bundeskanzler seine Ansprache.

Von jedem der zehn Bildschirme an der gegenüberliegenden Wand blickte jetzt dasselbe Gesicht.

»Die Entwicklung der letzten Stunden geben diesem Termin eine ganz andere Bedeutung als bei seiner Einberufung gestern. Die heutigen Erkenntnisse aus Italien und Schweden sowie die jüngsten Vorkommnisse in Frankreich und anderen Ländern lassen die gegenwärtige Situation kaum mehr auf eine Verkettung unglücklicher Umstände zurückführen. Die europäischen Sicherheitsbehörden gehen inzwischen von einem breit angelegten Angriff auf die europäischen Energiesysteme aus. Um uns allen ein Bild zu vermitteln, was das für Deutschland bedeutet, habe ich die Ministerien um ein Lagebild gebeten sowie ein Szenario dessen, was uns erwartet.« Er machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Wasser.

Michelsen erwartete einen Appell oder dramatischen Aufruf zur Aufmerksamkeit. Stattdessen sagte er nur in ihre Richtung: »Bitte, meine Damen und Herren.«

Michelsen fing den unauffälligen Blickwechsel zwischen dem Innenminister und dem Staatssekretär Rhess auf, den der Minister mit einem Nicken ergänzte.

Rhess erhob sich und begann: »Seit bald achtundvierzig Stunden sind weite Teile Deutschlands ohne Strom. Sie alle kennen natürlich den Bericht Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und lang andauernden Ausfalls der Stromversorgung –, den der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung im Frühjahr 2011 präsentierte.«

Hatte sicher kaum einer gelesen, dachte Michelsen.

»Hier ein erster Eindruck, welche Konsequenzen die Ereignisse für die Bevölkerung haben.«

Sie hatten einige der TV-Berichte aus den letzten Tagen zusammenschneiden lassen. Auf einem großen Bildschirm an der Breitseite des Raums erschienen Fotos eines menschenleeren, dunklen Supermarkts.

»Beginnen wir mit der Nahrungsmittelversorgung. Der überwiegende Teil Deutschlands bezieht seine Lebensmittel heutzutage aus Super- und Großmärkten. Diese Quelle ist vorerst weitestgehend versiegt. Kollegin Michelsen, stellvertretende Leiterin der Abteilung Bevölkerungsschutz und Katastrophenmanagement im Innenministerium, erklärt kurz, warum.«

Michelsen erhob sich und übernahm. Sie rief Bilder von Häfen auf. Zwischen einem Containermeer hievten gigantische Kräne die großen Metallboxen von Schiffen auf. Aufnahmen von Güterzügen folgten, Kamerafahrten durch lange, hohe Reihen in Lager- und Kühlhäusern schlossen sich an.

»Mehr oder minder die komplette Produktions- und Lieferkette von Lebensmitteln steht still«, eröffnete sie. »Denn sämtliche modernen Systeme arbeiten elektronisch.«

Hallen mit Kühen, eine neben der anderen in engen Metallpferchen.

»Nehmen wir eines unserer Grundnahrungsmittel, Milch. Normalerweise leiden wir in Europa an einem Überschuss, der uns zwingt, die Milchseen wegzuschütten oder zu Dumpingpreisen in die Dritte Welt zu verkaufen. Diese stammen aus industriellen Milchfabriken mit Tausenden Rindern, die nur durch den Einsatz zahlloser automatischer Fütterungs-, Heiz- und Melkmaschinen funktionieren. Die großen Unternehmen haben Notstromsysteme, die ein paar Tage halten. Wenige besitzen sogar eine autarke Versorgung. Letztere hilft ihnen allerdings nicht viel. Denn die Molkereien, die für Abholung und Verarbeitung zuständig sind, können ihrer Aufgabe nicht mehr nachkommen. Die Tanks ihrer Lkws sind leer. Neues Benzin bekommen sie nicht, da die Tankstellen ohne Strom den Treibstoff nicht aus den unterirdischen Tanks in die Zapfsäulen pumpen können.«

Autoschlangen an einer Tankstelle.

»Selbst wenn sie die Milch abholen und in die Verarbeitungsbetriebe transportieren könnten, dort stehen die Maschinen still.«

Bilder ausgestorbener Molkereihallen, glänzende Metallrohre, ruhende Lieferbänder.

»Gehen wir weiter. Jene Produkte, die bereits fertig waren, lagern in riesigen Kühlhallen. Diese – Sie erraten es schon – kühlen ohne Strom nicht mehr. Oder nicht mehr lange, je nach Ausstattung.«

Sie rief die entsprechenden Bilder dazu auf.

»Und selbst wenn die Waren nicht verderben würden, wiederholt sich nun das Transportproblem. Ohne Treibstoff kann niemand die Waren von den Lagern in die Läden transportieren. In den Supermärkten selbst sieht es nicht besser aus. Sie sind komplett von der Elektronik abhängig. Das gesamte Bestell- und Lagerwesen läuft über Computer, aber nur mit Strom. Schon nach wenigen Stunden wissen die Angestellten nicht mehr, welche Waren noch vorhanden sind und welche nicht. Die Misere setzt sich fort bei so simplen Dingen wie den Türen, die sich automatisch öffnen und schließen, beziehungsweise nun nicht mehr, und endet bei den Kassen, an denen niemand mehr bezahlen kann. Teile des Personals erreichen ihre Arbeitsplätze nicht, weil die öffentlichen Verkehrsmittel ausgefallen sind und sie keinen Treibstoff mehr für das Auto haben. Türen lassen sich natürlich auch manuell öffnen. Die Preise eines Einkaufs kann man auf einem Papier addieren. Aber Sie können sich vorstellen, dass unter diesen Umständen viele Supermärkte nicht öffnen werden. Und jene, die es tun, werden nicht nachbeliefert, sind also bald ausverkauft. Das war das Beispiel Milch. Doch so sieht es natürlich bei allen anderen Lebensmitteln aus. Damit ist die Geschichte leider nicht zu Ende«, fuhr sie fort und aktivierte Bilder von riesigen Rinderställen.

»Kehren wir noch einmal zum Anfang zurück. Gerade bei der Milchproduktion stehen wir in den kommenden Tagen vor einer wahren Katastrophe, die wir nur bedingt aufhalten können. Wer von Ihnen auf dem Land aufgewachsen ist oder einmal mit seinen Kindern Urlaub auf dem Bauernhof gemacht hat, kennt vielleicht das Muhen der Kühe am Morgen, wenn ihre Euter voll sind und sie gemolken werden wollen. Genau das tun sie in all jenen Ställen mittlerweile, die nicht mehr mit Energie versorgt werden. Diese Kühe sind zum Milchproduzieren gezüchtet, sie geben bis zu vierzig Liter am Tag. Stellen Sie sich die Euter dazu vor. Und vergegenwärtigen Sie sich als Nächstes, dass diese Euter seit zwei Tagen nicht gemolken wurden. Die Landwirte können nur einen kleinen Bruchteil von ihnen mit Händen erleichtern. Alle anderen leiden unter den übervollen Drüsen. Selbst wenn wir die betroffenen Unternehmen in den kommenden Stunden mit Notstromgeneratoren ausrüsten, wird die Hilfe für viele zu spät kommen. Millionen werden an ihren geschwollenen Eutern unter ohrenbetäubendem Brüllen qualvoll sterben. Denn für Notschlachtungen in diesem Ausmaß fehlen uns Mittel und Personal.«

Der Gedanke daran trieb ihr die Tränen in die Augen. Auf dem Monitor brannten haushohe Berge undefinierbarer, aufgedunsener Kadaver. Die Aufnahmen stammten aus der BSE-Krise in den Neunzigerjahren, als in England Millionen von Rindern notgeschlachtet und verbrannt worden waren.

»Auf solche Bilder müssen wir uns in den nächsten Tagen einstellen. Wenn wir überhaupt so weit kommen. Denn dazu braucht man massenhaft Gabelstapler und Bagger, für die wiederum der Treibstoff fehlt. Ähnliches gilt bei allen anderen Großbetrieben der Landwirtschaft. Denken Sie an Hühnerzuchtfarmen mit Zehntausenden Küken in einer geheizten Halle unter künstlichem Licht. Europaweit werden Millionen von ihnen erfrieren und verhungern. Schweine sind nicht ganz so empfindlich, aber nach ein paar Tagen ergeht es ihnen ähnlich.«

Michelsen musste kurz Luft holen.

»Dasselbe Problem betrifft die industrialisierte Gemüse- und Obstzucht. Bewässerung, Heizung und Beleuchtung funktionieren nicht, spätestens nach wenigen Tagen auch nicht mehr bei den Betrieben, die Notsysteme besitzen. Malen Sie sich die Auswirkungen auf die Unternehmen aus. Sie gehen alle pleite. Das bedeutet auch mittelfristig eine kritische Situation für die Lebensmittelversorgung, selbst wenn wir die gegenwärtige Situation in den nächsten Tagen in den Griff bekommen, die laufende Produktion dieser Firmen ist beschädigt und fehlt in ein paar Wochen oder Monaten. In vielen Fällen wird die Seuchengefahr massiv steigen. Wir werden Quarantänezonen einrichten müssen. Glück im Unglück sind derzeit die tiefen Temperaturen in weiten Landesteilen. Sie werden die Verwesung noch einige Tage hinauszögern. Für den Süden werden aber bereits leichte Plusgrade vorhergesagt. Für uns Menschen ist das immer noch bitterkalt – für einen Kadaver reicht es, um zu verwesen.«

Sie hielt inne, um ihren Zuhörern die Möglichkeit zu geben, das Vorgetragene zu verdauen. In ihren Gesichtern sah sie, dass die Bilder ihre Wirkung nicht verfehlt hatten.

»So viel zu einem der vorrangigen Themen, der Versorgung mit Lebensmitteln. Aber wie Sie hier bereits sehen, greift ein Thema ins andere. Noch wichtiger als Nahrung ist die Versorgung mit Wasser. Auch diese ist in vielen Regionen zusammengebrochen. Vor allem Pumpen, die das Wasser in die Häuser und dort in die Etagen hochbefördern sollen, arbeiten nicht mehr. Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen zu Hause aussieht«, versuchte sie einen persönlichen Bezug zu den Anwesenden herzustellen. »In meiner Wohnung kann ich weder duschen, noch rinnt Trinkwasser aus der Leitung. Nun gut, ein paar Tage ohne Körperreinigung überlebt man, schließlich stinken bald alle um einen herum genauso wie man selbst. Einen gewissen Getränkevorrat hat man hoffentlich auch eingelagert. Aber Wasser braucht man noch für zahlreiche andere Zwecke. Um einen der – buchstäblich – brennendsten zu nennen: zum Löschen von Feuer. Die Löschwasserversorgung läuft im Allgemeinen über ein eigenes Netz, aber auch das ist auf Strom angewiesen. In ländlichen Bereichen greift die Feuerwehr im Normalfall öfter auf offene Gewässer wie Bäche oder Teiche zurück, so diese vorhanden sind. Deshalb wird das Problem dort nicht ganz so dringend wie in der Stadt. Zwar sinkt das Risiko kurzschlussbedingter Brandfälle in Haushalten und Industrie, dafür steigt die Gefahr durch zu erwartende Versuche, auf Campingkochern oder gar auf offenen Feuern zu kochen oder sich daran zu wärmen. Auch in der Industrie, speziell der chemischen, ist durch den Ausfall von Not- und Sicherheitssystemen mit vermehrten Brandunfällen zu rechnen. Ein fast ebenso großes Problem ist die Wasserentsorgung. Bereits jetzt kann halb Deutschland seine Toiletten nicht mehr spülen. Dieses Hygieneproblem wird schon in den nächsten Stunden eskalieren. Stellen Sie sich ein Hochhaus vor, in dem niemand mehr seine Toilette benutzen kann, aber es trotzdem tun muss. Und wie wir nun wissen, wird sich diese Situation in den kommenden Tagen höchstwahrscheinlich nicht ändern. Meine Damen und Herren«, mit der Anrede wollte sie ihren Worten den nötigen Nachdruck verleihen, »wir müssen sofort mit groß angelegten Evakuierungen in Notquartiere beginnen. Wir reden bereits in der ersten Stufe von mehr als zwanzig Millionen Menschen.«

Schockierte Stille breitete sich im Raum aus. Alle starrten auf den Bildschirm, wo Michelsen Bilder von Notquartieren in den Vereinigten Staaten nach der Flutkatastrophe in New Orleans und dem japanischen Erdbeben von 2011 zeigte. Turnhallen, Veranstaltungssäle, Kongresszentren, überdachte Sportstadien, in denen Notbetten wie kleine Mosaiksteinchen wirre Muster bildeten. Irgendwo am Rand eine lange Menschenschlange vor der Lebensmittelausgabe. Deutschland kannte solche Bilder in diesem Ausmaß nur in Schwarz-Weiß, mit Menschen in abgerissenen Mänteln und altmodischem Schnitt, aus den Fernsehdokumentationen eines Krieges, den die meisten der Anwesenden nicht erlebt hatten, so lange war er her. Und niemand hatte sich vorgestellt, solche Bilder in diesem Land jemals wieder sehen zu müssen.

»Dieses Problem überschneidet sich mit einem weiteren Feld, für das ich nun an den Kollegen Torhüsen aus dem Gesundheitsministerium übergebe.«

Sie setzte sich. Der Angesprochene, ein untersetzter Mann Mitte fünfzig, dem die fehlenden Stunden Schlaf deutlich anzusehen waren, erhob sich schwerfällig.

Er begrüßte die Anwesenden mit leiser Stimme. »Die hygienischen Probleme und Seuchengefahr durch Tierkadaver sind nur ein Aspekt aus Sicht unseres Zuständigkeitsbereichs. Prinzipiell ist das deutsche Gesundheitswesen eines der besten der Welt. Auch auf Krisen sind wir gut vorbereitet, aber nicht auf eine diesen Ausmaßes. Lassen Sie mich kurz skizzieren, was da draußen gerade passiert. Zum einen sind da die Krankenhäuser. Sie sind mit Notstromsystemen ausgerüstet, die den Betrieb je nach Haus für achtundvierzig Stunden bis zu einer Woche sicherstellen. Die ersten stehen bereits jetzt vor sehr ernsthaften Problemen. Manche beginnen mit der Verlegung von Patienten in andere Krankenhäuser. Dort werden in Kürze die Betten knapp werden. Und auch in den Kliniken mit genug Reserven für die nächsten Tage herrscht unter Notstrombedingungen längst kein Regelbetrieb mehr.«

Bilder von Menschen auf Intensivstationen, mehr Schläuche und Maschinen als Körper.

»Intensivstationen müssen zurückgefahren werden, genauso wie Abteilungen für Frühgeborene.«

Beim Anblick der nackten, roten, schrumpeligen Babys mit durchsichtiger Haut, unter der man jedes Äderchen sah, in den kleinen Glaskuben zog sich Michelsens Hals zusammen.

»In manchen Häusern können die Fahrstühle nicht mehr oder nur eingeschränkt benutzt werden. Was das für die Patienten oder gar für die Verlegung Bettlägeriger bedeutet, kann sich jeder vorstellen. Die Ambulanzen sind doppelt betroffen.«

Ein Wartesaal voller Kranker und Verletzter. Michelsen konnte sich die Verzweiflung dieser Menschen gut vorstellen. Sie merkte, wie sie ihre Lippen zusammenpresste und ihre Kiefermuskeln arbeiteten.

»Auch hier kann man nicht mehr auf alle Geräte zurückgreifen, die man sonst hat. Zudem kommt es durch ausgefallene Ampeln zu mehr Unfällen im Straßenverkehr, aber aufgrund des Stromausfalls auch in den Privathaushalten, also zu mehr Verletzten, die behandelt und versorgt werden müssen. Die Rettungsdienste sind mittlerweile hoffnungslos überlastet. Eine weitere Gefahr geht bei dieser Witterung von der Kälte aus. In den kommenden Tagen werden wir ein sprunghaftes Ansteigen viraler Infekte erleben. Wenn wir Pech haben, verstärkt sich auch die Grippewelle. Doch zu ihrem Hausarzt können die Betroffenen nur selten gehen. Viele Ärzte erreichen ihre Praxen wegen Treibstoffmangels und stillstehenden öffentlichen Verkehrsmitteln entweder gar nicht oder können ohne Computer nur wenig ausrichten. Bei den Apotheken stehen viele Patienten vor dem nächsten Hindernis. Diese haben entweder geschlossen oder dasselbe Problem wie alle anderen Läden. Ihre elektronischen Kassen funktionieren ebenso wenig wie ihre Lagerverwaltung und Bestellsysteme. Das heißt erstens, dass Patienten momentan nur bar bezahlen können. Da jedoch – wie später noch ein Kollege ausführlicher erläutern wird – auch die Bargeldversorgung durch Banken und Geldautomaten zunehmend geringer wird, haben die meisten irgendwann nicht mehr genug in der Brieftasche. Die Apotheken verweigern daher schlicht und einfach den Verkauf der notwendigen Mittel. Das können und werden wir so schnell wie möglich durch Notverordnungen ändern müssen. Die rechtlichen Möglichkeiten dazu haben wir. Aber selbst dann gehen den meisten Apotheken nach wenigen Tagen die Arzneien aus, weil sie keine neuen geliefert bekommen. Besonders hart trifft das chronisch Kranke, die auf die regelmäßige Einnahme angewiesen sind, denken Sie etwa an Herzkranke oder Diabetiker.«

Torhüsen trank einen Schluck Wasser, dann fuhr er fort. »Überhaupt sind chronisch Kranke in dieser Situation besonders gefährdet. Tausende Menschen in Deutschland etwa müssen regelmäßig zur Dialyse, viele von ihnen täglich. Die meisten Dialysezentren sind für einen Fall wie diesen nicht gerüstet. Es sind private Praxen, die ihre Patienten jetzt nur in die Krankenhäuser schicken können. Dort kann man bestenfalls nur die allerschwersten Notfälle übernehmen. Hier drohen uns hundert-, wenn nicht tausendfache menschliche Katastrophen.«

Michelsen spürte, wie sie auf ihre Unterlippe biss. Vor ein paar Jahren hatte sie in hilfloser Verzweiflung das langsame Sterben einer Freundin an einer unheilbaren Nervenkrankheit begleitet. Wie entsetzlich musste diese Hilflosigkeit erst für Menschen und deren Angehörige sein, die wussten, dass es Mittel zur Rettung gab, diese jedoch nicht mehr verfügbar waren. Doch Torhüsen gewährte keine Gnade.

»Zu einer Todesfalle – es tut mir leid, aber anders kann ich es fast nicht bezeichnen – werden Alten- und Pflegeheime. Sofern diese überhaupt mit Notstromsystemen ausgerüstet sind, gehen auch hier den meisten demnächst die Reserven aus. Die Folgen kann man sich unschwer vorstellen. Hat irgendjemand einen pflegebedürftigen Elternteil in einer solchen Einrichtung?«

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Natürlich gab niemand eine Antwort, aber die Stille sprach Bände über die Betroffenheit der Anwesenden.

»Künstliche Ernährung funktioniert nicht, wie auch alle anderen medizinischen Geräte, etwa zur künstlichen Lebensverlängerung. Die Küche fällt aus, die Versorgung mit Lebensmitteln insgesamt, ebenso die mit Wasser. Reinigung von Pyjamas und Bettwäsche wird unmöglich, die hygienischen Zustände werden auch hier schnell untragbar. Die Heizungen fallen aus, und binnen weniger Stunden erkalten die Räume. Viele der Insassen können sich nicht von allein bewegen. Auch hier funktionieren die Fahrstühle nicht mehr, eine Verlegung wird kompliziert. Wie die Ärzte können Teile des Personals ihren Arbeitsplatz nicht erreichen. Die verbliebenen sind völlig überfordert.«

»Mein Gott«, flüsterte eine Stimme.

Aus den Augenwinkeln versuchte Michelsen zu erkennen, wem dieser Seufzer entfahren war. Den fahlen Mienen nach konnte es jeder im Raum gewesen sein. Bislang hatte sich wohl noch keiner von ihnen die Konsequenzen in ihrer vollen Wucht ausgemalt. Dabei waren sie mit ihrem Vortrag noch längst nicht zu Ende.

»Wir brauchen ein ganzes Bündel an Maßnahmen, um wenigstens eine rudimentäre Versorgung der Bevölkerung und der Schwerstkranken sicherzustellen. Und wir brauchen es sofort. Dazu gehören unter anderem die Schaffung von medizinischen Notfallzentren, Notverordnungen für die Abgabe von Medikamenten und jede Unterstützung, die wir von den Sanitätseinheiten der Bundeswehr erhalten können. Die Pläne dafür gibt es. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Rolf?«

Torhüsen setzte sich, zwei Plätze weiter erhob sich Rolf Viehinger, Leiter der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Innenministerium. Trotz seiner bald sechzig Jahre sah er noch immer aus wie das Mitglied einer Sondereinsatztruppe des Bundeskriminalamts, das er einmal gewesen war. Seine Bewegungen waren auf das Notwendigste beschränkt, aber ausdrucksstark. Bei ihrem Eintritt ins Ministerium hatte er Michelsen gefallen, und fast hätte sie mit ihm angebändelt, wäre da nicht seine rechte Gesinnung gewesen, aus der er kein Hehl machte. Damit konnte Michelsen, deren Großvater als Widerstandskämpfer die Konzentrationslager der Nazis als gebrochener Mann verlassen hatte, nichts anfangen. Nichtsdestotrotz billigte sie ihm zu, dass er seinen Job ordentlich erledigte.

»Krisen«, hob er an, »wecken oft das Beste im Menschen. In den vergangenen achtundvierzig Stunden konnte man ein unfassbares Ausmaß an gesellschaftlicher Solidarität erleben. Wildfremde Menschen helfen einander in der Not. Das Freiwilligenwesen bei den Hilfsdiensten, ob Rotes Kreuz, Feuerwehr und all die anderen, eine der wichtigsten Säulen der deutschen Katastrophenhilfe, funktioniert sensationell, obwohl die Aktiven sich auch um ihre eigenen Familien kümmern müssen. Dieses Phänomen lässt sich immer wieder beobachten, erinnern wir uns nur an die Oderflut vor einigen Jahren. Aber machen wir uns nichts vor. Je länger dieser Zustand anhält, desto schwächer werden diese Strukturen. Sobald die Kühlschränke der Menschen leer sind, werden sie sich nach Nahrung umschauen. Hunger, Durst und Kälte werden unsere zivile Fassade sehr bald bröckeln lassen. Wenn wir nicht schleunigst eine Grundversorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten herstellen, müssen wir bald mit Plünderungen und Ausschreitungen rechnen. Auch Nachbarn werden nicht mehr so hilfsbereit miteinander umgehen, wie sie es momentan tun. Ganz zu schweigen davon, was passiert, wenn die Menschen die Ursache des Ausfalls erfahren. Was sich nicht verhindern lassen wird. Die Nachricht wird ihre Angst schüren. Und Angst war noch nie ein guter Ratgeber. Ein weiteres Problem werden in absehbarer Zeit die Inseln darstellen, wie wir sie intern nennen.«

Er rief eine Landkarte auf dem Bildschirm auf.

»Einige Städte und Regionen in Deutschland können momentan eine wenigstens temporäre Stromversorgung organisieren. Sei es durch funktionierende Kraftwerke in ihrem Einzugsbereich oder aus anderen Gründen. Wie Sie sehen können, sind sie über das ganze Bundesgebiet verteilt. Zurzeit haben dadurch etwa zwanzig bis dreißig Prozent der Bevölkerung zeitweise Zugriff auf lebenswichtige Strukturen. Trotz zusammengebrochener Kommunikationssysteme wird sich diese Tatsache herumsprechen. In der Folge werden immer mehr Menschen aus den unversorgten Gebieten versuchen, in diese Oasen zu gelangen. Im besten Fall finden sie Unterschlupf bei Verwandten oder Freunden. Viele andere werden auf der Straße stehen. Die betroffenen Gebiete werden diesen Ansturm allein nicht bewältigen können. Bald wird es zu Auseinandersetzungen zwischen Ansässigen und Flüchtlingen kommen. Wir müssen diese Gebiete möglichst schnell auf diesen Ansturm vorbereiten, vor allem aber verhindern, dass er zu einem nicht bewältigbaren Strom anschwillt.«

Michelsen musste an die Asylanten- und Zuwandererdebatte denken, die Deutschland seit Jahren bewegte. Auf einmal bekam diese einen ganz neuen Aspekt. Sie war gespannt, wie lange unter diesen Umständen die Geduld der Einheimischen mit den Flüchtlingen aus dem eigenen Kulturkreis währte. Was würde geschehen, wenn sich die Eigenheimbesitzer von den Flüchtlingsmassen bedroht sahen? Wenn jene auf den Notmatratzen in den Zeltstädten nach einigen Tagen neidisch auf die schmucken Häuschen mit eigener Toilette und Dusche zu schielen begannen. Wenn die Zahl der Flüchtlinge jene der Einheimischen irgendwann deutlich überstieg?

»Ich dachte«, wandte der Außenminister ein, »zahlreiche Gemeinden wären inzwischen energieautark. Manche produzieren doch sogar schon mehr Strom, als sie selbst verbrauchen.«

»Da ist der Wunsch leider Vater des Gedankens«, sprang Staatssekretär Rhess ein. »Erstens sind nur wenige Gemeinden wirklich energieautark. Die meisten, von denen man liest, haben die Programme erst begonnen oder sind nur teilautark. Außerdem, und das ist entscheidend dabei: Energieautark bedeutet in praktisch allen Fällen keine physische Unabhängigkeit, sondern nur eine rechnerische. Diese Gemeinden erzeugen zwar vielleicht mehr Strom, als sie selbst verbrauchen. Das heißt, sie müssen im Normalbetrieb von niemandem mehr Strom kaufen. Aber sie speisen den von ihnen erzeugten ebenso ins reguläre Netz ein, an dem sie weiterhin hängen. Sobald also dieses Netz ausfällt, nützt ihnen ihre ganze Energieproduktion nichts, da sie kein stabiles Netz im Kleinen etablieren können. Auf diese Mini-Insellösungen ist die herrschende Netzstruktur nicht ausgelegt.«

»Das heißt, die könnten zwar Strom produzieren, ihn aber nicht an die Verbraucher verteilen?«, fragte der Minister ungläubig nach.

»Genau das heißt es. Dasselbe gilt für die Großkraftwerke«, bestätigte Rhess. »Aber wir haben Sie unterbrochen, Kollege Viehinger. Bitte fahren Sie fort.«

»Selbstverständlich wurde für alle Sicherheitsbehörden ein Urlaubsstopp verhängt. Trotzdem werden wir Unterstützung von Staatspolizei und Bundeswehr brauchen.«

»Zivil oder auch militärisch?«, fragte die Umweltministerin.

»Den Anforderungen entsprechend«, antwortete der Innenminister knapp.

»Danke für Ihre Ausführungen«, warf der Bundeskanzler ein. »Der Herr Innenminister erklärte mir gerade, dass wir noch nicht fertig sind. Deshalb schlage ich eine kurze Pause vor. Vertreten wir uns die Beine und machen wir in zehn Minuten weiter.«

Unter allgemeinem Rascheln erhoben sich alle, die Raucher eilten zu den Fahrstühlen, um ins Freie zu gelangen. Nur zum Mobiltelefon griff niemand, wie es die Vielbeschäftigten in einem solchen Moment getan hätten, fiel Michelsen auf. Dass die Mobilfunknetze nicht mehr funktionierten, hatten mittlerweile alle begriffen.

»Was meinst du?«, flüsterte ihr Torhüsen zu.

»Sie stehen unter Schock, würde ich sagen«, erwiderte Michelsen ebenso leise.

Die Mitglieder des Kabinetts und die Ministerpräsidenten standen mit ernsten Mienen in Gruppen beisammen und diskutierten, manche ruhig, manche geradezu aufgebracht. Michelsen hörte Begriffe wie »Notstandsgesetze« und »Spannungsfall«.

Paris

Natürlich hatte kein Taxi angehalten. Shannon war quer durch die Stadt gelaufen, über die Ile de la Cité bis zum Gare du Nord, wo die Busse abfuhren. Straßenlaternen, Verkehrsampeln und die Beleuchtung vieler Gebäude waren ausgefallen. Das meiste Licht spendeten die Scheinwerfer der Autos. Kurz nach zehn Uhr abends erreichte sie den Bahnhof. Auch hier war fast alles finster, nur ein paar Notleuchten flimmerten. An den Eingängen zur Bahnhofshalle drängten sich Trauben von Menschen. Da Shannon nicht wusste, wo sich der Busterminal befand, zwängte sie sich hinein. In düsterem Dämmerlicht hatten die gestrandeten Reisenden die Bahnhofshalle zu einem gigantischen Notquartier umfunktioniert. Überall saßen und lagen Menschen auf dem Fußboden. Einige schimpften. Kinder jammerten und weinten. An den Schaltern versuchten die Ticketverkäufer die Wartenden zu beruhigen, wie Shannon aus den Gesten der Beteiligten schloss. In der Luft lag trotz der Kälte ein muffiger Geruch, durch den manchmal ein Hauch von Fäkalien zog.

Shannon suchte Anzeigetafeln. Die Bildschirme mit den Ankünften und Abfahrten waren blind. Sie kämpfte sich kreuz und quer durch die Halle, bis sie ein Schild fand, auf dem sie schwach das Zeichen für Busse erkennen konnte. Hoffentlich wies es nicht nur auf die städtischen Verbindungen hin. Sie folgte dem Pfeil, musste das Gebäude wieder verlassen und gelangte schließlich auf einen Parkplatz, auf dem sich Bus an Bus reihte. Dazwischen suchende, wartende Leute mit ihrem Gepäck. Zehn Minuten später hatte sie den Bus nach Den Haag gefunden. Shannon sah hoch zu den Fenstern, noch schien er nicht voll. Sicherheitshalber fragte sie den Fahrer.

»Oui, La Haye«, wie Den Haag auf Französisch hieß.

»Müssen Sie unterwegs tanken?«, fragte sie. Durch ihre Recherchen der letzten zwei Tage hatte sie gelernt, dass die meisten Tankstellen nicht mehr funktionierten. Sie hatte keine Lust, mitten auf der Strecke liegen zu bleiben.

»Non

»Wo bekomme ich ein Ticket?«

»Heute bei mir. Die Schalter sind geschlossen. Nur Barzahlung. Sechsundfünfzig Euro, bitte.«

Shannon zahlte und suchte sich einen freien Platz. In einer der hinteren Reihen waren sogar noch zwei nebeneinander. Wenn sie Glück hatte, setzte sich niemand neben sie. Fast sieben Stunden Fahrt in einem Bus waren kein Vergnügen. Noch weniger mit unterhaltungssüchtigen oder schlecht riechenden Nachbarn. Sie verstaute ihren Seesack in der Ablage über den Sitzen und wählte den Fensterplatz. Was für eine idiotische Idee, schoss es ihr durch den Kopf. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Aber jetzt saß sie da. Immerhin war es im Bus warm. Der Fahrer ließ den Motor an. Bei jedem, der jetzt noch einstieg, betete Shannon, dass er einen anderen Platz als den neben ihr wählte. Sie hatte Glück. Wenig später setzte sich der Bus ruckelnd in Bewegung und verließ langsam das Gelände.

Shannon legte ihre Daunenjacke zusammen und steckte sie als Kissen zwischen die Scheibe und ihren Kopf.

Draußen glitten die Schatten der Stadt an ihr vorüber. Irgendwann wurden die Schemen schwächer, unter einem sternen- und mondlosen Himmel versank die Landschaft in fast kompletter Dunkelheit. Shannon starrte in die Finsternis und dachte an nichts.

Berlin

Als Nächster war Staatssekretär Rhess an der Reihe.

»Geld regiert die Welt, heißt es so schön«, leitete er seinen Vortrag ein.

Hübsch, dachte Michelsen, diesen Satz einer Regierung hinzuwerfen. So viel Mut hätte sie ihm nicht zugetraut.

»Die Frage ist, wer regiert, wenn es auf einmal kein Geld mehr gibt?«

Gespannt wartete sie, wie er aus der Nummer wieder herauskommen wollte.

»Der Kollege Torhüsen hat es schon angesprochen. Zwar ist das Finanzwesen auf einen Stromausfall verhältnismäßig am besten vorbereitet. Banken können ein paar Tage lang ihren Betrieb einigermaßen aufrechterhalten. An den Schaltern können Kunden Bargeld abheben, an vielen Bankautomaten allerdings nicht mehr. Die Bargeldversorgung der Filialen ist so lange sichergestellt, wie die Geldtransporter Treibstoff beziehen können. Nach drei bis vier Tagen werden kleinere Filialen jedoch schließen, nach spätestens einer Woche auch große. Sehen Sie in Ihren eigenen Brieftaschen nach. Wie viel Bargeld tragen Sie bei sich? Enorme Auswirkungen wird das Versiegen des Geldkreislaufes auch auf die Wirtschaft haben. Unternehmen können keine Gehälter, Waren und Lieferanten bezahlen. Die Börsen sind gut ausgerüstet, ebenso die Europäische Zentralbank und die Clearingorganisationen, über die Finanztransaktionen abgewickelt werden. Schlechter dagegen sieht es für die Menschen und Unternehmen aus, die Finanzdienstleistungen in Anspruch nehmen wollen. Durch den weitgehenden Ausfall der Telefonnetze und des Internets können sie bestenfalls noch durch persönliches Erscheinen bei einer Bank Geschäfte tätigen. Das heißt, die europäischen Börsen können und werden morgen öffnen. Es ist allerdings mit herben Kursabschlägen zu rechnen. Wahrscheinlich wird es zu einem verkürzten Handel kommen. Sobald die Nachricht eines gezielten Angriffs draußen ist, werden die Börsen weltweit ein Blutbad erleben. Der Wert deutscher Unternehmen wird radikal sinken, viele werden in den folgenden Monaten Opfer von Übernahmeversuchen durch ausländische Konzerne. Ganz zu schweigen von zahlreichen Klein- und Mittelbetrieben, denen die Mittel fehlen, um nach solchen Verlusten zu überleben. Auch wenn wir in dieser Situation zuerst an die Grundversorgung denken müssen, halte ich es für wichtig, auch diese mittel- bis langfristigen Aspekte nicht aus den Augen zu verlieren.«

Michelsen stellte fest, dass Rhess seine provokante Einleitung bislang gar nicht aufgelöst, sondern einfach weggeredet hatte. Sei’s drum. Auch eine Strategie. Ohnehin ging es um Wichtigeres.

»Die brisantesten Themen haben wir bereits behandelt, bis auf eines: die Kommunikation untereinander und mit der Bevölkerung. Den Zustand muss man leider als katastrophal bezeichnen. Die öffentlichen Telefonnetze und die Mobilfunknetze sind größtenteils bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag zusammengebrochen. Dasselbe gilt für den BOS-Funk, das behördeninterne Funksystem. Es ist nur auf eine stromlose Zeit von etwa zwei Stunden angelegt …«

»Himmel, wer genehmigt denn so etwas?!«, rief jemand in der Runde.

Rhess ignorierte den Einwurf und fuhr fort: »Am Samstag war eine Kommunikation zwischen Bund, Ländern und Hilfsdiensten fast unmöglich. Erst im Lauf des heutigen Tages wurden die Ersatzsysteme so weit etabliert und die Notstromsysteme der wichtigsten Anlagen ausreichend nachgerüstet, dass wir wieder rudimentär in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren. Nach wie vor fehlt uns in viele Regionen eine feste Verbindung. Von dort bekommen wir beziehungsweise die Krisenzentralen in den Ländern gar keine Informationen oder nur tröpfchenweise, mal per Satellit, mal von Amateurfunkern oder über die Fernsehanstalten, die gut ausgestattet sind und senden können. Auch wenn sie außer in den Strominseln kaum jemand empfangen kann.«

Michelsen bemerkte verständnisloses Kopfschütteln.

»Die Bundeswehr könnte ein Feldnetz einrichten, das stellenweise für Entlastung sorgen würde. Das ist allerdings ebenfalls energieintensiv und auf ausreichend Versorgung mit Treibstoff angewiesen. Schleunigst einbeziehen sollten wir Amateurfunker, von denen es mehr gibt, als man denkt, und deren Ausrüstungen relativ robust sind. Auch sie stehen aber vor dem Problem, dass ihre Akkus irgendwann leer sind. Die Satelliten sind überlastet. Wir werden Kernfunkzeiten einrichten, damit wir die Kapazitäten besser nützen können.«

Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: »Immens wichtig ist jetzt die Information der Bevölkerung. Natürlich gibt es Pläne, Warnungen und Broschüren, in denen jeder nachlesen kann, was er bei einem Stromausfall tun soll. Aber, Hand aufs Herz, wer von uns hat zuletzt in so etwas hineingeschaut, obwohl es sogar unsere Arbeitsbereiche betrifft? Tatsache ist, dass es eine Broschüre des Innenministeriums gibt, in der empfohlen wird, ein batteriebetriebenes Radio zu Hause zu haben. Aber wer von Ihnen hat so etwas? Und wenn, wer besitzt auch die notwendigen Batterien? Wir haben uns an eine Welt gewöhnt, die mit Fernsehen, Internet und Mobiltelefonen funktioniert. Einige von Ihnen besitzen vielleicht gar keine Festnetzanschlüsse mehr. Würde aber auch nichts helfen, denn die Notstromreserven der Ortsvermittlungsstellen betragen zwischen fünfzehn Minuten und acht Stunden. Auch die Mobilfunknetze sind tot. Selbst wenn sie in Betrieb wären, sind die Akkus der Mobiltelefone inzwischen leer, weil man sie nirgends mehr aufladen kann. Das Internet ist für den Durchschnittsbürger so gut wie nicht mehr nutzbar – und wenn, nur für jene, deren Computer noch mit Elektrizität versorgt werden. Dasselbe gilt für Fernsehen und Radio. Kurz: Die Menschen da draußen sind mehr und mehr auf Hörensagen und Gerüchte angewiesen. Das kann ganz schnell eine gefährliche Dynamik annehmen. Deshalb müssen wir die Kommunikation sicherstellen. Ich schlage vor, das über die Hilfsdienste zu organisieren. Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei und das Technische Hilfswerk verfügen teilweise noch über eigene funktionsfähige Kommunikationsnetze. Allerdings sind diese Ressourcen sehr begrenzt, eine flächendeckende Kommunikationsversorgung ist nicht möglich. Trotzdem müssen die Dienste neben ihren herkömmlichen Aufgaben nun auch die des Informationsdienstes übernehmen.«

Sie hatten dieses Thema schon öfter diskutiert, erinnerte sich Michelsen. Natürlich gab es Informationsmöglichkeiten für Notsituationen, aber sie waren entweder äußerst bescheiden wie das satellitengestützte Warnsystem SatWaS, mit dem der Bund direkt in Radio- und Fernsehsender Nachrichten einspielen konnte. Aber wo keine Fernseher und Radios liefen, nützte es nichts. Genauso war es mit Warnsystemen wie dem Deutschen Notfallvorsorgeinformationssystem deNIS und anderen, die über das Internet oder Mobiltelefone liefen.

»Gibt es irgendwelche Prognosen, ob und wann wir eine landesweite Stromversorgung wiederherstellen können?«, fragte der Bundeskanzler. »Viele Kraftwerke funktionieren ja.«

»Die Versorger und Netzbetreiber wagen dazu nichts mehr zu sagen«, antwortete Rhess. »Vor allem wissen wir noch nicht, welche Systeme betroffen sind. Es können einige Kraftwerke sein, Verteilernetze, wir wissen es einfach nicht. Und so lange kann man keine Voraussagen machen.«

»Was ist mit den Kernkraftwerken?«, fragte der Wirtschaftsminister.

»Wurden alle heruntergefahren«, erwiderte die Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.

»Trotzdem müssen sie weiterhin gekühlt werden, wenn ich recht informiert bin. Funktionieren die Notsysteme? Sind das nicht in erster Linie Dieselgeneratoren? Wie lange halten deren Reserven?«

»Laut der Sicherheitsüberprüfung deutscher Kernkraftwerke unter Berücksichtigung der Ereignisse in Fukushima haben alle ausreichend Treibstoff für mindestens zweiundsiebzig Stunden …«

»Nur zweiundsiebzig!?«, rief jemand dazwischen.

»… die meisten für weit mehr. Laut desselben Berichts liegen nach Angaben der Betreiber …«

Angaben der Betreiber, wenn ich das schon höre, dachte Michelsen.

»… ich zitiere aus dem Bericht ›vertragliche Festlegungen oder mündliche Absprachen zu Lieferungen von Hilfs- und Betriebsstoffen‹: ›Zu Zeiten für die Anlieferung von Hilfs- und Betriebsstoffen wie auch zur Berücksichtigung von naturbedingten EVA-Schäden‹EVA bedeutet Einwirkungen von außen – ›gibt es zumeist keine Ausführungen. Die Betreiber weisen zum Teil erhebliche Öl- und Kraftstoffvorräte auf dem Anlagengelände aus. Bei einigen Anlagen ist damit der Betrieb für mehrere Wochen möglich. Aussagen zum Schutz dieser Stoffe gegen naturbedingte EVA und zum gesicherten Transport gibt es nicht. Bis auf wenige Ausnahmen haben alle Anlagen Zugriff auf mobile Notstromaggregate in ihrem Umfeld. In diesen Fällen liegen die Zeiten bis zur Verfügbarkeit der mobilen Notstromaggregate deutlich unter zweiundsiebzig Stunden.‹«

Das heißt, bis spätestens morgen Abend müssen einige von denen nachversorgt sein, dachte Michelsen. Und mit einem Szenario wie dem herrschenden hatte wahrscheinlich niemand gerechnet. Dass Diesel und mobile Notstromaggregate innerhalb von zweiundsiebzig Stunden beschafft werden konnten, musste nun gewährleistet werden, sonst …

»Wir sind im Kontakt mit den Betreibern«, fuhr der Minister fort, »und garantieren, dass ausreichend Diesel geliefert wird. Treibstoff wird generell ab sofort rationiert und bleibt den Behörden, Notdiensten und anderen dringenden Einsätzen vorbehalten. Allerdings melden die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien und die französischen Behörden eine sehr ernste Lage aus dem Kraftwerk Saint-Laurent und leichtere Zwischenfälle aus anderen.«

»Wo liegt das?«

»In der Region Centre südlich von Paris.«

»Gefahren für unser Bundesgebiet?«

»Vorläufig nicht.«

Der Wirtschaftsminister nickte nachdenklich, gab sich aber mit der Antwort zufrieden.

Michelsen wollte die Rehe jetzt nicht scheu machen, indem sie die anderen Probleme in den einheimischen Atomkraftwerken zur Sprache brachte, die vorläufig nicht ganz so gravierend waren, mit der Zeit aber ebenso katastrophale Auswirkungen haben konnten wie versagende Notstrom- und Sicherheitssysteme. Immer weniger Personal gelangte überhaupt zu seinem Arbeitsplatz in den AKWs, die verbliebenen Leute schoben Sonderschichten und waren längst total übermüdet, was das Risiko von Fehlern drastisch steigerte. Viele Tätigkeiten konnten nicht oder nur reduziert ausgeführt werden, die regelmäßige Reinigung und Dekontaminierung der Kleidung oder von Schutzanzügen war da noch eine der harmlosesten.

Staatssekretär Rhess unterbrach Michelsens Gedanken.

»Zum Abschluss aber noch eine gute Nachricht«, sagte er. »Die internationale Zusammenarbeit klappt bis jetzt ausgezeichnet. Die vorgesehenen bilateralen Prozesse und jene innerhalb der Europäischen Union laufen wie vorgesehen. Dank dieser supranationalen Zusammenarbeit konnte so zum Beispiel sehr schnell festgestellt werden, dass es sich um eine bewusste Manipulation der Stromnetze handelt und nicht um eine Verkettung unglücklicher Zufälle. Ich bitte daher, die europaweite Zusammenarbeit weiterhin nach Kräften zu unterstützen. Auch wenn«, fügte er hinzu, »wir Hilfsmaßnahmen weder in Anspruch nehmen noch leisten werden können. Das wird sicher eine der größten Herausforderungen der kommenden Tage. Deshalb hat das Außenamt erste Sondierungen für internationale Hilfe aufgenommen, natürlich in Koordination mit den Brüsseler Stellen. Danke noch einmal für Ihre Aufmerksamkeit.«

»Internationale Hilfe?«, fragte der Ministerpräsident von Brandenburg. »Woher soll die kommen?«

»Aus den USA, Russland und der Türkei in erster Linie.«

»Carepakete, oder wie?«, flachste der Brandenburger.

»Das muss schon mehr sein«, erwiderte Rhess. Er hatte sich kaum gesetzt, da fragte die Ministerpräsidentin von Hessen: »Haben wir denn eine Ahnung, wer die Manipulation vorgenommen hat und warum?«

»Nein«, antwortete der Innenminister. »Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren.«

»Die Frage ist doch«, meldete sich der Verteidigungsminister zu Wort, »warum ausgerechnet Europa? Wer könnte Interesse daran haben? Wirtschaftlich bringt es niemandem einen Vorteil, einen der größten und stärksten Märkte der Welt so zu beschädigen. Über eine halbe Milliarde Konsumenten kaufen gern Waren aus Russland, China, Japan, Indien und den USA. Geht es Europa schlecht, leiden auch die anderen großen Volkswirtschaften darunter. Dasselbe gilt für einen Militärschlag. Die diplomatischen Beziehungen zu den großen Nationen sind gut, auch wenn es, wie wir wissen, zuletzt Spannungen mit Russland und China gab. Natürlich stehen wir laufend in Kontakt mit den Kommandozentralen der NATO. Aber zurzeit haben wir keine Anhaltspunkte für feindliche Aktivitäten irgendwelcher Nationen.«

»Organisierte Kriminalität, zur Erpressung von Lösegeld?«, schlug der Gesundheitsminister vor.

»Bislang sind keine Forderungen eingegangen. Außerdem muss jeder, der so etwas versucht, damit rechnen, dass er auf der ganzen Welt gejagt wird.«

»Womit wir bei der momentan wahrscheinlichsten Variante sind: ein Terrorakt«, sagte der Innenminister.

»In diesem Ausmaß?«, fragte der Verkehrsminister ungläubig.

»Vielleicht war er ja gar nicht so groß geplant. Erinnern wir uns an den 11. September 2001 in New York. Die Terroristen wollten die Türme des World Trade Centers treffen. Mit deren Einsturz hatten sie wahrscheinlich nicht gerechnet.«

»Aber warum Europa?«, hakte der Verkehrsminister nach. »Seien wir ehrlich, oberstes Ziel der Islamisten sind doch die USA

»Ich sage nur Madrid und London 2005«, erinnerte der Innenminister, »die vereitelten Attentate auf Züge in Deutschland 2007 und diverse andere. Wir sind ein Verbündeter im weltweiten Kampf gegen den Terror. Deutsche Truppen kämpfen in Afghanistan, wir unterstützen den Boykott gegen den Iran, soll ich noch mehr aufzählen? Gründe gibt es genug, wenn man welche braucht.«

»Meine Damen und Herren«, unterbrach der Bundeskanzler die Diskussion, »ich denke, Gebot der Stunde ist die Versorgung der Bevölkerung und die Sicherung der öffentlichen Ordnung. Ich danke dem Innenministerium, seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die informativen Ausführungen. Angesichts der Situation schlage ich die Ausrufung des Katastrophenfalls in allen Bundesländern vor. Der Bund übernimmt die Führung und Koordination. Ein permanenter Krisenstab unter Leitung des Innenministeriums ist bereits eingerichtet. Das Parlament selbst oder der ständige Ausschuss werden in den kommenden Stunden alle rechtlichen Grundlagen schaffen, um Sicherheit und Ordnung im Land aufrechtzuerhalten.«

»Wie weit informieren wir die Bevölkerung?«, fragte Rhess.

Der Kanzler warf seinem Sprecher einen kurzen Blick zu, auffordernd, nicht fragend.

»Solange die Motive der Verursacher nicht bekannt sind, handelt es sich um einen Zusammenbruch aus ungeklärten Gründen«, sagte der Sprecher des Regierungschefs. »Alles andere würde die Menschen derzeit nur beunruhigen.«

»Sollten wir dieses Urteil nicht den Bürgerinnen und Bürgern selbst überlassen?«, fragte Michelsen.

»Wollen Sie eine Panik riskieren?«, fragte der Sprecher.

»Ich denke nur, dass es vernünftiger wäre, den Menschen zu sagen, worauf sie sich einstellen müssen.«

Sie hatte diese überhebliche, bevormundende Haltung von Führungskräften, ob in Wirtschaft, Wissenschaft oder Politik, nie verstanden. »Die Erfahrung lehrt uns doch«, erwiderte sie, »dass die Wahrheit früher oder später herauskommt.«

»In diesem Fall tut sie es besser später …«, sagte der Kanzler.

»Was dann wie üblich zum noch größeren Desaster führt«, murmelte Michelsen kopfschüttelnd, während Rhess erklärte:

»Außerdem müssen wir diese Verlautbarung international koordinieren. Kein Staat soll und wird dabei vorpreschen. Das ist in unser aller Interesse.«

Der Bundeskanzler erhob sich.

»Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. Wir sehen uns spätestens morgen um zwölf Uhr mittags wieder, zum ab sofort täglichen Jour fixe.«

Paris

Ambrose Tollé hatte Blanchard gerade noch gefehlt. Der Sekretär des Präsidenten war noch keine dreißig Jahre alt, gekleidet wie ein Model für ein Herrenmodemagazin, und trat auf, als wäre er der Staatschef persönlich.

Monsieur le Président hatte Tollé nach dem neuerlichen Totalausfall geschickt, um ihn permanent auf dem Laufenden zu halten. Und um Blanchard und allen anderen Verantwortlichen bei CNÉS zu signalisieren, dass sie Missfallen an oberster Stelle erregt hatten.

In der Gegenwart Tollés war auch Albert Proctets fatalistische Ruhe vom Nachmittag verschwunden. Hauptgrund für seine Schweißausbrüche und den damit verbundenen Geruch der Angst, den der IT-Chef vom Dienst verströmte, waren jedoch die Erkenntnisse der Tests, die sie im Lauf des Nachmittages durchgeführt hatten.

»Mit dieser IT können wir keine stabile Stromversorgung aufbauen«, erklärte Blanchard. Es war ein Offenbarungseid, und er wusste, dass er dafür zur Rechenschaft gezogen würde, wenn nicht in den nächsten Stunden, dann spätestens, sobald der Normalzustand wiederhergestellt war.

Seit drei Uhr nachmittags war praktisch ganz Frankreich abermals vom Netz. Fast alle Server zur Steuerung der Netzschaltstellen waren ausgefallen, auch die redundanten Systeme hatten versagt.

»Das mit den Testservern, die wir unmittelbar nach den Blue Screens aufsetzten, und der darauf etablierten Laborsituation habe ich Ihnen bereits erläutert«, sagte Blanchard. »Leider war das Ergebnis wenig hilfreich: Eine Neuinstallation auf Basis der vorhandenen Installationsroutinen ist keine Lösung. Jemand hat die Systeme richtig böse infiziert. Mit unserem Know-how allein kommen wir nicht weiter. Wir haben externe Experten angefordert. Sie werden noch heute Nacht mit den Arbeiten beginnen.«

»Heute Nacht?«, fragte Tollé kühl. »Warum nicht sofort?«

»Sie kämpfen mit denselben Problemen wie alle anderen. Ihre Leute sind nicht erreichbar, müssen sich um ihre Familien kümmern, Sie wissen schon …«

»Wann kann ich dem Präsidenten die Wiederherstellung der Stromversorgung mitteilen?«

»Das können wir zurzeit noch nicht abschätzen«, gestand Blanchard zerknirscht. Warum gelang es diesem jungen Fatzke, dass er sich so mies fühlte?

»Diese Antwort wird er nicht akzeptieren.«

»Das wird er müssen«, sagte Proctet zu Blanchards Überraschung.

Blanchard sah, wie Tollés Kiefer arbeiteten. Mit mühsam beherrschtem Ton antwortete der Sekretär: »Sagen Sie, was Sie brauchen, damit es schneller geht, und ich kümmere mich darum.«

Blanchard überlegte, wie oft er sich von der Politik etwas gewünscht hatte. Wirklich handelten die Damen und Herren wie üblich erst, wenn etwas Schlimmes geschehen war. Dann waren sie auf einmal da, die Retter der Nation, um für ihre Versäumnisse von früher andere verantwortlich zu machen und selbst den Helden zu spielen. Blanchard hätte kotzen können, doch sogar dafür fehlte ihm in diesem Augenblick die Kraft.

Berlin

Michelsen trank noch einen Espresso. Sie sehnte sich nach einem Bett. Stattdessen schüttete sie gleich noch einen Kaffee nach, drückte sich einen weiteren aus der Maschine und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück.

Die Aufgabe, vor der sie standen, war kaum zu bewältigen. Sämtliche Lebensbereiche waren betroffen, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß. Sie für ihren Teil wollte sich eine Übersicht verschaffen, mit der sie die wesentlichen Punkte und Geschehen im Blick behielt.

Sie begann zu tippen.

Wasser

Lebensmittel

Medizinische Versorgung

Unterkunft

Kommunikation

Öffentliche Ordnung

Transport

Geld/Finanzen

Andere Infrastrukturen

Versorger

International

Waren das die wichtigsten Punkte? Falls sie einen vergessen hatte, konnte sie ihn nachtragen. Sie legte eine neue Seite an. In die erste Zeile schrieb sie:

Tag 2 (Sonntag)

Darunter kopierte sie die Punkte ein weiteres Mal ein. Dazu tippte sie ihre Notizen.

Wasser

aktueller Status nicht bekannt, Ausfall in Teilen des Bundesgebiets (BG)

Noch hatten sich regionale Behörden und die Länder keine Übersicht verschaffen können. Vor morgen rechnete Michelsen mit keinen neuen Erkenntnissen.

Lebensmittel

Am nächsten Morgen, dem ersten Montag seit Beginn des Ausfalls, würden die meisten Lebensmittelgeschäfte geschlossen bleiben. Jene, die öffneten, erhielten keinen Nachschub. Tiefkühlware war bereits verdorben oder würde es demnächst sein. Mit der Einrichtung von Ausgabestellen und Suppenküchen wurde begonnen. In Stichwörtern schrieb sie es auf. Nächstes Thema:

Medizinische Versorgung

Dieselmangel in Krankenhäusern; Personal gelangt zum Teil nicht an Arbeitsplatz, Apotheken bleiben teilweise geschlossen, anderen fehlt Nachschub; zahlreiche Arztpraxen öffnen nicht; Pflege- und Altenheime unterversorgt

Unterkunft

Notquartiere einrichten

Kommunikation

Bevölkerung über Selbsthilfe aufklären, Kanzler wird über Angriff informieren müssen (will noch nicht)

Öffentliche Ordnung

bis jetzt okay, lokale Personalengpässe, große Solidarität

Transport

Bahn räumt nach und nach Strecken von liegen gebliebenen Zügen, > Transportunternehmen verpflichten, Treibstoffreserven ausreichend; Individualverkehr auf den Straßen nicht stärker als erwartet; Zehntausende Gestrandete an Tankstellen und Flughäfen zu versorgen; Tankstellen aufrüstbar?

Geld/Finanzen

Bargeldversorgung über Bankschalter; elektronische Bezahlung funktioniert nicht

Andere Infrastrukturen

einige Industrieanlagen kritisch (besonders Chemie)

Versorger

nicht abschätzbar, Strominseln ca. 20 % des Bundesgebiets; in einigen nur wenige Stunden pro Tag Grundversorgung; AKWs mit Diesel für mind. 3 Tage versorgt > Nachschub sichern!!!

International

erste Abstimmungen (EU, NATO, UNO, bilateral); Probleme im AKW Saint-Laurent (F), Temelín (CZ), div. Fabriken