Berlin
»Weiterhin kein Strom in rund siebzig Prozent des Bundesgebiets«, berichtete Brockhorst vom GMLZ auf dem Bildschirm.
Michelsen fühlte sich, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Der Telefonwecker hatte sie aus einem Zustand geholt, der mehr einer Bewusstlosigkeit glich als Schlaf. Ihre Wohnung lag offensichtlich nicht in einem der wenigen versorgten Gebiete. Kurz hatte sie überlegt, ob sie ihre Notdurft bis ins Büro aufschieben konnte. Sie konnte nicht. Das bedeutete einen frühmorgendlichen Toilettengang, nach dem sie nicht spülen konnte. Angeekelt und verzweifelt hatte sie mehrmals den Spülknopf betätigt, in der unsinnigen Hoffnung, dass doch ein Rinnsal ihre Ausscheidungen in die Kanalisation befördern würde. Umsonst. Ihre Morgenhygiene hatte statt der üblichen heißen Dusche in einem weiteren Wischdurchgang mit Erfrischungstüchern bestanden. Ein Dutzend hatte sie vielleicht noch. Neue würde sie vorerst kaum bekommen, das war ihr bewusst. Solange der Strom wegblieb, würden kaum Super- oder Drogeriemärkte ihre Tore öffnen.
»Und keine Besserung in Sicht«, bemerkte ein Kollege.
»Womit wir dem Katastrophenfall einen großen Schritt näher kommen«, sagte Michelsen.
Im Lagezentrum des Innenministeriums herrschte unverändert hektisches Treiben. Immerhin war es warm. Und die Toiletten funktionierten. Und das Licht in den Sanitäranlagen, wo sie sich ordentlich schminken und frisieren und irgendwann auch duschen konnte. Wahrscheinlich war deshalb auch der Staatssekretär schon wieder da.
»Was machen diese Schwachköpfe in den Energieunternehmen?«, schimpfte eine Kollegin aus der Abteilung Öffentliche Sicherheit. »Warum bekommen die das nicht hin?«
»Den Katastrophenfall werden die Ministerpräsidenten nicht so schnell ausrufen«, belehrte sie Staatssekretär Rhess.
Den Katastrophenfall auszurufen war in Deutschland Ländersache. Zuständig war ein Hauptverwaltungsbeamter, üblicherweise der Landrat. In der Praxis hatte natürlich der jeweilige Ministerpräsident das letzte Wort.
»Die Herren Ministerpräsidenten sollten mal versuchen, in meiner Wohnung auf die Toilette zu gehen«, sagte Michelsen. »Oder in dreißig Millionen anderen deutschen Haushalten. Stellt euch nur einmal vor, was passiert, wenn dort einen weiteren Tag nicht gespült werden kann. Vielleicht bei einer vierköpfigen Familie.«
»Das stinkt buchstäblich zum Himmel«, flachste die Kollegin.
»Und wird sehr schnell ein hygienisches Risiko. Spätestens ab morgen früh müssten wir beginnen, Hochhäuser ohne Wasserversorgung wegen Seuchengefahr zu evakuieren und Millionen von Menschen in Notquartieren unterzubringen. Die bis dahin bereitstehen müssen. Und das ist nur eine von vielen gewaltigen Maßnahmen, die wir in kürzester Zeit stemmen müssten. Wie sollen wir das ohne Katastrophenfall denn organisieren? Wir brauchen die Staatspolizei und vor allem das Militär zur Unterstützung. Die Hilfsdienste rotieren doch jetzt schon. Denen können wir nicht noch mehr aufbürden. Außerdem«, sie musste Luft holen, um sich zu beruhigen, »haben wir noch ein ganz anderes Problem. Sowohl in unseren Übungen als auch in vergangenen Ernstfällen waren nur einzelne Regionen des Bundesgebiets betroffen. Denken wir an die Oderflut oder, um beim Strom zu bleiben, an den Ausfall im Münsterland. In allen Fällen konnten ausreichend Hilfskräfte und Material aus anderen Teilen Deutschlands herbeigeschafft werden. Ich weiß nicht, ob allen hier klar ist, dass das in der herrschenden Situation nicht möglich sein wird. Das hier ist eine bundesweite Notsituation! Berlin wird keine Hilfe aus Brandenburg bekommen, Baden-Württemberg nicht aus Bayern. Natürlich haben wir das EUMIC schon informiert, wenn auch noch keinen Hilferuf ausgesandt. Aber selbst wenn wir das tun, gehe ich jede Wette ein, dass die bald in Ansuchen aus ganz Europa ertrinken, wenn die Lage anhält. Fürs Protokoll: Ich plädiere dafür, dass vonseiten des Herrn Ministers den Ländern die Ausrufung des Katastrophenfalls nahegelegt wird. Und zwar schnell.«
Staatssekretär Rhess sah sie an, als hätte sie ihm ein Glas Rotwein über das frische Hemd geschüttet.
»Ich habe vor ein paar Minuten mit einigen Verantwortlichen unserer größten Energiedienstleister telefoniert«, erklärte er mit maliziösem Lächeln. »Sie sind zuversichtlich, im Lauf des Vormittags weitestgehend wieder normale Zustände hergestellt zu haben.«
Michelsens Kopf dröhnte, als hätte er ihr Ohrfeigen verpasst. Warum sagte er das nicht, bevor sie ihre Tirade losließ? Die Art provozierte sie.
»Und wer sagt, dass wir uns darauf verlassen können? Dergleichen hören wir jetzt seit zwölf Stunden. Ohne nennenswerte Ergebnisse zu sehen. Ist Ihnen bewusst, dass viele Krankenhäuser in diesem Land Notstromsysteme für vierundzwanzig bis zweiundsiebzig Stunden haben? Dass für einige also bereits die Hälfte der Zeit abgelaufen ist? Schon währenddessen werden viele der üblichen Leistungen zurückgefahren. Was meinen Sie, ist erst in ein paar Stunden auf den Frühgeborenen- oder Intensivstationen los?«
Sie klatschte mit den Händen. »Zack! Aus. Erzählen Sie das Ihren Verantwortlichen auch.«
Sie musste sich beruhigen. Ihre Aufregung rief nur Widerstand hervor. Der Staatssekretär hasste Gefühlsausbrüche.
»Haben Sie auch so etwas gehört, Brockhorst?«, fragte sie in Richtung des Computers, von wo der Mann aus dem GMLZ die Diskussion verfolgt hatte.
»Äh …«
Michelsen wurde sich bewusst, dass sie ihn mit ihrer Frage in eine unangenehme Lage gebracht hatte. Besonders, wenn er die Angaben des Staatssekretärs nicht bestätigen konnte.
»Vergessen Sie es.« Sie schloss für einen Moment die Augen, ließ alle Gedanken davonziehen wie Wolken. Gelassener wandte sie sich an den Staatssekretär: »Ich hoffe, die Verantwortlichen halten Wort.«
Paris
»Wir haben tonnenweise Material«, verkündete Turner, als er die Tür zur Redaktion aufriss, verstummte jedoch, als er in der Dunkelheit nur ein paar Bildschirme und Kerzen leuchten sah. »Was ist denn hier los?«
»Weshalb waren wir denn die ganze Nacht unterwegs?«, fragte ihn Shannon spöttisch. »Stromausfall. Wie es aussieht, haben wir hier kein Notstromsystem.«
»Stimmt«, erklärte Eric Laplante. Sein Gesicht leuchtete blau im Licht eines Laptopmonitors. »Nur die tragbaren Computer, deren Akkus voll genug waren, funktionieren noch. Ich kümmere mich gerade um Ersatz.«
»Na toll«, stellte Turner fest. »Wir haben Stunden von Material und können es nicht verwenden?«
»Schneiden können wir auf den Laptops«, wandte Shannon ein. »Einige haben die passende Software. Das größere Problem wird wahrscheinlich die Datenübertragung, oder, Eric?«
»Das Internet funktioniert zwar«, erwiderte Laplante, »aber wir mussten auf Satellitenverbindung umsteigen, da unsere Server und Router natürlich auch ohne Strom nicht laufen. Dadurch haben wir nur eine relativ dünne Leitung.«
»Aber wir können immerhin einen Beitrag online stellen«, sagte Shannon.
»Was habt ihr denn?«, fragte Laplante.
»Befreiung aus dem Lift durch die Feuerwehr, Menschen, die in der U-Bahn festsaßen, Szenen am Gare du Nord, wo alle Anzeigen, die Ticketschalter, der Strom in den Shops und die meisten Züge ausfielen, ein paar Autounfälle, den Oberkommandierenden der Feuerwehr, Chaos in und vor Supermärkten und Einkaufszentren.«
Shannon steckte die Kamera an einen Computer, um die Daten zu übertragen.
»Wir durften sogar zu Leuten in die Wohnungen, bei denen weder Licht noch Heizung oder Toiletten funktionieren. Aber wir haben auch positive Szenen: ein Krankenhaus, dessen Notstromversorgung problemlos läuft, Menschen, die sich gegenseitig helfen, die anderen Lebensmittel oder Wasser leihen oder alten Leuten den Einkauf die Treppen hochtragen, weil der Fahrstuhl außer Betrieb ist.«
Turner ließ die ersten Aufnahmen bereits über den Bildschirm laufen.
»Die da brauchen wir«, erklärte er bei einer U-Bahn-Szene.
Nur weil du die ganze Zeit im Bild bist, dachte Shannon. Sie spulte zu den Aufnahmen beim Innenministerium vor. Als der Wagen vorbeifuhr, hielt sie an. Hinter den abgedunkelten Scheiben war schemenhaft ein Gesicht zu erkennen. Sie aktivierte ein paar Filter, die Konturen wurden schärfer, die Kontraste härter.
»Das Gesicht kenne ich doch …«, murmelte Turner.
Kennst aber den Namen dazu nicht, dachte Shannon.
»Das ist Louis Oiseau, Chef der Électricité de France, persönlich«, erklärte sie.
»Weiß ich doch«, blaffte Turner sie an.
»Das ist eine wunderbare Introszene«, bemerkte Shannon. »Stromboss auf geheimer Mission unterwegs ins Innenministerium.«
Turner verschwand in der Szene hinter einem Wirbel aus Schneeflocken.
»Nee«, meinte er. »Das interessiert doch keinen.«
»Das würde ich nicht sagen«, warf Laplante ein. »Immerhin liegt das halbe Land im Dunklen. Und andere Staaten dürften auch betroffen sein. Noch ist die Nachrichtenlage unklar.«
»Genau!«, rief Shannon. »Und dann steigen wir mit der Ministeriumsszene aus. Zuerst die menschlichen Dramen und am Schluss die Frage: Kommt alles noch schlimmer?«
»Lauren, bitte«, stöhnte Turner. »Du bist hier die Kamerafrau. Wir sind die Journalisten und Redakteure.«
Ohne mich wärst du verloren, dachte Shannon. Sie biss die Zähne zusammen und sagte nichts.
Mailand
»Was genau wollen Sie denn nun anzeigen?« Der Uniformierte hinter seinem kugelsicheren Glas hatte dicke Ringe unter den Augen. Im Empfangsraum der Polizeistation stank es nach kaltem Kohl und Urin. Hinter ihm warteten bereits zwei andere Personen. Durch die kleinen Löcher in der Scheibe erklärte Manzano ihm noch einmal die Geschichte mit dem Code. Auf der Ablage vor sich hatte er seinen Laptop abgestellt.
»Und wen wollen Sie anzeigen?«
»Unbekannt. Das ist jetzt nicht so wichtig, viel wichtiger ist vorerst, dass Sie einen der Energieversorger informieren. Sie kommen da sicher leichter durch als ich.«
»Ein Verdacht also.« Der Mann sah ihn an, als würde er ihn am liebsten mit einem Tritt hinausbefördern. »Und deshalb soll ich bei Enel anrufen?« Er brüllte los: »Herrschaften, haben Sie nichts Besseres zu tun? Ist Ihnen klar, was da draußen los ist? Die Kollegen schieben alle Überstunden, versuchen, das Verkehrschaos zu entwirren, Einbrecher davon abzuhalten, die Situation auszunutzen, Ordnung auf Bahnhöfen zu schaffen. Wir frieren hier selber, und ich soll einer Verschwörungstheorie nachgehen? Wissen Sie, wie viele Verrückte ich in der vergangenen Nacht hier hatte, die alle wussten, warum der Strom ausgefallen ist? Einer macht Außerirdische dafür verantwortlich, andere die Chinesen, Russen, Amerikaner, Terroristen, Freimaurer, sogar die Regierung, ungewöhnliche Planetenkonstellationen oder überhaupt das nahende Ende! Warum also sollte ich Ihren Quatsch glauben?«
Als der Mann zu schreien begonnen hatte, war Manzano zuerst erschrocken, doch inzwischen wuchs in ihm der Zorn. Mit vernünftigen Argumenten kam er bei dem Kerl nicht weiter. Als der Polizist Luft holte, antwortete er sehr laut und bestimmt: »Aus einem einfachen Grund. Weil ich meine Anzeige jetzt noch einmal vortragen werde und diesmal mitfilme. Damit es einen Verantwortlichen dafür gibt, wenn später gefragt wird, warum die Polizei nichts unternommen hat, obwohl sie informiert war.«
Er zückte sein Mobiltelefon, drückte auf Filmaufnahme und erklärte abermals in wenigen Sätzen, was er entdeckt hatte, nannte Datum, Uhrzeit und Ort. Dann schwenkte er das Gerät auf den Beamten und fragte: »Ihr Name, bitte?«
Der Polizist starrte ihn entgeistert an. Endlich presste er einen Namen hervor.
»Danke.« Manzano schaltete das Gerät ab. »Können wir jetzt weitermachen?«
Hinter sich hörte er Murren. Er ignorierte es. Da bellte eine Männerstimme: »Haben Sie wirklich nichts Wichtigeres zu tun? Mein Wagen ist gestohlen worden!«
Manzano wandte sich dem Krakeeler zu. Ein großer Mann in braunem Mantel, über dessen Kragen fettige Haare hingen.
»Darum soll sich die Polizei kümmern!«, erklärte er mit rauchiger Stimme. »Verschonen Sie den Carabiniere mit Ihrem Unsinn!«
Manzano ließ sich nicht einschüchtern, obwohl der andere sicher doppelt so schwer war wie er.
»Sie wollen also auch dafür verantwortlich sein, wenn die Ursache des Stromausfalls nicht möglichst schnell behoben wird.«
Bevor sein Gegenüber eine Antwort gab, spürte Manzano, wie ihn jemand an den Armen packte und sein Handy aus der Hand riss.
»Dann wollen wir doch einmal sehen«, hörte er hinter sich die Stimme des Polizisten aus der Empfangskabine sagen. Manzano wehrte sich, wollte sich umdrehen, doch ein zweiter Beamter hielt ihn fest. Die beiden mussten aus der Kabine herausgetreten sein, als er von dem Wartenden im braunen Mantel abgelenkt worden war.
»Lassen Sie mich los!«
»Vorsicht! Sonst nehme ich Sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt fest.«
Manzano brachte seine Wut unter Kontrolle. Hilflos musste er zusehen, wie der Carabiniere auf seinem Telefon herumtippte.
»So«, erklärte dieser schließlich zufrieden. »Da haben Sie Ihr Telefon wieder. Womöglich sind ein paar Daten verloren gegangen, aber besser nur die als das ganze Telefon, nicht wahr? Alfredo, ich glaube, wir können den Herrn jetzt gehen lassen.«
Manzano dachte kurz über eine angemessene Reaktion nach, besann sich eines Besseren, nahm das Handy entgegen, klemmte seinen Laptop unter den Arm und verließ ohne ein weiteres Wort die Polizeistation.
Auf der Straße hatte der Morgenverkehr eingesetzt. Noch immer zitternd vor Empörung stürmte Manzano den Bürgersteig entlang auf der Suche nach einem Taxi. Zwei Straßen weiter konnte er schließlich eines herbeiwinken.
Kaum war Manzano eingestiegen und hatte ihm die Adresse von Enel genannt, schimpfte der Mann los. Weil die öffentlichen Verkehrsmittel stillstanden, waren alle Straßen in der Stadt verstopft.
»Ist doch gut für Sie«, erwiderte Manzano. »Heute braucht jeder ohne Auto ein Taxi.«
»Aber sehen Sie sich den Verkehr an! Ich komme ja kaum weiter. Mehr Fahrten als sonst mache ich da auch nicht. Und den Preis erhöhen darf ich nicht. Obwohl ich schon von Kollegen gehört habe, die unsere Situation skrupellos ausnutzen und doppelte Tarife verlangen. Enel«, besann er sich auf Manzanos Wunsch. »Arbeiten Sie dort?«
»Nein.«
»Schade. Ich hatte schon gehofft, Sie könnten mir erklären, was los ist.«
»Kann ich vielleicht auch. Die Frage ist, ob Sie es hören wollen«, antwortete Manzano mehr zu sich selbst.
»Halb Europa, das muss man sich mal vorstellen. Sie bringen es überall in den Nachrichten.« Er stellte den Mini-Fernseher lauter, den er an der Armatur montiert hatte. Ein aufgeregter Journalist brachte die neuesten Meldungen. Er erzählte vom Chaos auf Flughäfen und Bahnhöfen. Dazu Bilder überfüllter Wartesäle. Auf dem ganzen Kontinent waren Hunderttausende Reisende gestrandet. Behörden, Schulen, Banken und viele Geschäfte blieben geschlossen. Schulkinder freuten sich, gewannen der Sache auch positive Seiten ab.
»Wahnsinn, nicht?«, meinte der Fahrer. »Wie 2003.« Er lachte. »Wenigstens kennen wir das schon, wie das ist, und wissen uns zu helfen.«
Hoffentlich tun wir das, dachte Manzano und verdrängte die Erinnerung an den Vorfall auf der Polizeiwache.
Draußen zogen die Fassaden an Manzano vorbei wie Kulissen. Düstere Auslagen. Dunkle Hauseingänge. Matte Fenster. Das Leben schien aus ihnen gewichen. Trotz der Menschen wirkte Mailand wie eine Geisterstadt.
Manzano hatte den Radiosprecher fast ausgeblendet, als er eine Bemerkung aufschnappte, die seine volle Aufmerksamkeit zurückgewann.
»Stellen Sie lauter«, bat er den Fahrer.
»… so nahm der Ausfall Europa praktisch von Norden und Süden in die Zange …«
Auf dem kleinen Bildschirm war eine Europakarte zu sehen, Italien und Schweden dunkel eingefärbt, dann, nach und nach, die übrigen Länder.
»Hat der eben erklärt, dass die Ausfälle in Italien und Schweden begonnen haben?«, fragte Manzano den Fahrer.
»Ja. Weshalb?«
Manzano lief ein Schauer den Rücken hinab. Er versuchte, die auf ihn einstürzenden Gedanken abzublocken.
»Weil Schweden und Italien als einzige Länder in Europa bereits mehr oder minder flächendeckend die sogenannten intelligenten Stromzähler einsetzen.«
Dort hatten die Blackouts ihren Ausgang genommen. Die Gänsehaut auf seinem Rücken schmerzte geradezu. Manzano spürte eine Panik aufsteigen, die er nicht kontrollieren konnte.
»Ja und?«, fragte der Fahrer.
Manzanos Verdacht, der ihn sofort beim Entdecken des Codes befallen hatte, wurde ihm zur Gewissheit. Jemand hatte das italienische und schwedische Energienetz übernommen und womöglich weite Teile des europäischen. In einer beispiellosen Aktion hatte dieser Jemand den Kontinent buchstäblich ausgeschaltet. Immer wieder hatten Fachleute solche Szenarien diskutiert, wenn auch nie in diesem Ausmaß. Schon die kurzfristigen Schäden gingen in die Milliarden. Auf keinen Fall durfte dieser Zustand länger andauern. Bereits nach wenigen Tagen würde Chaos herrschen und binnen einer weiteren Woche in blanke Anarchie übergehen. Kaum jemand hatte gedacht, dass es möglich wäre. Sie hatten sich getäuscht. Zum Glück wusste ich bei der Polizei noch nichts davon, dachte er. Die Idioten hätten mich gleich für verrückt erklärt und eingewiesen. Dasselbe würde der Taxifahrer denken, wenn ich ihm erzähle, was ich glaube. Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich fantasiere, dachte er. Es ist nur ein Stromausfall. Hat man schon erlebt. Geht vorbei. In ein paar Stunden lachen wir darüber.
Auf einmal kam er sich lächerlich vor. Was glaubte er, einem der größten Energieversorger Europas erzählen zu können? In diesem Moment hielt das Taxi vor dem Glaspalast von Enel.
Als er bezahlte, bemerkte Manzano, dass er sein letztes Bargeld ausgab.
Die Eingangstüren waren verschlossen, davor hielt eine Kette von Sicherheitsleuten Journalisten, Schaulustige und aufgebrachte Kunden zurück. Manzano zählte mindestens sieben Kamerateams, ein Dutzend Fotografen und viele Menschen, die er nicht zuordnen konnte.
Manzano zwängte sich durch die Menge hindurch und erklärte einem der schwarz gekleideten Sicherheitsmänner, dass er hineinmüsste. Hinter ihm, in der Empfangshalle, strahlten nur ein paar Spots über dem Tresen, an dem zwei Frauen telefonierten und ein Mann auf einen Bildschirm starrte.
»Heute wird niemand eingelassen.«
Geduldig trug Manzano erneut seine Entdeckung vor und bat, mit einem Verantwortlichen sprechen zu dürfen. Von hinten drängten Journalisten heran, interessierten sich allerdings nicht für Manzano. Der Mann wandte sich ab und flüsterte in sein Headset.
Manzano holte tief Luft und ging einfach an ihm vorbei. Bevor er die Tür erreicht hatte, stand bereits ein anderer Sicherheitsmann vor ihm, der erste zischte Befehle in sein Mikrofon. Manzano ließ sich nicht beirren. Immerhin hatte er jetzt nicht mehr die Reporter im Rücken.
»Hören Sie«, schnauzte er sein Gegenüber an. »Ich weiß, was diesen ganzen Schlamassel hier ausgelöst hat. Und das muss ich den Herrschaften da drinnen mitteilen. Wie wollen Sie Ihren Vorgesetzten später erklären, dass Sie mich daran gehindert haben? Und glauben Sie mir, Sie werden es erklären müssen!«
Der Sicherheitsmann tauschte unschlüssige Blicke mit seinem Kollegen, dann redete er in sein Mikro, ohne Manzano aus den Augen zu verlieren. Manzano musterte ihn mit ernstem Gesicht.
Endlich: »Kommen Sie mit.«
Manzano folgte dem Mann zu dem lang geschwungenen Empfangstresen, hinter dem die drei Angestellten ziemlich verloren wirkten. Eine der Damen begrüßte sie mit verkniffenem Gesicht.
»Warten Sie bitte hier. Es kommt gleich jemand.«
Manzano hatte Verständnis für die Sicherheitsvorkehrungen des Unternehmens, aber keinerlei Geduld mehr. Würden diese Menschen ahnen, was er vermutete und was sie in den nächsten Tagen womöglich erwartete, sie hätten ihn im Eiltempo vorgelassen. Er setzte sich in einen der Designersessel, aber je länger er in der Halle wartete, desto kleiner kam er sich mit seiner Idee vor.
Zwanzig Minuten später wollte er schon wieder gehen, da erschien ein Nachwuchsmanager wie aus dem Bilderbuch: jung, groß, smart, tadellos frisiert, auch heute in Schlips und Anzug. Nur die Ringe unter den Augen verrieten, dass er in der vergangenen Nacht noch weniger Schlaf als gewöhnlich gefunden hatte. Er stellte sich als Mario Curazzo vor. Übergangslos erklärte er: »Woher weiß ich, dass Sie kein Journalist sind?«
»Weil ich weder Kamera noch Aufnahmegerät bei mir habe. Und im Übrigen will ich von Ihnen auch gar nichts wissen, sondern Ihnen etwas mitteilen.«
»Letzteres klingt durchaus wie ein Journalist. Wenn Sie mir meine Zeit stehlen, werfe ich Sie eigenhändig raus.«
Dass er dazu in der Lage war, glaubte Manzano sofort. Curazzo war noch einen Kopf größer als er und wirkte sehr gut trainiert.
»Sagt Ihnen KL 956739 etwas?«, fragte Manzano.
Curazzo starrte ihn ausdruckslos an. Dann antwortete er: »Ein Code für die Stromzähler, der bei uns nicht zum Einsatz kommt.«
Jetzt war es an Manzano, überrascht zu sein. Entweder war das Thema Curazzos Spezialgebiet, oder der Mann war richtig gut. Oder sie wussten bereits Bescheid.
»Warum stand er dann heute Nacht auf meinem Zähler?«
Wieder der nichtssagende, durchdringende Blick. Manzano überlegte, ob er auch erzählen sollte, dass er das Smart Meter gehackt und den Code deaktiviert hatte. Immerhin hatte er sich damit vermutlich strafbar gemacht. Doch sein Programmiererstolz war stärker. Er schilderte die Ereignisse der vergangenen Nacht in kurzen Worten.
Curazzo hörte mit versteinerter Miene zu, sagte jedoch schließlich: »Kommen Sie mit.«
Er führte ihn durch menschenleere Glasflure.
»Haben Sie noch keine Meldungen darüber erhalten?«, fragte Manzano.
»Das können uns die Zuständigen sagen«, erwiderte Curazzo kurz angebunden.
Sie erreichten einen riesigen Raum, dessen eine Wand von gigantischen Bildschirmen bedeckt war. Davor saßen an kreisförmig angeordneten Tischen Dutzende Menschen vor zahllosen Computermonitoren. Manzano fühlte sich an die Brücke eines Raumschiffs in Fernsehserien erinnert. Die meisten Anwesenden hatten nicht viel geschlafen, wie er an den roten Augen, unrasierten Gesichtern und zerzausten Frisuren erkennen konnte. Im Gegensatz zu seinem Begleiter hatten sie ihre Jacketts abgelegt und saßen mit aufgerollten Hemdsärmeln da. Die Luft roch ranzig. Eine Geräuschkulisse aus zahlreichen Gesprächen erfüllte den Raum.
»Die Leitstelle«, erklärte Curazzo.
Er führte ihn zu einer Gruppe, die über einen Tisch gebeugt dastand. Als Manzano vorgestellt wurde, sah er in ausgelaugte Gesichter. Curazzo erläuterte, warum er ihn hergebracht hatte. Die Runde schien nicht sonderlich beeindruckt. Ein weiteres Mal wiederholte Manzano seine Geschichte.
Ein älterer Mann mit offenem obersten Hemdknopf und loser Krawatte fragte: »Und als Sie aufwachten, war der Strom wieder weg. Sind Sie sicher, dass Sie das alles nicht nur geträumt haben?«
Ein Namensschild an seiner Brust wies ihn als L. Troppano aus.
Manzano spürte, wie er rot anlief.
»Hundertprozentig sicher. Haben Sie bislang keine derartigen Meldungen bekommen?«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Kann der Code versehentlich aktiviert worden sein?«
»Nein.«
»In den Nachrichten habe ich gehört, dass die Ausfälle in Italien und Schweden begonnen haben. Stimmt das?«
»Sie gehörten zu den ersten, ja.«
»Jene beiden Länder, die praktisch schon vollständig mit Smart Metern ausgestattet sind. Ein seltsamer Zufall, finden Sie nicht?«
»Sie glauben, die Zähler wurden manipuliert?«, fragte einer mit Schnurrbart und Fönfrisur. Auf dem Schild an seiner Brust las Manzano den Namen U. Parigi.
»Ich konnte es. Warum sollte jemand anders es nicht können?«
»Dutzende Millionen in ganz Italien?«
Über einen Hack des Stromsystems hatte sich Manzano noch nie ernsthaft den Kopf zerbrochen. Aber wenn er in einen Zähler kam, gelangte man wahrscheinlich auch in die anderen. Mit einem Virus oder einem Wurm.
»Das Problem sind doch nicht die Zähler«, erklärte Troppano. Dabei wandte er sich an die anderen, wie um sie an etwas zu erinnern, das bereits diskutiert worden war. »Wir haben Netzinstabilitäten, die wir einfach wieder in den Griff bekommen müssen.« Zu Manzano sagte er: »Danke, dass Sie sich zu uns bemüht haben. Herr Curazzo begleitet Sie hinaus.«
Manzano setzte zu einer Antwort an, als Curazzo ihn dezent am Ellenbogen fasste.
Auf dem Weg zum Ausgang redete Manzano auf Curazzo ein, die Zähler zu überprüfen und ihre Erkenntnisse mit anderen Unternehmen zu teilen. Er konnte nur hoffen, ein Korn des Zweifels gesät zu haben, das in den nächsten Stunden aufgehen würde. Viel Hoffnung machte er sich nicht. Am Empfang bat er, ein Taxi rufen zu lassen, das er mit Kredit- oder Bankkarte zahlen konnte.
»Bekommen Sie momentan keines«, erklärte die Empfangsdame.
Manzano, müde nach der kurzen Nacht und verärgert über seine erfolglosen Überzeugungsversuche, überschlug im Geist, wie lange er zu Fuß nach Hause brauchen würde. Doch er war zu stolz, Curazzo um Fahrgeld anzupumpen.
Von draußen hörte er leise das Rufen der Journalisten. Das brachte ihn auf eine Idee. Er schüttelte Curazzo die Hand und schlenderte zum Ausgang.
So musste sich also ein Filmstar auf dem roten Teppich fühlen, dachte Manzano, als er auf die Kameras zuspazierte. Na ja, bei einem Independent-Festival vielleicht, gemessen an der überschaubaren Zahl der Reporter. Auch gab es kein Blitzlichtgewitter. Aber einige riefen ihm doch etwas zu.
»Was ist los?«
»Wann bekommen wir wieder Strom?«
»Wann gibt der Vorstand eine Erklärung ab?«
»Arbeiten Sie hier?«
Die letzte Frage kam von einer jungen Frau, von der er nicht sehr viel mehr sah als den unförmigen Steppmantel, dessen fellbesetzte Kapuze und eine große Brille.
Manzano hatte keinerlei Erfahrung im Umgang mit den Medien. Er war nicht scheu, suchte aber auch nicht den Trubel großer Menschenansammlungen. Doch wenn er seine Botschaft loswerden wollte, musste er sich an möglichst viele wenden. »Wie vielen von Ihnen ist heute Nacht aufgefallen, dass der Strom kurzfristig wieder zurückkehrte?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort und begann, inzwischen bereits routiniert, seine Entdeckung am Stromzähler in seiner Wohnung zu erzählen. Er hatte kaum drei Sätze gesagt, als die Kameras und Gesichter sich von ihm abwandten. Verwirrt hielt er inne und sah sich um. Hinter ihm war Mario Curazzo aus dem Gebäude getreten und winkte die Medienvertreter näher.
»Sehr geehrte Damen und Herren«, verkündete er. »Der Vorstand wird in einer Stunde eine Pressekonferenz geben. Wenn Sie sich bis dahin schon einmal bei einem Kaffee aufwärmen wollen …«
Bevor Manzano Luft geholt hatte, folgte rasch die Herde, begleitet von den Sicherheitsleuten, Curazzo in das Gebäude. Beim Hineingehen warf er ihm einen spöttischen Blick zu.
Der Wind erschien Manzano plötzlich noch eisiger. Und er wusste gar nicht genau, wo er sich befand, hatte sich auf dem Herweg gänzlich auf den Taxifahrer verlassen. Außerdem musste er auf die Toilette. Weit und breit gab es keine Bar, die geöffnet war. In welche Richtung musste er jetzt gehen, wenn er nach Hause wollte?
Bondoni starrte aus dem Wohnzimmerfenster auf die Straße. In der Wohnung war es ungewöhnlich still. Er trug einen dicken Wollpullover, darüber seinen Wintermantel. Trotzdem fror er. Er würde sich noch eine Lungenentzündung holen! Mit seinem Handy probierte er die Mobilnummer seiner Tochter. Kein Netz. Sie hatte ihm die Adresse des Quartiers in Tirol gegeben, in das sie mit Freundinnen gefahren war.
Bondoni machte sich keine ernsthaften Sorgen. Seine Tochter war eine patente Person. Das hatte sie von ihrer Mutter.
Bondonis Frau war vor drei Jahren gestorben. Er dachte nicht gern daran. Und seit einiger Zeit zum Glück auch nicht mehr ganz so oft wie früher.
Gerade wollte er sein Festnetztelefon probieren, als er ein eigenartiges Geräusch hörte. Der Kühlschrank und die Therme in der Küche waren angesprungen. Gleichzeitig wurde die Stehlampe neben seinem Fernsehsessel aktiv, die auch automatisch aufleuchtete, wenn man sie einsteckte. Aus dem Haus hörte er gedämpft Rufe des Erstaunens, der Freude. Bondoni seufzte erleichtert auf. Er lehnte sich an einen Heizkörper und wartete, dass er warm wurde. Unsinnig. Das dauerte eine Weile. Er schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Überall liefen Nachrichten über den Stromausfall. Reporter standen frierend vor dem Parlament, vor Rathäusern, Kraftwerken und Glastürmen von Energieunternehmen und berichteten mit dampfendem Atem und aufgeregter Stimme von den neuesten Entwicklungen. Grafiken wurden eingeblendet und erklärten, warum dieses oder jenes nicht funktionierte.
Bilder eines Funkmasts.
Mobilfunkstationen etwa wurden durch das Stromnetz versorgt. Fiel dieses aus, sprang eine Batterie ein. Die betrieb den Mast, je nach Unternehmen und Land, noch ein paar Stunden. Deshalb konnte mittlerweile kaum noch jemand mobil telefonieren. Außer der Strom kehrte zurück, so wie bei uns gerade, dachte Bondoni. Vielleicht habe ich deshalb meine Tochter nicht auf ihrem Handy erreicht, schloss er.
Altmodische Festnetztelefone erhielten ihre Energie direkt über die Telefonleitung, erklärte der Sprecher weiter, unterstützt von entsprechenden Bildern. Deshalb konnte man nach wie vor leidlich über das Festnetz kommunizieren, wenn man ein altes Gerät besaß und die Vermittlungsknoten stromversorgt waren. Interessant, dachte Bondoni, deshalb funktionierte das bei mir zeitweise. Aber jetzt, da der Strom zurück war, hoffentlich nicht mehr wichtig zu wissen.
Auf einem anderen Kanal erklärte eine Frau mit Pelzkragen in ihr Mikrofon, dass der europaweite Ausfall inzwischen auch bei den zuständigen EU-Stellen Aktivitäten auslöste. Bondoni musste erneut an seine Tochter denken. Vielleicht sollte er jetzt noch einmal versuchen, sie anzurufen.
»Diese Nummer ist vorübergehend nicht erreichbar.«
Ihm fiel seine Toilette ein. Er ging hinaus, holte tief Luft, bevor er die Tür öffnete und hoffte, dass die Wasserversorgung ebenfalls wieder eingesetzt hatte. In der Klomuschel schwammen noch seine morgendlichen Ausscheidungen und verbreiteten nicht gerade Rosenduft, wenn auch ein wenig gemildert durch die Kälte. Er betätigte die Spülung. Ein kurzes Röcheln, das Wasser schoss durch. Gleich darauf setzte im Spülkasten das beruhigende Geräusch nachfließenden Wassers ein.
Zufrieden drehte er sich um, als sein Blick auf den Sicherungskasten im Flur fiel. Neugierig inspizierte er ihn. Auf der Anzeige des Zählers waren Zahlen zu sehen, wie üblich. Bondoni hatte die Kästchentür schon fast geschlossen, als die Anzeige umsprang: KL 956739.
Bondoni erkannte den Code sofort wieder. Was hatte das zu bedeuten? Kurz darauf verschwand die Buchstaben- und Zahlenfolge von dem kleinen Schirm, und dieser blieb grau. Gleichzeitig wurde die Wohnung still. Die Kästchentür noch immer in der Hand, lauschte Bondoni auf das Summen der Therme, das Brummen des Kühlschranks, das Plappern des Fernsehers. Wie Phantomschmerz klangen sie in der Stille nach, obwohl er sie nicht mehr hörte. Er lief zu den Lichtschaltern, probierte, ohne Erfolg. Hoffnungsfroh wartete er darauf, dass das Leben gleich wieder in die Geräte zurückkehren würde. Als könnte er ihnen dabei helfen, ging er die ganze Wohnung ab, versuchte jeden Schalter, jeden Knopf, am Fernseher, der Kaffeemaschine. Vergeblich.
Hatte sein Nachbar, der Computercrack, das mitbekommen? Bondoni ging hinüber und drückte den Klingelknopf. Wartete. Begriff, dass die Klingel nicht funktionieren konnte. Er klopfte. Klopfte noch einmal. Konnte es sein, dass Manzano nicht daheim war? Wo wollte er hin, bei dem Wetter, ohne Auto?
Bauernhof nahe Dornbirn
Angström klopfte noch einmal an die dunkelbraune, rustikale Tür. Ihr Wagen stand zehn Meter weiter oben auf der Straße, am Ende des Zugangs zu dem Bauernhof. Terbanten und van Kaalden warteten dort. Bondoni, die ebenfalls ein wenig Deutsch beherrschte, stand neben ihr. Sie hörten Kühe muhen.
Sie hatten die Tankstelle direkt über die Personalzufahrt verlassen und beim ersten Gebäude gehalten, um nach dem Weg zum nächsten Bahnhof zu fragen.
Niemand öffnete. Wegen der Tiere waren sie sich sicher, dass der Hof bewirtschaftet sein musste. Also umrundeten sie das Haus, um im Stall nach jemandem zu suchen. Die Tür war angelehnt. Das Rufen der Kühe war jetzt so laut, dass Angström nur pro forma klopfte, bevor sie öffnete. Der Stallgeruch erfüllte sie mit einem wohligen, warmen Gefühl. Vor ihr und Bondoni erstreckte sich eine lange Stallgasse, auf deren beiden Seiten die Kühe standen. Menschen sahen sie keine.
»Hallo?«, rief Angström vorsichtig, begriff jedoch sofort, dass sie lauter werden musste, wollte sie die Tiere übertönen.
»Hallo?!«
Niemand antwortete.
Langsam gingen sie die Stallgasse entlang, um nach den Bauersleuten Ausschau zu halten.
»Warum brüllen die so?«, rief Bondoni. »Ist das normal?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Angström ebenso laut.
Endlich entdeckten sie eine gebeugte Person, die fast unter einem Kuhbauch verschwand und auf einem Schemel saß.
»Hallo! Entschuldigen Sie!«, rief Angström noch einmal.
Aus einem Männergesicht, dem man die viele Arbeit an der frischen Luft ansah, begegnete ihr ein misstrauischer Blick. Ohne aufzustehen oder seine Hände unter der Kuh hervorzuholen, sagte der Mann etwas, das Angström nicht verstand.
So gut es ihr Deutsch zuließ, stellte sie sich vor und erklärte, was sie wollte.
Das Gesicht des Mannes wurde nicht freundlicher, aber immerhin stand er jetzt auf und wischte sich die Hände an einer Art Schürze ab. Er trug Gummistiefel und einen löchrigen, oft geflickten Pullover. Hinter ihm erkannte sie einen Eimer mit Milch unter dem Kuheuter.
Wieder verstand Angström kaum, was er sagte. Mit einem Lächeln streckte sie ihm ihre Straßenkarte entgegen. Der Bauer musterte sie, dann fuhr sein Finger über den Plan. Dazu erklärte er, jetzt in verständlicherer Sprache, wie sie zum nächsten Bahnhof kamen.
»Aber ob da Züge fahren, weiß ich nicht«, fügte er hinzu. »Da fallen wohl auch viele aus.«
Angström bedankte sich, Bondoni ebenfalls. Sie wollten schon gehen, als Angström den Bauer noch fragte: »Warum brüllen die Tiere so laut?«
»Denen tun die Euter weh«, erklärte er grimmig, »ohne Strom funktioniert die Melkanlage nicht. Deswegen müssen meine Frau, ich und zwei Nachbarn alles von Hand machen. Das dauert. Wir haben über hundert Tiere. Bei vielen sind die Euter schon übervoll. Deshalb – Sie entschuldigen –, aber ich muss weitermachen.«
Angström begegnete Bondonis Blick und sah, dass ihr derselbe Gedanke durch den Kopf schoss wie ihr.
»Ist das schwierig?«
»Was?«
»Melken. Ich meine, ist es schwierig, es zu lernen?«
Der Mann schien sie abzuschätzen.
»Sie haben uns geholfen«, sagte Angström. »Vielleicht können wir auch Ihnen helfen. Draußen sind noch zwei von uns.«
»Eigentlich ist es nicht schwer«, grummelte er. Noch einmal musterte er sie von oben bis unten. Dann lachte er. »Wenn Sie es versuchen wollen …«
Mailand
Völlig durchgefroren erreichte Manzano die Via Piero della Francesca. Drei Stunden war er durch die Stadt marschiert. Er fantasierte von einer heißen Dusche. Stattdessen herrschten in seiner Wohnung vielleicht noch zehn Grad. Wenigstens vermissen meine Lebensmittel bald den Kühlschrank nicht mehr, dachte er. Den Mantel behielt er an. Missmutig stellte er fest, dass er sich nicht einmal einen Espresso zubereiten konnte. Heißer Tee blieb natürlich auch ein Wunschtraum. Er überprüfte den Sicherungskasten. Das Display des Zählers war blind. Kein Strom im Netz und daher keine Hoffnung auf eine Umprogrammierung seinerseits. Manzano fühlte sich wie ein eingesperrter Löwe, der rastlos hinter den Gitterstäben auf- und ablief, ohne etwas unternehmen zu können. Polizei, Strombetreiber und Medien glaubten ihm nicht, nahmen ihn nicht ernst oder hörten ihm gar nicht zu. Seine Kunden konnte er weder anrufen noch besuchen. Er beschloss, noch ein wenig zu recherchieren, und warf sich samt Laptop und warmer Decke aufs Sofa.
Die Internetverbindung funktionierte nicht mehr.
Er klappte den Computer zu, als es an seiner Tür klopfte.
»Und du bist dir ganz sicher?«
Manzano stand vor seinem Sicherungskasten und inspizierte die blinde Anzeige des Zählers, neben ihm Bondoni.
»Ich bin zwar alt, aber weder blöd noch blind.«
Manzano spürte wieder diesen Schauer, der ihn an diesem Tag bereits öfter überfallen hatte und der nicht von der Kälte ausgelöst wurde.
»Diese Schwachköpfe«, zischte Manzano.
»Wer?«
Manzano erzählte, wo er seit dem Morgen überall gewesen war und wer ihm alles nicht zugehört oder ihn nicht ernst genommen hatte.
»Und wieso?«
»Wieso was?«
»Wieso sollten sie dir zuhören oder dich ernst nehmen?«
»Ich bin mir sicher, dass jemand das Stromnetz manipuliert. Ich kenne mich zwar nicht so genau aus, aber für mich sieht es so aus: Jemand deaktiviert auf einen Schlag alle Zähler. Daraufhin kommt es zu einem abrupten Frequenzanstieg im Stromnetz. Eine Kettenreaktion ist die Folge, bis gar nichts mehr geht. Dann versuchen die Stromgesellschaften, die Netze wieder einzuschalten. Das gelingt ihnen auch. Doch kaum fließt der Strom, beginnt unser unbekannter Saboteur von Neuem. Und die Stromgesellschaften wissen nicht einmal, warum der Saft wieder weg ist.«
»Weil sie nicht auf dich hören wollen.«
»Genau.«
»Weil deine Theorie natürlich verdammt hirnverbrannt klingt.« Bevor Manzano etwas erwidern konnte, hob Bondoni abwehrend die Hände. »Ich glaube dir ja! Aber du musst zugeben …«
»Weiß ich doch. Aber was soll ich machen? An wen soll ich mich jetzt noch wenden?«
»Tja, wenn dir in Italien niemand zuhören will, musst du es woanders versuchen.«
»Fabelhafte Idee«, höhnte Manzano. »Und wer schwebt dir da so vor? Der amerikanische Präsident?«
»Die Europäische Union.«
»Wunderbar! Klingt richtig Erfolg versprechend.«
»Jetzt hör mir doch mal zu, statt dich über mich lustig zu machen! Denk nach! Wer arbeitet bei dem Verein?«
Langsam dämmerte es Manzano, worauf Bondoni hinauswollte.
»Deine Tochter. Und worauf warten wir dann noch?«
Bondoni machte ein gequältes Gesicht.
»Lara ist zum Skifahren in Österreich.«
»Hast du erzählt. Dann rufen wir sie dort an.«
»Habe ich schon versucht.«
»Und sie nicht erreicht. Toll! Sind wir also genauso weit wie vorher.«
»Ich probiere es gleich noch einmal«, erklärte Bondoni.
Manzano erinnerte sich, dass sein Nachbar noch einen altmodischen Festnetztelefonanschluss besaß. Oft genug hatte er ihn dafür belächelt, jetzt nicht mehr.
Gemeinsam gingen sie hinüber. Bondoni erreichte seine Tochter nicht, die Leitung blieb tot. Ausdruckslos starrte er Manzano an.
»Vielleicht ist sie auf der Piste«, sagte Manzano.
»Oder noch unterwegs.«
»Oder gar nicht losgefahren. Hat sie in Brüssel einen Festnetzanschluss?«
»Schon versucht. Auch im Büro. Dort ist sie nicht.«
»Wohin, sagtest du, wollte sie?«
»Tirol. Ischgl. Sie hat mir die Adresse durchgegeben. Für alle Fälle.«
»Da war ich schon einmal.« Er dachte nach. »Hast du noch ein paar dieser Reservekanister, die du immer auffüllst, wenn der Benzinpreis niedrig ist?«, fragte er.
Zwischen Bondonis Augenbrauen senkte sich eine Furche. »Wieso?«
»Ja oder nein?«
»Ja.«
»Und der Tank von deinem Fiat ist einigermaßen voll?«
»Ich denke. Aber …« Bondoni begriff. Aufgeregt begann er mit dem Finger zu wackeln, als würde er einem kleinen Kind einen bösen Streich verbieten. »Nein. Nein. Sicher nicht. Du spinnst!«
»Hast du eine bessere Idee?« Er grinste Bondoni an. »Oder etwas Besseres zu tun? Wir brauchen vier, fünf Stunden. Und«, er zupfte an Bondonis Mantelkragen, »das Auto kannst du heizen.«
Bauernhof nahe Dornbirn
»Ah, ist das herrlich!« Terbanten presste sich gegen den Kachelofen in der Bauernstube. Angström saß mit den anderen an dem großen, alten Tisch und aß, was die Bäuerin auf den Tisch gestellt hatte. Schwarzbrot, Butter, Käse, Speck. Dazu ein Glas frischer Milch. Alle griffen tüchtig zu, nur van Kaalden ließ die noch kuhwarme Milch stehen, fiel Angström auf. Sie selbst hatte Mühe, das Glas zu halten. Ihre Unterarme fühlten sich so steinhart an wie früher, wenn sie zu lange ohne Trapez auf dem Windsurfbrett unterwegs gewesen war. Sie unterhielten sich mit den Bewohnern des Hauses und deren Helfern, amüsierten sich mit ihnen über ihre Ungeschicklichkeit beim Melken, die der Bauer mit seinen klobigen Fingern nachahmte, wobei er Tränen lachte, und überlegten, wie sie weiterkommen sollten. Als der Nachbar des Bauern verstand, dass sie nicht mehr genug Benzin hatten, um ihr Ziel zu erreichen, fragte er: »Wie weit ist es denn noch?«
»Vielleicht eine Stunde, etwa sechzig Kilometer.«
Er musste etwas älter sein als der Hausherr, Gesicht und Hände wiesen ihn ebenfalls eindeutig als Bauern aus.
»Zehn Liter müssten bei eurem Auto genügen« – er hatte sie von Anfang an geduzt –, »mein Tank ist voll. Da kann ich euch etwas abgeben.«
Angström übersetzte für die anderen und nickte ihm gleich darauf freudig zu.
»Sehr gern! Wir bezahlen natürlich.«
»Davon bin ich ausgegangen«, erklärte der Mann, ohne eine Miene zu verziehen. »Vier Euro pro Liter.«
Angström schluckte. Das war mehr als doppelt so viel wie üblich. Sie tauschte einen Blick mit Bondoni. Sie dachten dasselbe. Jetzt nicht aufregen. Nachfrage und Angebot haben nichts mit Gerechtigkeit oder Fairness zu tun. Hauptsache, sie bekamen Benzin.
Sie beendeten ihr Essen, bedankten sich noch einmal beim Bauer. Dieser drängte ihnen eine Wegzehrung auf, bestehend aus vier noch lauwarmen Flaschen selbst gemolkener Milch, einem Laib Brot, Butter und einem ordentlichen Stück Hausspeck.
Der Nachbar stand bereits mit seinem Lieferwagen hinter dem Citroën. Über einen Schlauch im Tankstutzen zapfte er Treibstoff in einen Kanister. Damit füllte er den Tank ihres Fahrzeugs. Angström zahlte, dankte ihm noch einmal. Zehn Minuten später waren sie wieder auf der Autobahn.
»Ein Bad! Ein Königreich für ein Bad!«, rief van Kaalden und schnupperte an ihren Armen, als könnte sie so den Stallgeruch wegsaugen.
Ybbs-Persenbeug
Ruhig und unaufhaltsam bahnte sich die Donau ihren Weg durch die Landschaft. Weiß ruhten die Felder zu beiden Seiten, darauf standen Höfe und blattlose Baumgerippe unter einem farblosen Himmel. Die Staumauer des Kraftwerks ist nur eine Illusion menschlicher Macht, dachte Oberstätter. Wir können den Fluss bremsen, stauen, aber nicht stoppen. Auch nicht wirklich kontrollieren, wie die Hochwasser der vergangenen Jahre gezeigt hatten.
Es hatte aufgehört zu schneien. Oberstätters Blick folgte den Verwirbelungen des Wassers, während er noch einen Zug von seiner Zigarette nahm und an die letzten vierundzwanzig Stunden dachte. Er war nicht mehr nach Hause zurückgekehrt, obwohl irgendwann das Team der Nachtschicht gekommen war. Zwischendurch hatten sie kurz auf Notpritschen geschlafen. Laufend hatten sie versucht, das Kraftwerk erneut zu starten. Immer wieder hatten Fehlermeldungen die Inbetriebnahme verhindert. Jedes Mal musste ein Trupp ausrücken, um das beanstandete Element zu kontrollieren. Nie hatten sie ein Problem gefunden. Die Technik schien in Ordnung. Aber was hieß das schon? Wenn die Software einen Fehler anzeigte, mussten sie kontrollieren.
Versuche zur automatischen Steuerung von Kraftwerken gab es bereits seit den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Durchbruch gelang jedoch erst mit dem Fortschritt der Computertechnik in den Sechzigerjahren. Seither hatten die Rechner mehr und mehr Aufgaben übertragen bekommen. Ohne sie wäre modernes Kraftwerksmanagement ebenso wenig möglich wie die Organisation der komplexen Stromnetze. Oberstätter musste in diesem Zusammenhang an sein Auto denken. Sein erster Wagen, ein VW Käfer, war noch eine Maschine gewesen. Seine aktuelle Kutsche war ein Computer auf Rädern. Um einen Fehler zu finden, kroch der Mechaniker nicht mehr unter die Bodenplatte oder tauchte in den Motor ab. Er steckte einfach einen kleinen Computer an das Steuerungselement im Motorblock und las die Fehlermeldung.
Oberstätter erinnerte sich daran, wie er vor einem Jahr ein Vermögen für die Reparatur des Wagens seiner Frau ausgegeben hatte. Das System hatte einen Fehler bei der Bremsflüssigkeit gemeldet. Die Werkstatt musste sämtliche Schläuche austauschen. Doch der Bordcomputer meldete weiterhin Probleme. »Vielleicht sind es die Bremsen selbst«, hatte der Mechaniker gemeint und diese ebenfalls erneuert. Die Fehleranzeige blieb. Bis der Mechaniker erklärte, dass sie wohl das Elektronenhirn wechseln mussten. Der neue Computer zeigte den Fehler dann nicht mehr an.
Oberstätter drückte seine Zigarette aus, entsorgte sie im dafür vorgesehenen Aschenbecher und ging in den Leitstand.
»Es muss die Software sein«, wandte er sich an den Schichtleiter.
»Ich habe mir schon Ähnliches gedacht«, erwiderte dieser. »Die Frage ist, wo wir anfangen.«
In einem Kraftwerk kamen verschiedenste Programme zum Einsatz. Die kompliziertesten waren sogenannte Supervisory Control and Data Acquisition Systems, kurz SCADA-Systeme. Sie dienten zur Steuerung der Anlage und bestanden aus den unterschiedlichsten Komponenten, von sehr spezieller Hardware wie den speicherprogrammierbaren Steuerungen bis zu ganz normalen Windows-Rechnern. SCADA-Systeme organisierten die immer komplexeren Abläufe der modernen Welt. Seien es Fertigungsprozesse in der Industrie, die Organisation von Infrastrukturen oder das Management von Häfen, Flugplätzen, Bahnhöfen, Konzernzentralen, Einkaufszentren oder Raumstationen. Sie machten es möglich, dass eine Handvoll Menschen einen gigantischen Öltanker über die Meere steuerte, wenige Dutzend eine Autofabrikationshalle bedienen oder auf Flughäfen Millionen Passagiere täglich abfliegen und ankommen konnte.
»Keine Ahnung. Die SCADA-Systeme wurden im Vorfeld ausführlich gestestet. Außerdem kommen wir an die selbst gar nicht dran. Als Erstes würde ich bei den Windows-Rechnern beginnen. Ich war schon 2004 dagegen, Windows für den Betriebsstand einzusetzen, weil es viel zu unsicher ist. Selbst Microsoft graut es, wenn jemand Win2K ohne irgendwelche Sicherheits-Patches einsetzt, aber das verbietet uns ja der Softwarehersteller.«
Der Schichtleiter starrte durch die riesigen Scheiben in die Maschinenhalle. Oberstätter wusste, was in seinem Kopf vorging. Entschloss er sich, die Startversuche abzubrechen, bis sie die Software geprüft hatten, konnten Tage vergehen, bevor das Kraftwerk wieder Energie lieferte. Treffen musste die Entscheidung letztlich der Betreiber.
»Hoffentlich hat uns nicht jemand etwas wie Stuxnet reingesetzt«, sagte Oberstätter.
»Über so was macht man keine Witze.«
»War kein Witz.«
Die Schadsoftware hatte im Herbst 2010 für Aufsehen gesorgt, nachdem sie eine iranische Atomanlage angegriffen hatte. Eine chinesische Nachrichtenagentur hatte berichtet, dass auch Hunderte Anlagesteuerungen im Reich der Mitte von dem Wurm infiziert seien. Später war man in vielen anderen Anlagen ebenfalls fündig geworden. Mehr als die Hälfte aller deutschen Kraftwerke etwa waren infiziert gewesen, aber aufgrund der besonderen Konstruktion des Virus für einen ganz bestimmten Zweck nicht beeinträchtig worden. Fachleute vermuteten als Urheber den israelischen und den US-amerikanischen Geheimdienst, als Ziel die iranische Atomanlage, doch beides blieben Spekulationen. Die wahren Urheber und das tatsächliche Ziel von Stuxnet würden wohl noch länger im Dunklen bleiben. Man ging davon aus, dass die Entwicklung einen siebenstelligen Dollarbetrag gefressen und dass ein ganzes Team von Spezialisten aus verschiedenen Gebieten daran mitgearbeitet hatte. Außerdem besaßen die Verfasser von Stuxnet detailliertes Wissen über die Abläufe in den angegriffenen Anlagen, die sie bei den Herstellerfirmen gestohlen haben mussten. Auf jeden Fall war Stuxnet nicht das Ergebnis von Spielereien eines Jugendlichen an seinem Homecomputer.
»So weiterzumachen ist auf jeden Fall sinnlos«, sagte Oberstätters Vorgesetzter schließlich. »Wir stoppen die Wiederbelebungsversuche. Ich informiere die Zentrale.«
Ratingen
Auf dem weitläufigen Parkplatz standen nur vereinzelt Autos, aber doch mehr als sonst an einem Samstag im Februar. Große Flächen bedeckte eine hauchdünne Schneeschicht. Windböen fegten darüber hinweg, wirbelten weiße Wolken hoch, hinterließen grauen Asphalt. In dieser kahlen Winterlandschaft wirkte der lang gestreckte, zehnstöckige Kubus aus Glas und Beton fast ein wenig verloren. Über dem Gebäude ragte der große Schriftzug aus blauen Buchstaben in den grauen Himmel: »Talaefer AG«. In einigen Fenstern brannte Licht.
James Wickley parkte den SLS Roadster auf dem Platz mit dem Kennzeichen der Limousine, die er während der Woche als Dienstwagen fuhr. Aber heute war Samstag, und da erlaubte er sich den Besuch des Hauptquartiers in dem Sportwagen, der das mehrfache Jahresgehalt eines durchschnittlichen Angestellten der Talaefer AG gekostet hatte.
Als Vorsitzenden des Vorstands traf man ihn samstags häufig im Büro an. Wer viel arbeitete und dem Unternehmen eine Menge Geld brachte, durfte auch einmal mit dem entsprechenden Auto unterwegs sein, fand er. Natürlich wäre er mit dem Wagen nie bei Kunden vorgefahren. Für den Alltag existierte ein Mercedes der S-Klasse, den er je nach Lust und Bedarf selbst steuerte oder von einem Chauffeur lenken ließ.
Er sprang aus dem Wagen, schlug den Mantel für die wenigen Schritte bis zum Eingang nur vorn zusammen. In der Glastür betrachtete er sein Spiegelbild, die schlaksige Figur, der scharfe Scheitel, dem auch die heftigste Windböe wenig anhaben konnte.
Zum Glück befanden sich im Keller des Gebäudes dieselgetriebene Notstromaggregate, die ihn auch jetzt den Fahrstuhl benutzen ließen und sein Büro im obersten Stock heizten.
Er warf den Mantel über einen Stuhl und startete seinen Computer. Während dieser hochfuhr, sah er auf das gerahmte Foto an der gegenüberliegenden Wand. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigte einen jungen Mann in der Mode der Siebzigerjahre vor einem altmodischen Rechner.
Sein erstes Steuerungssystem hatte Bruno Talaefer im Jahr 1973 entworfen. In der nordrhein-westfälischen Provinz machte er das Unternehmen binnen weniger Jahre zu einem weltweit agierenden Unternehmen. Mitte der Achtzigerjahre verwandelte er es zu einer börsennotierten Aktiengesellschaft, in deren Aufsichtsrat er sich zurückzog. Von Beginn an hatten sie Kontroll- und Steuerungssysteme für die wachsende Industrie und Transportlogistik entwickelt, bald waren Lösungen für Stromversorger gefolgt. Den großen Strukturwandel der Branche seit Beginn der Achtzigerjahre hatten sie als Partner der großen Anlagenbauer geschickt begleitet. Mittlerweile stammten über zwanzig Prozent ihres Umsatzes und Gewinns aus diesem Geschäftsfeld.
James Wickley, geboren in Bath, als Kind eines Diplomaten in London, Singapur und Washington aufgewachsen, ausgebildet in Cambridge und Harvard, seit vier Jahren Vorstandsvorsitzender der Talaefer AG, erwartete einen Boom für die kommenden Jahre. Nach der Deregulierung der europäischen Märkte in den letzten Jahrzehnten stand nun die nächste Umwälzung vor der Tür. Die Einführung der sogenannten Smart Grids entfachte Bonanza-Fantasien in Unternehmen weltweit. Der Grundgedanke war einfach. Bislang hatten große, zentrale Energieproduzenten Strom hergestellt und verteilten ihn über die mittlerweile international zusammengewachsenen Netze an die Endverbraucher. Noch funktionierte dieses System einigermaßen. Der Strombedarf war bekannt. Wasserkraftwerke, Kohlekraftwerke oder Atomkraftwerke lieferten beständig Strom, für den flexibleren Einsatz zu Spitzenzeiten dienten bestimmte kalorische Kraftwerke, vor allem gasbefeuerte.
In Zukunft würden wesentlich mehr und auch kleinere Einheiten Strom erzeugen. Zudem würden die Quellen ihrer Produktion so unzuverlässige Lieferanten wie Sonne oder Wind sein. Vorläufigen Höhepunkt würde in wenigen Jahren der noch junge Industriezweig des Energy-Harvesting bringen. Dabei wurde Energie etwa beim Gehen aus Mikrokraftwerken in Schuhsohlen gewonnen.
Mit unzähligen kleinen, unabhängigen und unberechenbaren Stromlieferanten konnten die klassischen Netze nicht umgehen. Schon heute stellte die wachsende Anzahl von Windkraft- und Solaranlagen eine zunehmende Bedrohung der Netzstabilität dar. Gänzlich unkontrollierbar würden die Zustände, wenn künftig jeder Haushalt, gar jeder Mensch ein eigenes Minikraftwerk würde und immer dann Strom ablieferte, wenn er einen Überschuss produzierte.
Eine weitere tragende Rolle spielte die politische Entscheidung, die europäischen Staaten binnen weniger Jahrzehnte von fossilen Brennstoffen wie Öl oder Kohle und sogar von der Kernkraft unabhängig zu machen. Deutschland etwa wählte dazu den massiven Ausbau der Windkraft. Gigantische Windparks in der Nordsee sollten die Strom fressenden Industrieanlagen im Süden mit Energie versorgen. Umweltschützer gerieten in einen Zwiespalt. Jahrzehntelang hatten sie für den Ausbau alternativer Energiequellen gefochten, um nun feststellen zu müssen, dass Windräder, Hochspannungstrassen und Speicherbecken das ganze Land verunstalten würden. Die Bauindustrie freute sich, Anlieger weniger. An diesem Punkt der Entwicklung kamen auch die Smart Grids ins Spiel. Diese intelligenten Stromnetze sollten sich letztendlich selbst steuern und organisieren. Unzählige Hochgeschwindigkeitssensoren an allen möglichen Stellen im Netz sollten in Echtzeit Stromqualität und Spannung messen. Die zahlreichen verschiedenen Kleinkraftwerke sollten über dieses schlaue Netz zu virtuellen Kraftwerken zusammengeschlossen werden. Die Verbraucher sollten Smart Meter bekommen. Laut einer Vorgabe der Europäischen Union sollten bis 2020 große Teile Europas umgerüstet sein. Manche Staaten wie die Niederlande hatten die Projekte aber vorläufig gebremst oder gestoppt, entweder aus Kostengründen oder wegen Sicherheitsbedenken.
Jeder namhafte Konzern, der nur die entfernteste Verbindung zu seinen angestammten Geschäftsfeldern sah, sprang auf den Zug. Angefangen von den klassischen Elektronik- und Technikunternehmen über Kommunikationsgiganten, die auf ihre Vernetzungs- und Kommunikationskompetenzen bauten, bis zu Autoherstellern, die ihre Motoren nun auch in Arztpraxen oder Verwaltungsgebäuden installieren wollten.
Zuerst allerdings mussten sie das bestehende System wieder zum Laufen bringen. Sein Computer zeigte ihm, dass er derzeit nicht einmal ins Internet kam.
Er wechselte in den großen Besprechungsraum, in dem bereits jene Führungskräfte warteten, die er noch gestern Abend herbestellt hatte für den nun eingetretenen Fall, dass der Stromausfall anhalten sollte.
»Von den Betreibern, Anlagebauern oder auch einzelnen Kraftwerken haben wir bislang kein Feedback«, erklärte der Vertriebsvorstand. »Ich habe ein Callcenter im Haus eingerichtet, falls Kunden Unterstützung brauchen.«
»Gut«, sagte Wickley. »Sind ausreichend Techniker im Haus?«
»Vorläufig ja«, erwiderte der Personalvorstand. »Wir informieren gerade zusätzliche – soweit möglich. Wobei wir mit einem baldigen Ende der Störung rechnen beziehungsweise mit keiner großen Anfrageflut, schon gar nicht vor Montagmorgen, nicht zuletzt wegen der kaum funktionsfähigen Telefonnetze. Bis dahin wird der Bedarf stark zurückgegangen oder überhaupt nicht mehr vorhanden sein, und gleichzeitig sind unsere Leute alle wieder da.«
»Davon gehe ich auch aus«, entgegnete Wickley. »Kommunikation?«
Die Frage galt dem Chef der Unternehmenskommunikation, einem kantigen Mann mit früh ergrauten Haaren.
»Bislang keine Medienanfragen«, antwortete dieser. »Allerdings habe ich vor, so bald wie möglich mit ausgesuchten Journalisten Hintergrundgespräche zu führen, in denen ich die Zuverlässigkeit unserer Produkte sowie die hohe Kompetenz unserer Softwareentwickler und Ingenieure in den Vordergrund stellen werde, vor allem auch in Hinblick auf unsere Entwicklungsprojekte.«
»Ausgezeichnet! Der Mann denkt mit. Damit komme ich zum wichtigsten Punkt unserer Besprechung.«
Er lehnte sich nach vorne, ließ seinen Blick einmal durch die Runde der knapp zwanzig Männer schweifen.
»Dieser Stromausfall ist eine Riesenchance! In ein paar Stunden wird er vorbei sein, aber nicht vergessen. Dafür werden wir sorgen.«
Er sprang auf.
»Jetzt müssen wir den Personen an den entscheidenden Stellen begreiflich machen, dass die Konzepte der Mitbewerber zu kurz greifen oder illusorisch sind und radikale Neuerungen unabdingbar.«
Die der Talaefer AG nach seinen Plänen im kommenden Jahrzehnt jährlich zweistellige Wachstumsraten bescheren sollten.
»Ich möchte«, forderte er mit einem Blick auf den Vertriebsvorstand, »dass wir ab Montagmorgen mit allen Personen, die darüber zu entscheiden haben, Termine vereinbaren.«
Jetzt würden sie deren Interesse nicht mehr durch luxuriöse Studienreisen in fremde Länder fördern müssen, sondern durch einfache Präsentationen der Fakten und der Talaefer-Produkte. Er stützte sich mit beiden Händen auf den langen Tisch auf, musterte seine Mitarbeiter durchdringend.
»Bis Montagabend möchte ich die wichtigsten Präsentationen, mit dem Stromausfall als Einstieg und als durchgängigem roten Faden, vorgestellt bekommen.«
In den Gesichtern konnte er erkennen, dass die Anwesenden damit nicht gerechnet hatten. Vermutlich saßen die Familien der meisten zu Hause ohne Heizung, Wasser und Kommunikationsmittel und erwarteten den Vater so bald wie möglich zurück. Nun, sie würden ohne die Männer zurechtkommen müssen.
»Auf, meine Herren! Zeigen wir der Welt, was Energie ist.«
Paris
Als Shannon von der Musik geweckt wurde, verfluchte sie ihren Mitbewohner Émile. Die Mieten waren in Paris fast unbezahlbar, für ihr Zimmer in der Wohngemeinschaft in Montparnasse ging ihr halbes Monatseinkommen drauf, da hatte sie nicht wählerisch sein dürfen. Erst als sie das Kissen um den Kopf wickelte, damit sie weiterschlafen konnte, fragte sie sich, woher die Musik stammte. Von der Straße vor ihrem Fenster hörte sie den Verkehr. Sie setzte sich auf, versuchte, wach zu werden.
Wie sie war, in T-Shirt und Shorts, schlurfte sie auf den Flur, ins Bad, drehte die Wasserhähne auf, ganz altmodische, einer warm, der andere kalt, spritzte sich Wasser ins Gesicht, spülte den schlechten Geschmack aus dem Mund. Verschlafen sah sie in den Spiegel, die wirren braunen Haare fielen ihr ins Gesicht.
Das Wasser lief. Sie hörte Musik. Sie ging auf die Toilette. Die Spülung funktionierte.
Sie zog ihren Bademantel über und ging in die Küche. Dort saßen Marielle und Karl bei einem späten Frühstück, im Radio spielte französischer Hip-Hop. Shannon mochte ihn noch weniger als den englischsprachigen, schon gar nicht nach dem Aufwachen, aber heute war sie froh, ihn zu hören.
»Morgen«, begrüßte sie die anderen. »Strom wieder da?«
»Zum Glück«, sagte Karl. Der untersetzte Deutsche mit den schwarzen Locken war einer ihrer vier Wohngenossen. Marielle stammte aus der Nähe von Toulouse, Émile aus der Bretagne, dann war da noch Dajan aus einem Dorf in Ostpolen.
Shannon schenkte sich Kaffee und Milch in eine Bol-Tasse. War der Chef der Électricité de France doch umsonst ins Innenministerium gebraust, dachte sie. Oder sein Auftauchen – was sollte er dort sonst gesucht haben? – hatte genau den erwünschten Erfolg gehabt, nämlich die Stromversorgung schleunigst wiederherzustellen.
»Aber nicht überall«, erzählte Karl mit vollem Mund und deutschem Akzent. Gegen den sie nicht lästern durfte, ihr amerikanischer war nicht minder heftig. »In vielen Teilen des Landes frieren sie noch. Meine Eltern zu Hause wohl auch.«
»Hast du mit ihnen gesprochen?«, fragte Shannon.
»Nein. War kein Durchkommen. Aber in den Nachrichten hieß es, dass es auch in anderen Ländern Ausfälle gab. Überlastung wegen des Winters, sagen sie.«
Shannon schmierte sich ein Honigbrot.
»Die meisten öffentlichen Verkehrsmittel in Paris fahren wieder«, bemerkte Marielle.
»Gut«, sagte Karl. »Ich muss gleich zur Uni.«
»Am Samstag?«
Er zuckte mit den Achseln, räumte sein Geschirr in die Spüle und verschwand. Shannon erzählte von ihrer Nacht, fragte Marielle, wie es in der Wohnung gewesen war.
»Ging so«, antwortete diese. »Ich habe mir einen Pullover angezogen, eine Extradecke über das Bett geworfen und das Ganze verschlafen.«
»Die beste Methode.«
Shannon nahm eine heiße Dusche, dann setzte sie sich vor ihren Laptop und lud Material von der letzten Nacht hoch. Sie war freie Mitarbeiterin Turners, ihre nicht benutzten Aufnahmen konnte sie also auch für sich verwenden. Währenddessen surfte sie über ein paar Nachrichtenseiten und checkte ihre Accounts bei den sozialen Netzwerken. Als Nächstes schnitt sie einen kleinen Beitrag aus Bildern zusammen und stellte ihn auf YouTube.
Danach zog sie sich warm an und ging einkaufen. Der kleine Supermarkt zwei Straßen weiter war geöffnet. Unterwegs hielt Shannon nach Folgen der vergangenen Nacht Ausschau, doch die Pariserinnen und Pariser waren schon wieder zur Tagesordnung übergegangen.
Auf dem Rückweg traf sie vor dem Eingang ihre Nachbarin. Annette Doreuil, Mitte sechzig, immer sehr gepflegt, trug ebenfalls Einkäufe nach Hause.
»Shannon!«, rief sie ihr entgegen. »Das war ein Abend gestern, was?«
»Ja, ich war die ganze Nacht unterwegs«, antwortete Shannon, während sie gemeinsam zum Fahrstuhl gingen. »Der Strom kam erst gegen sechs Uhr morgens nach und nach wieder.«
»Unsere Tochter und ihre Familie wollten aus Amsterdam kommen, aber die Flüge wurden abgesagt.«
»Schade, ich weiß, Sie hatten sich so auf Ihre Enkel gefreut.«
Die Kabine ruckelte, hielt zwischen zwei Stockwerken, Shannons Magen krampfte sich zusammen, doch da fuhr der Fahrstuhl schon weiter.
»Das hätte jetzt gerade noch gefehlt«, lachte Doreuil nervös. Sie schwiegen und sahen durch die Glasscheiben der Kabinentür die Etagen vorbeiziehen, bis sie auf der vierten hielten. Shannon war froh, den Lift zu verlassen.
Vielleicht würde sie nun doch öfter die Treppen nehmen.
»Schöne Grüße an Ihren Mann. Hoffentlich kommen Ihre Enkel bald.«
»Das hoffe ich auch.«
Bei Bellinzona
Auf der Autobahn schien weniger los zu sein als sonst. Bondoni hatte ihm das Steuer übergeben. Seit sie Mailand verlassen hatten, presste Manzanos Gasfuß den Autobianchi 112 von 1970 an sein Limit bei hundertvierzig Stundenkilometer. Bondoni hatte den Wagen, der fast so alt war wie Manzano, über die Jahre in einem tadellosen Zustand bewahrt. Aber er war so laut, dass sie sich nur brüllend unterhalten konnten, was die Konversation bald zum Erliegen gebracht hatte. Bondoni hatte das Radio eingeschaltet, gemeinsam verfolgten sie die Nachrichten- und Sondersendungen, die auf den meisten Kanälen gebracht wurden.
Leider war der Tank nicht so voll gewesen, wie Manzano gehofft hatte. Bondoni besaß jedoch genug Reservekanister in der Garage, dass sie die knapp vierhundert Kilometer getrost in Angriff nehmen konnten. Im winzigen Kofferraum lagerten vier Kanister mit je zwanzig Litern, damit sollten sie sogar wieder nach Hause zurückkehren können, ohne eine Tankstelle aufsuchen zu müssen. Was nicht notwendig sein sollte, hoffte Manzano. Doch das Radio teilte nichts Gutes mit. Europa war noch immer weitgehend ohne Strom.
Sie waren bereits in der Schweiz, hatten Lugano hinter sich gelassen und steuerten Richtung Bellinzona, als der Tankzeiger in den roten Bereich wanderte.
»Wir müssen Benzin nachfüllen«, sagte Manzano, als er das Hinweisschild für einen Parkplatz sah.
Vier Lkws hintereinander belegten die gesamte linke Hälfte, rechts standen drei Pkws. Neben einem der Personenwagen schlenderte ein Mann auf und ab und rauchte. Manzano und Bondoni stiegen aus, vertraten sich die Beine. Manzano öffnete die Heckklappe, hob einen Kanister heraus, begann den Tank zu füllen.
Er lauschte dem leisen Gluckern des Treibstoffs, während im Hintergrund ab und zu ein Auto auf der Autobahn vorbeirauschte. Er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt ein Auto aus einem Kanister betankt hatte. Fragte sich, ob er es überhaupt schon einmal getan hatte. Tankstellen waren so selbstverständlich, überall.
»Hey! Sie sind ja ein Minitanklaster«, rief eine Stimme neben ihm und lachte kehlig über ihren eigenen Witz. Der Raucher, jetzt ohne Zigarette, äugte neugierig in den Kofferraum des Autobianchi.
Manzano hatte ihn nicht kommen gehört. Das mochte er nicht. Und den Mann auch nicht. Wie er ungeniert in ihren Wagen starrte, den Klang seiner Stimme.
»Wir haben auch noch einen weiten Weg vor uns.«
»Wohin wollen Sie denn mit dieser Fracht?«
Was ging das den an?
»Nach Hamburg«, schwindelte Manzano.
»Wow! Ein weiter Weg mit so einer Handtasche auf Rädern.«
Manzano hatte den Kanister geleert, verschloss ihn, stellte ihn zurück. Dabei sah er über das Wagendach und bemerkte, dass vom Auto des Rauchers her zwei weitere Männer auf sie zukamen. Sie gefielen Manzano genauso wenig wie ihr Kumpan. Er schlug die Kofferraumtür zu.
»Na, hören Sie mal«, ereiferte sich Bondoni. »Das ist ein Oldtimer!«
»So sieht er auch aus«, lachte der Mann wieder. »Mit dem kommen Sie nie nach Hamburg. Wollen Sie uns nicht lieber einen Kanister verkaufen? Oder zwei?«
Manzano hatte den Griff der Fahrertür in der Hand, bereit zum Einsteigen.
»Tut mir leid. Aber ich sagte Ihnen ja, wie weit wir müssen. Da brauchen wir jeden Tropfen selbst.«
Die Begleiter des Rauchers hatten sie mittlerweile erreicht. Einer baute sich vor der Kühlerhaube auf, der andere steuerte auf Bondoni zu, der gerade auf der Beifahrerseite einsteigen wollte.
In diesem Moment packte der Raucher Manzanos Arm. »Wollen Sie es sich nicht doch überlegen?«
Manzano blickte ihn ohne Angst an, dann auf die Hand an seinem Arm. Als der Mann nicht losließ, wollte er ihn abschütteln, doch der andere hielt ihn fest.
»Lassen Sie mich los«, sagte Manzano ruhig. Innerlich spürte er jedoch, wie sich alle seine Muskeln anspannten und ihm die Hitze in die Glieder schoss.
»Wir brauchen Sprit«, erklärte der Kerl. »Bis jetzt habe ich Sie freundlich gefragt.«
Das war deutlich. Manzano zögerte nicht. Mit einer heftigen Bewegung trat er dem Mann zwischen die Beine. Der andere hatte nicht damit gerechnet, knickte ein und ließ Manzano los. Manzano stieß ihn von sich, der Mann stolperte rückwärts und fiel auf den Asphalt. Manzano sprang in den Wagen. Bondoni nutzte den Überraschungsmoment und warf sich förmlich auf den Beifahrersitz.
Manzano drosch seine Tür zu, verriegelte sie und drehte gleichzeitig mit der anderen Hand den Zündschlüssel um. Draußen rappelte sich sein Angreifer wieder hoch. Der Typ vor dem Kühler stützte sich darauf, als ob er das Auto so aufhalten könnte. Bondoni versuchte seine Tür zu schließen, doch der dritte Kerl hatte seine Arme bereits im Wagen und zerrte an dem alten Mann. Manzano kuppelte, stieg aufs Gaspedal, der Motor heulte auf. Der Raucher rüttelte mittlerweile an Manzanos Türgriff. Der Mann vor der Kühlerhaube wich nicht zur Seite. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke, dann ließ Manzano die Kupplung los. Der Autobianchi machte einen Sprung nach vorne, der Mann wurde über die Kühlerhaube gegen die Frontscheibe geschleudert, kullerte seitlich hinunter, riss den Raucher mit sich. Der dritte lief neben ihnen her, versuchte, den lauthals fluchenden Bondoni aus dem Wagen zu ziehen. Manzano beschleunigte. Sah im Rückspiegel den Raucher hinter ihnen herlaufen. Der Angefahrene lag auf dem Boden. Mit einem letzten Tritt verabschiedete Bondoni den dritten und schlug die Tür zu. Manzano schaltete hoch und schoss aus der Ausfahrt, während Bondoni, der halb verkehrt auf seinem Sitz lag, sich mühselig in eine sitzende Haltung brachte.
»Was war denn das?«, fragte er atemlos.
»Moderne Wegelagerer«, antwortete Manzano, dessen Puls raste. Im Rückspiegel beobachtete er, ob die Angreifer ihnen folgten. Er fragte sich, ob er den einen schwer verletzt hatte. Musste sich aber eingestehen, dass er kein Mitleid verspürte, eher Wut über die unverschämte Attacke. Leider hatte er sich das Kennzeichen nicht gemerkt. Eigentlich sollte er sie anzeigen. Oder hatte er sich strafbar gemacht, als er einfach losgefahren war, obwohl der Mann im Weg gestanden hatte?
»Diese Bastarde«, schimpfte Bondoni. »Mein schöner Wagen. Wehe, der Idiot hat da vorn eine Delle hineingehauen!«
Hoffentlich ist dieser Stromausfall bald vorbei, dachte Manzano. Wie soll das denn weitergehen, wenn die Leute jetzt schon verrücktspielten, fragte er sich, den Rückspiegel ständig im Blick.
Berlin
Hinter den Fenstern des Baus, der das Ministerium von der Straße Alt-Moabit trennte, beobachtete Michelsen die Ankunft der schwarzen Limousinen. Der Innenminister hatte die Vorstandsvorsitzenden der wichtigsten Stromerzeuger und -verteiler in Deutschland zu einem Termin geladen. Krisensitzung hatte Michelsen es in den Telefonaten genannt. Ein Donnerwetter für die Strombosse würde es werden. Was diese auch wussten. Doch sie hatten keine Wahl. Wer nicht erschien, hatte in Zukunft mit zu großen Hindernissen aus der Politik zu rechnen. Alle kamen.
In dem kleinen Besprechungsraum hinter ihr wartete die Runde aus Ministerialbeamten, die den Kern des operativen Krisenstabs bildeten. Sie unterhielten sich oder blätterten in Unterlagen. Einige trugen dicke Jacken oder Pullover unter den Sakkos. Der Minister selbst saß in einem der Büros nebenan und telefonierte dort mit einem mobilen Satellitentelefon.
Michelsen hatte sich eine Überraschung ausgedacht. Der Minister hatte sie gutgeheißen. Statt eines Besprechungszimmers im Ministerium hatten sie kurzfristig einen Raum im Gebäude davor angemietet. Die Anwaltskanzlei hatte wegen des Stromausfalls geschlossen. Die Temperatur in den Räumen war mittlerweile auf zwölf Grad gefallen. Unter der Jacke ihres Hosenanzugs trug Michelsen lange Funktionsunterwäsche, die nicht auftrug. Selbst von ihrem Standort im dritten Stock erkannte sie die Verwirrung der Konzernleiter, als sie aus dem Auto stiegen und die Adresse suchten. Jeder von ihnen war schon öfters im Ministerium gewesen und musste denken, dass es sich bei dieser Adresse um einen Irrtum handelte. Weder Klingeln noch automatische Türöffner funktionierten. Unten empfing sie ein Beamter, der ihnen die Tür öffnen und den Weg in den dritten Stock weisen würde. Ohne Fahrstuhl, leider. Michelsen blieb am Fenster stehen, bis der Letzte im Haus verschwunden war. Mit einem leisen Lächeln schlenderte sie Richtung Tür und wartete auf das erste Klopfen.
Es dauerte ein paar Minuten. Michelsen ließ sich den Spaß nicht nehmen und öffnete persönlich die Tür. Vor ihr standen zwei Herren im besten Alter. Unter den weißen und grauen Haaren glühten rote Köpfe. Sie hatten ihre teuren Wintermäntel geöffnet. Darunter kamen ebenso teure Anzüge zum Vorschein. Aus dem Treppenhaus hörte Michelsen Schritte. Sie bat die beiden herein und wartete auf die anderen. Nach und nach erklommen die Männer die dritte Etage. Alle in dunklen Mänteln und Anzügen, Krawatten in gedeckten Farben. Der eine oder andere rang nach Atem.
»Immer herein. Sie sind richtig hier. Der Herr Minister ist schon da.«
Im Besprechungszimmer Händeschütteln. Die Ankömmlinge legten ihre Mäntel ab. Vom Aufstieg standen einigen noch Schweißperlen auf der Stirn. Nach wenigen Minuten saßen alle.
Einer der Konzernbosse, Michelsen erkannte ihn als den Vorstandvorsitzenden von E.ON, der eher fit aussah, begann seine Hände zu reiben, als wolle er sie aufwärmen. Ihn hatte der Aufstieg nicht ins Schwitzen gebracht, jetzt spürte er als Erster die Kälte.
Als der Innenminister eintrat, erhoben sich alle.
»Meine Herren«, begrüßte er die Gäste, »setzen Sie sich bitte.«
Sie folgten der Aufforderung, nur ein Assistent des Staatssekretärs blieb an einem Flipchart in der Ecke stehen.
»Wir haben heute einen etwas ungewöhnlichen Besprechungsort ausgewählt. Mangels Strom kann ich Ihnen leider keinen Kaffee oder Tee anbieten. Den Gebrauch der Toilette bitte ich Sie auf einen späteren Zeitpunkt und an einen Ort zu verschieben, wo Sie funktionierende Wasserver- und -entsorgung vorfinden.«
Nun setzte sich der Minister ebenfalls.
»Ich möchte, dass wir während dieser Besprechung permanent daran erinnert werden, was rund sechzig Millionen deutsche Bürgerinnen und Bürger seit vierundzwanzig Stunden durchmachen.«
Verstohlen beobachtete Michelsen die Reaktionen der Honoratioren. Die meisten behielten unverbindlich interessierte Gesichter. Nur bei einem verzogen sich die Mundwinkel für einen Moment zu einem spöttischen Grinsen.
»Während wir im Ministerium und Sie in Ihren Vorstandsbüros, von Notstromgeneratoren versorgt in behaglicher Wärme sitzen, kämpfen die Menschen da draußen mit Kälte, Dunkelheit, ausgefallener Wasserversorgung, fehlendem Zugang zu Lebensmitteln, Medikamenten und Geld. Sie kennen die gegenwärtige Lage.«
Er gab dem Assistenten ein unauffälliges Zeichen. Dieser schlug das erste Blatt am Flipchart nach hinten.
Aus irgendeinem Grund berührte der Moment Michelsen. Wo seit Jahren Hightech-Multimediaanlagen Ton und Bild an eine Leinwand geworfen hätten, bedienten sie sich nun wieder des guten alten Papiers, das eine Person auch noch händisch weiterblättern musste. Mit einem Mal erinnerte sie sich an Zeiten ohne Mobiltelefon, an Autos, die keine fahrenden Computer waren und deren verbeulte Kotflügel man mit einem Ersatzteil vom Schrottplatz reparieren konnte, an das Schreiben von Briefen und Postkarten statt E-Mails, SMS und Statusmeldungen in sozialen Netzwerken. Doch der nostalgische Augenblick ging schnell vorüber. Ihr war bewusst, dass die Organisation der modernen Welt längst auf die präzise elektronische Verwaltung im Hintergrund angewiesen war. Wie der Boden, auf dem wir jeden Tag gehen, die Luft, die wir atmen, umgibt uns allgegenwärtig ein Netz unsichtbarer Helfer, dachte sie. Ihre abschweifenden Gedanken kehrten zu dem Flipchart zurück.
Eine Landkarte Deutschlands wurde aufgeschlagen. Sie war überwiegend rot, mit wenigen grünen Flecken.
»Auf den Straßen, Bahnhöfen und Flughäfen herrscht Chaos. Die Wirtschaft leidet bereits unter Verlusten in dreistelliger Millionenhöhe.«
Zeichen. Nächstes Blatt. Eine große rote Zahl: –200 000 000 EUR.
»Seit fast vierundzwanzig Stunden höre ich aus Ihren Firmen, dass bald alles wieder in Ordnung ist. Stattdessen haben die ersten Länder den Katastrophenfall erklärt.«
Neues Blatt. Wieder eine Landkarte. Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Hessen, Hamburg, Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Sachsen rot.
»Ich dachte, unsere Stromnetze seien sicher. Die Einsatzkräfte arbeiten am Rand ihrer Kapazitäten. Aus dem Ausland können wir keine Hilfe anfordern, weil es denen genauso ergeht wie uns. Dafür sind Sie verantwortlich. Ich habe die Ausreden satt.«
Er sah jeden der Männer eindringlich an, bevor er fortfuhr: »Sagen Sie endlich, was los ist. Die Karten müssen auf den Tisch. Müssen wir bundesweit den Katastrophenfall erklären?«
Michelsen musterte die Gesichter. Hatten sich die Vorstände abgesprochen? Vermutlich. Dann hatten sie auch eine Strategie. Oder waren sie uneins gewesen? In diesem Fall wartete jetzt jeder, dass jemand als Erster aus der Deckung kam. Blicke wurden getauscht. Ein entschlossen aussehender Mittfünfziger mit vollen silbernen Haaren, links gescheitelt, straffte sich fast unmerklich. Curd Heffgen stand einem der großen Übertragungsnetzbetreiber vor, wusste Michelsen. Außerdem war er Präsident des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, der Lobbyvereinigung der deutschen Energieindustrie. Um diese Aufgabe beneidete ihn Michelsen nicht. Der Verband war sicher einer der schwierigsten in Deutschland. Warf man der Branche doch seit Jahren Preistreiberei und Konsumentenabzocke vor. Gleichzeitig hatte sie jedoch politische Vorgaben zu erfüllen. Zudem musste kaum ein anderer Verband derart unterschiedliche Interessen bündeln und vertreten. Hatten die großen Strombetreiber eine Verlängerung der Laufzeit für Atomkraftwerke gefordert, sahen das die kleineren Betreiber wie Stadtwerke als Wettbewerbsnachteil. Alternative Energie wurde gefördert, was die Netzbetreiber zunehmend in Schwierigkeiten brachte. Waren diese doch gesetzlich verpflichtet, den stark schwankenden Energiezufluss aus immer mehr Windparks und Solaranlagen abzunehmen, was die Stabilität der Netzfrequenz gefährdete. Keine leichte Aufgabe, alle unter einen Hut zu bringen. Und jetzt für alle sprechen zu müssen.
»Ich gebe zu«, begann Heffgen, »dass es uns bis jetzt nicht gelungen ist, größere Netzbereiche wieder zu synchronisieren.«
Respekt, dachte Michelsen. Streckt nicht nur den Helm auf einem Stecken hoch, sondern direkt den Kopf. Mal sehen, wo die Geschosse blieben.
»Was unter anderem daran liegt«, fuhr er fort, »dass es praktisch keine größeren Netzbereiche gibt. Aber auch auf regionalerer Ebene war es uns nicht möglich. Die Frequenz in den wenigen hochgefahrenen Gebieten ist zu instabil.«
Von wegen Respekt, begriff Michelsen. Der gute Mann hatte das »Wir sind nicht schuld« nur elegant eingeleitet und ihm damit die Spitze genommen.
»Vielleicht kann ein Kollege von den Stromproduzenten das erläutern.«
Gab den Stab also weiter. Allerdings einen glühenden. Wer wollte da zugreifen? Heffgen lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust als Signal, dass er genug gesagt hatte.
»Herr von Balsdorff vielleicht?«, regte der Minister an.
Der Angesprochene, etwas übergewichtig und mit großporiger Raucherhaut, benetzte mit der Zunge nervös die Lippen.
»Ähm. Es gibt mehr Probleme mit den Kraftwerken, als selbst für so einen Fall erwartet«, erklärte er. »Keiner von uns war bisher mit einer derartigen Situation konfrontiert. In den Übungen waren Ausfallraten von bis zu dreißig Prozent angenommen worden. Tatsächlich sind es mehr als doppelt so viel. Wir forschen noch …«
»Wollen Sie damit sagen«, unterbrach ihn der Innenminister gefährlich leise, »dass Sie nach wie vor für die kommenden Stunden keine Wiederherstellung der Grundversorgung garantieren können?«
Von Balsdorff sah den Minister gequält an.
»Bei uns arbeiten alle verfügbaren Kräfte. Aber garantieren können wir es für unseren Teil nicht.« Er biss sich auf die Lippen.
»Und Sie, meine Herren?«, fragte der Minister in die Runde.
Betretenes Kopfschütteln.
In Michelsen breitete sich ein Gefühl aus, das sie zuletzt vor ein paar Jahren gespürt hatte, als zwei Polizisten bei ihr geklopft und gefragt hatten, ob sie die Tochter von Thorsten und Elvira Michelsen sei. In den Gesichtern der anderen erkannte sie, dass auch sie langsam begriffen. Trotz der Raumtemperatur brach ihr der Schweiß aus, und ihr Herz begann gegen ihre Kehle zu schlagen.
Ischgl
Erleichtert und ungeduldig betrachtete Angström die tief verschneiten Berge, die rundum in den Himmel wuchsen. So kurz vor ihrem Ziel waren alle aufgekratzt und schwärmten von einem Bad, einer ordentlichen Toilette, heißem Wasser, sauberen, warmen Betten, einem Abend vor dem Kamin.
»Täusche ich mich, oder stehen die Skilifte?«, fragte van Kaalden, als sie die ersten Pisten entdeckten.
»Sieht so aus.«
»Haben auch keinen Strom.«
»Seid ihr schon einmal Touren gegangen?«, fragte Angström.
»Bloß nicht!«, rief Terbanten, »ich bin zur Erholung da.«
»Das kann wunderschön sein. Oder wir leihen uns Langlaufskier. Dafür brauchen wir auch keine Lifte.«
»Heute kommen wir ohnehin nicht mehr auf die Piste«, meinte Bondoni. »Und morgen ist der Spuk dann hoffentlich vorbei.«
Die Straße wand sich einen Berg hoch, Angström hielt Ausschau nach dem Hüttendorf, in dem sie ihr Quartier gebucht hatten. Zehn Minuten später hatten sie es erreicht. An einem steilen Hang stand ein Dutzend gemütlicher Holzhäuschen eng aneinander. Aus einigen Schornsteinen stieg Rauch. Sie stellten den Wagen auf dem kleinen Parkplatz ab, der fast voll war. An der ersten Hütte hing ein Schild mit der Aufschrift »Empfang«.
Drinnen begrüßte sie eine junge Frau in Tracht hinter dem Empfangstresen. Angström sog den Geruch von Holz in sich auf, der den Raum erfüllte. Sie erklärte, warum sie zu spät gekommen waren. Die Empfangsdame lächelte und äußerte ihre Freude, dass sie es überhaupt geschafft hatten.
»Einige unserer Gäste sind noch immer nicht da.« Sie nahm die Namen und Daten auf. »Ich zeige Ihnen Ihre Hütte.«
Sie führte sie über schmale, gestreute Pfade zwischen den Häuschen zum unteren Rand der Gebäudegruppe. Angström bewunderte den Blick über das Tal und auf die gegenüberliegenden Berge.
»Leider sind auch wir durch den Stromausfall beeinträchtigt«, erläuterte die Frau. »In den Hütten gibt es kein elektrisches Licht, Heizung und Wasserversorgung funktionieren nicht.« Angström tauschte einen Blick mit den anderen und sah die Enttäuschung in ihren Augen.
»Aber«, beeilte sich die Empfangsdame hinzuzufügen, »wir tun alles, um Ihnen Ihren Aufenthalt trotzdem so angenehm wie möglich zu gestalten. Außerdem haben wir durch die Planung der Anlage Glück im Unglück.«
Sie sperrte das Haus auf und ließ sie eintreten. Von einem winzigen Flur gelangten sie in eine kleine, aber gemütliche Stube mit rustikaler Sitzecke und Kachelofen. An den Wänden hingen mit Sinnsprüchen bestickte Tücher.
»Wie Sie sehen, sind die Hütten mit einem Kachelofen ausgerüstet, der das ganze Gebäude gut heizt. Sie brauchen also nicht zu frieren. Holz ist ausreichend vorhanden.«
Sie führte sie weiter in eine winzige Küche. Angström fand, dass die Räume auf den Fotos im Internet größer ausgesehen hatten. Aber es war warm, roch gut und fühlte sich kuschelig an. Sie war zufrieden.
»Auch der Herd in der Küche kann mit Holz befeuert werden. Ich weiß nicht, ob Sie selbst kochen wollten, auf jeden Fall können Sie hier aber vorläufig auch hervorragend Schnee schmelzen und Wasser für ein Bad erhitzen.« Sie lachte. »Und davon gibt es draußen ja genug. Das ist wie früher! Urig, nicht?«
Sie wurde wieder ernst und zeigte ihnen die beiden kleinen Schlafzimmer, zu denen sie über eine schmale, steile Stiege ins Obergeschoss gelangten. In jedem standen zwei Einzelbetten, links und rechts des Fensters an der Wand. Ein Schrank ergänzte die Einrichtung. Angström fragte sich, wie zwei Personen darin ihre Kleidung und Skiausrüstung für eine Woche unterbringen sollten.
»Hier ist das Bad. Sehen Sie. Wir haben schon Kübel bereitgestellt, damit man Schnee in die Badewanne füllen kann und mit erhitztem Wasser auffüllen.« Als sie die skeptischen Blicke ihrer Gäste sah, fügte sie hinzu: »Selbstverständlich bekommen Sie für diese Unannehmlichkeiten eine Ermäßigung. Ich denke, wir alle müssen die Sache von der positiven Seite sehen. Sie können heizen, sogar ein heißes Bad nehmen, wenn auch etwas umständlicher als sonst, aber das ist mehr, als vielen anderen momentan vergönnt ist. Auch die Toilette können Sie benutzen. Sie müssen nur immer einen vollen Eimer mit Wasser bereitstehen haben. Zwei haben wir vorsorglich schon einmal hingestellt.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Gastgeberin die Pannen und provisorischen Lösungen präsentierte, ließen Angström schwanken, ob sie lachen oder sich ärgern sollte. Sie beschloss, die Empfehlung der Frau anzunehmen und die positiven Seiten zu sehen.
»Trotz der Widrigkeiten können Sie sogar die Saunahütte benutzen, die ich Ihnen gleich noch zeigen werde, und die Restauranthütte, weil beide ebenfalls mit Holzfeuer betrieben werden können.« Sie standen wieder in der Stube. Die Frau sah sie zufrieden an. »Und ich hoffe natürlich, dass Sie morgen wieder ganz normal den vollen Komfort Ihres Quartiers genießen können. Am Empfang steht übrigens ein funktionierendes Telefon, falls Ihre Mobilgeräte kein Netz haben.«
Sie zeigte ihnen noch Sauna und Restaurant. Danach holten sie ihr Gepäck und richteten sich ein.
»Wer darf als Erste ein Bad nehmen?«
Sie warfen eine Münze. Van Kaalden war die Glückliche.
»Zuerst Kühe melken, dann Schneeeimer schleppen«, maulte Terbanten.
»So haben bis vor hundert Jahren die meisten Menschen gelebt«, meinte Angström, während sie die Kübelöffnung durch den Schnee schob. »Und im Gegensatz zu uns ohne die Aussicht, dass es am nächsten Tag viel besser würde.« Sie merkte, dass die Bewegung sie richtig ins Schwitzen brachte.
»Zum Glück lebe ich heute«, sagte Bondoni.
»Sehen wir es einfach als lustiges Abenteuer an«, erwiderte Angström und trug zwei Schneeladungen ins Haus.
Saint-Laurent-Nouan
Den ausgefallenen Diesel hatte die Schicht von Marpeaux in der vergangenen Nacht zwar nicht mehr in Betrieb nehmen können, aber die anderen dafür vorgesehenen Systeme arbeiteten einwandfrei. Entspannt war Marpeaux frühmorgens nach Hause gefahren und hatte ein paar Stunden geschlafen. Danach war er in sein Auto gestiegen und hatte das Radio eingeschaltet. Die Nachrichtensprecher verkündeten gute Neuigkeiten. Während weite Teile Europas noch immer stromlos waren, hatten die französischen Betreiber wenigstens in ein paar Regionen das Netz unter Kontrolle gebracht. Bis zum Abend erwarteten sie in den meisten Landesteilen wieder eine Grundversorgung liefern zu können.
Marpeaux versuchte, seine Kinder zu erreichen, doch die Telefonnetze waren nach wie vor ausgefallen oder überlastet. Angesichts der öffentlichen Versprechen hatte auch seine Frau ihre Klagen eingestellt und bibberte dem baldigen Wiederanspringen der Heizung entgegen.
Als er am Abend seine Schicht antrat, begrüßte ihn sein Vorgänger mit guten Nachrichten.
»Vor ein paar Minuten kam die Anweisung, den Reaktor auf das Hochfahren vorzubereiten.«
Eine Situation, die Marpeaux im Lauf seines Arbeitslebens bereits Dutzende Male begleitet und geleitet und noch öfter geübt hatte. Der heikle Teil bestand darin, die Abstimmung mit den Netzbetreibern so zu koordinieren, dass die eingespeiste Energie keine Spannungsschwankungen verursachte. Marpeaux wusste, was er zu tun hatte.
»Sind wir schon am Netz?«
»Seit drei Stunden bekommen wir wieder regulären Strom.«
Damit hing die Notkühlung nicht mehr von den Dieselaggregaten ab.
»Was ist mit dem defekten Diesel?«
»Ist repariert.«
»Getestet auch?«
»Einsatzbereit. Viel Erfolg beim Hochfahren. Gute Nacht.«
Mailand
»Und was, wenn er recht hat?«, fragte Curazzo Trappano. »Eine Erklärung für die plötzlichen, großflächigen Ausfälle wäre es immerhin.«
»Hören Sie mir bloß damit auf! Wir haben schon so genug Schwierigkeiten.«
»Nur einmal angenommen«, ließ Curazzo nicht locker. »Sehen Sie hier die Zeitschiene.« Er holte ein Diagramm vom Nebentisch. »Gestern Abend begann der Ausfall. Plötzlich, ohne ersichtlichen Grund, in großen Regionen. Daraufhin die Kettenreaktion. Während der Nacht haben wir versucht, das Netz wieder hochzufahren. In vielen Gebieten gelang das. Für Mailand deckt sich das mit der Uhrzeit, die der Typ genannt hat. Hier. Aber kaum eine Stunde später fiel der Strom wieder großflächig aus. Als ob jemand nur darauf gewartet hätte, dass wir hochfahren, um die Haushalte erneut vom Netz zu nehmen und damit unkontrollierbare Frequenzschwankungen auszulösen, die abermals zum Zusammenbruch führten.«
Trappano fixierte Curazzo. »Niemand nimmt einfach so Millionen Haushalte vom Netz. Ich will nichts mehr davon hören, solange wir nicht alle sinnvollen Möglichkeiten durchgespielt haben.«
Ischgl
Manzano bedankte sich bei dem Mann, der ihnen im Licht der Taschenlampe den Weg erklärt hatte. Von dem Alpendorf ringsum war nicht viel zu erkennen. Die Straßen lagen im Dunklen. Hinter vielen Fenstern erkannte Manzano das schwache Licht von Kerzen. Er war froh, unter diesen Bedingungen überhaupt jemanden auf der Straße angetroffen zu haben. Er gab die Straßenkarte Bondoni zurück.
»Hoffentlich brauchen wir keine Schneeketten«, meinte er. In radebrechendem Englisch hatte der Mann erklärt, dass sie noch eine kurvige Bergstraße zu erklimmen hatten, um das Ferienquartier von Bondonis Tochter zu erreichen.
»Hoffentlich ist Lara überhaupt da«, erwiderte Bondoni. »Eine Schnapsidee, diese Fahrt.«
In den Kurven beleuchteten die Lichtkegel der Scheinwerfer die Schneewände zu beiden Seiten der Straße. Nach einer halben Stunde Fahrt durch tiefste Dunkelheit entdeckten sie unterhalb der Straße endlich ein paar Lichter.
»Das muss es sein.«
Sie fanden die Zufahrt in der Schneewand und parkten auf einem freigeschaufelten Flecken, wo noch andere Autos standen. Manzano leuchtete die Wagen mit der Taschenlampe ab.
»Da ist ein belgisches Kennzeichen. Weißt du, mit was für einem Auto sie unterwegs sind?«
»Keine Ahnung.«
Auf der ersten Holzhütte stand »Empfang«. Sie traten ein. Hinter einem Tresen begrüßte sie eine junge Frau in Tracht. Daneben stand eine Sitzgruppe um einen offenen Kamin, in dem ein gemütliches Feuer knisterte.
Manzano erklärte der jungen Frau, wer sie waren und wen sie suchten. Die Dame beäugte sie skeptisch, gab aber schließlich zu, dass Lara Bondoni und drei weitere Gäste vor etwa drei Stunden angekommen waren.
»Zum Glück!«, rief Bondoni. »Aber wieso erst jetzt?«
Die Empfangsdame brachte sie zu der Hütte.
»Papa! Was machst du denn hier? Und du, Piero?«
Manzano kannte Lara von den Besuchen bei ihrem Vater, wenn auch nur flüchtig. Er konnte sie gut leiden. Sie war eine kleine, quirlige Person mit einem Kopf, der hauptsächlich aus einer braunen Haarmähne bestand.
»Kommt rein! Was hast du mit deiner Stirn gemacht?«, fragte sie und zeigte auf Manzanos genähte Verletzung.
»Kleiner Unfall«, sagte er, und wieder stiegen die Bilder der eingeklemmten Opfer hoch.
Hinter Lara Bondoni erschien eine zweite Frau. Manzano schätzte sie auch auf Mitte, Ende dreißig. Sie war größer, schlank, mit langen, glatten, dunklen Haaren, die in einem interessanten Gegensatz zu ihren blauen Augen standen. Lara Bondoni stellte sie als Chloé Terbanten vor.
Die Hütte wirkte klein, aber fein. In der Stube knisterte ein behagliches Feuer in einem offenen Kamin. Auf der Bank, die den Raum an zwei Wänden umlief, saß, die Füße hochgelegt, eine dritte Frau. Als Manzano und Bondoni eintraten, stand sie auf. Sie war etwa so groß wie Terbanten. Auch unter ihrem dicken Skipullover mit dem Norwegermuster erahnte Manzano ihre weiblichen Formen. In ihrem Gesicht saß eine freundliche Stupsnase mit ein paar Sommersprossen, die blonden Haare waren kinnlang geschnitten. Ihre blauen Augen schienen zu leuchten. Sie schielten kurz auf seine Stirn, doch ihre Besitzerin fragte nicht. Hier könnte es mir gefallen, dachte Manzano, umringt von den drei Frauen.
»Sonja Angström«, erklärte Lara Bondoni. »Der schwedische Teil unseres Quartetts. Die vierte, unsere Niederländerin, liegt noch oben in der Badewanne.«
»Ihr habt heißes Wasser?«, rief Bondoni aus. »Und eine Badewanne?«
Seine Tochter lachte auf. »Aber nur, wenn wir hart dafür arbeiten. Sag nicht, dass ihr für ein heißes Bad von Mailand hierhergekommen seid.«
Berlin
Michelsen missbilligte die Entscheidung der Regierung, nicht allen Ländern die sofortige Ausrufung des Katastrophenfalls zu empfehlen. Aber ihre Meinung behielt sie besser für sich.
Zufrieden war sie dagegen mit der Einrichtung eines erweiterten Krisenstabs. Für den nächsten Tag waren eine Sondersitzung der Regierung und ein Sondertreffen des Kabinetts mit den Regierungschefs der Länder anberaumt, sollte sich die Lage bis dahin nicht dramatisch verbessert haben.
Noch intensiver würde man zudem die europäischen Institutionen in das Prozedere einbeziehen, auch wenn die Regierung keine Hilfe anfordern wollte. Angesichts der vorhandenen Informationen hätten die aber ohnehin nur wenige Länder leisten können. Norwegen, Frankreich und einige andere hatten ihre Netze teilweise wieder aufbauen können. Doch auch sie hatten vorerst noch genug mit der Situation in ihrem eigenen Land zu tun.
Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 hatte in der gesamten westlichen Welt ein Umdenken des Bevölkerungsschutzes begonnen, auch in Deutschland. Zu sehr hatte man bis dahin auf regionale Organisationen gesetzt, sei es durch Länder oder Staaten. Im neuen Jahrtausend hatte man begriffen, dass Bevölkerungsschutz und Notfallvorsorge so viele Bereiche der Gesellschaft betrafen, dass sie eine gesamtstaatliche Aufgabe waren. Nicht minder galt das für das zusammenwachsende Europa. Deshalb mussten Systeme entwickelt werden, die alle staatlichen, öffentlichen und privaten Akteure mit einbezogen.
Sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene waren in den folgenden Jahren Strukturen geschaffen – oder zumindest angeregt – worden, die im Ernstfall Kommunikation und Hilfe großräumig besser organisieren sollten. Mit der Einrichtung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe im Innenministerium war in Deutschland sogar eine eigene Behörde dafür geschaffen worden.
Bislang hatten dem Krisenstab nur Beamte des Innenministeriums angehört. Nun wurde eine interministerielle Koordinierungsgruppe von Bund und Ländern eingerichtet. Die Führung übernahm das Innenministerium, konkret Staatssekretär Rhess. Michelsens direkter Vorgesetzter, der Leiter der Abteilung Krisenmanagement und Bevölkerungsschutz, war nach wie vor nicht aufgetaucht, und sie hatten nichts von ihm gehört. Hoffentlich war ihm nichts zugestoßen.
Sie belegten ein paar Räume rund um den bisherigen Lagevortrags- und Besprechungsraum. Ein weiteres Konferenzzimmer wurde eingerichtet, außerdem ein großer Arbeitsraum für das Verbindungspersonal des Krisenstabs und der IntMinKoGr, wie die nicht merkbare Abkürzung der Interministeriellen Koordinierungsgruppe lautete. Dort saßen alle jene Beamten, die aus anderen Ministerien stammten. Hier waren sie permanent mit dem Gemeinsamen Melde- und Lagezentrum verbunden, hielten Kontakt zu den Krisenstäben, die in ihren jeweiligen Häusern eingerichtet wurden, und zu den Krisenstäben der einzelnen Länder. Ein Büro wurde für den Vorsitzenden der IntMinKoGr bereitgestellt, ein weiteres als dessen Besprechungs- und Arbeitsraum. Der gesamte Bereich war nur von autorisierten Personen mit Zugangscodes an den elektronisch verriegelten Türen zu betreten. Notstromaggregate mit Reserven für mehrere Wochen sorgten für das Funktionieren der Technik.
Der Stromausfall betraf zahlreiche Bereiche des Lebens, vom Verkehr über die Lebensmittelversorgung bis zu Sicherheitsfragen. Aus entsprechend vielen Ministerien zählte Michelsen Repräsentanten. Insgesamt waren sechs Ressorts vertreten: neben dem federführenden BMI das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, jenes für Gesundheit, das BM für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, das Ministerium für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit und das Auswärtige Amt.
In den Räumen herrschte geschäftiges Treiben. Die Beamten prüften ihre Computer und Telefone, verstauten Unterlagen auf ihren Tischen und in den Rollcontainern darunter. Alle stellten sich auf eine weitere lange Nacht ein. Michelsen hatte bereits bei ihrem letzten Besuch in ihrer finsterkalten Wohnung Kleidung und Hygieneartikel für drei Tage mitgenommen. Sie wollte hier auf alles vorbereitet sein. Nachdem sie es schon zu Hause nicht gewesen war. Gerade wollte sie einen Vertreter des Technischen Hilfswerks anrufen, als die Beamtin des Ministeriums für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu ihr eilte. In ihrem Windschatten folgte ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amts.
»Wir haben eben eine Meldung aus Tschechien erhalten«, sagte die Frau.
Michelsen schielte auf ihr Namensschild: Petra Majewska.
»Im Kraftwerk Temelín gibt es einen Zwischenfall.«
Michelsen spürte eine kalte Hand ihren Rücken hinabgleiten. Das AKW wurde seit Jahren wegen seiner zweifelhaften Sicherheitsstandards kritisiert. Und es lag nur sechzig Kilometer von der deutschen Grenze entfernt.
»Die tschechischen Behörden sind nicht für ihre Auskunftsfreude bei Zwischenfällen in ihren Reaktoren bekannt«, bemerkte Michelsen, und die kalte Hand kroch auf ihrem Rücken wieder hoch. »Womit müssen wir rechnen, wenn sie freiwillig etwas sagen?«
»Offiziell«, antwortete Majewska, »sind zwei von drei Dieselgeneratoren für die Notstromversorgung eines Blocks ausgefallen. Die Tschechen betonen, dass die dritte Maschine den Reaktor trotzdem in einem sicheren Zustand halten kann und die Situation vollständig unter Kontrolle sei.«
Lieber Gott, dachte Michelsen, lass das die Wahrheit sein. Temelín lag zwar östlich der Bundesrepublik und damit in der überwiegend vorherrschenden Windrichtung. Doch das Wetter konnte drehen. Auch Tschernobyl, noch viel weiter östlich, hatte seinen verheerenden Fallout über ganz Europa verteilt. Bis heute, über ein Vierteljahrhundert später, konnten Teile der bayerischen Pilzernte und Wildschweinjagd wegen zu hoher radioaktiver Belastung nicht zum Verzehr freigegeben werden. Michelsen mochte in der gegenwärtigen Situation nicht daran denken, auch noch eine großräumige Evakuierung von Hunderttausenden Menschen vornehmen zu müssen.
»Was sagt die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien dazu? Haben die auch eine Meldung bekommen?«
Hoffentlich, dachte Michelsen, Wien lag kaum zweihundertzwanzig Kilometer von Temelín entfernt.
»Dieselben Informationen«, bestätigte Majewska.
»Immerhin«, seufzte Michelsen. Schon öfter war es vorgekommen, dass nationale und internationale Behörden verschiedene Nachrichten erhalten hatten. Hieß es gegenüber der IAEO etwa Störfall der INES-Stufe 0 oder 1, wurde dieser gegenüber den Österreichern und Deutschen schon einmal zur »Übung« verharmlost. Wobei die Vertuschung oder Verharmlosung von Zwischenfällen durchaus gern geübte Praxis der Verantwortlichen bei vielen Betreibern auch in anderen Ländern war.
»Bleibt dran. Fragt nach. Schaltet bei Bedarf die Ministerebene ein«, erklärte Michelsen. »Wir müssen sofort erfahren, was wirklich los ist. Oder wenn sich die Situation verschlechtern sollte.«
Sie selbst brauchte gerade keine Notkühlung. Die kalte Hand hatte sie fest im Nacken gepackt.
Ischgl
»Ist Ihnen klar, was es bedeutet, wenn Sie recht haben?« Angström hatte hauptsächlich Lachfalten um die Augen, war Manzano aufgefallen. Natürlich würde er einer Vierzigjährigen keine Komplimente wegen ihrer Falten machen, auch wenn sie ihm gefielen.
Im Raum war es sehr ruhig geworden, nachdem Manzano den Grund ihrer Reise erklärt hatte. Nur das Knacken des brennenden Holzes war zu hören. Inzwischen saß auch van Kaalden bei ihnen, die nassen Haare in ein Handtuch gewickelt.
»Es ist keine Frage mehr, ob ich recht habe«, erwiderte Manzano ruhig. »Da bin ich mir sicher. Entscheidend ist längst, was wir tun können. Tun müssen.«
Er sah in die Runde.
»Überlegen Sie selbst. Der Ausfall dauert schon über vierundzwanzig Stunden. In ganz Europa. Trotz der Beteuerungen, die man im Radio hört, ist keine Besserung in Sicht. Hat das schon einmal jemand von uns erlebt?«
»Selbst 2003 war bei uns nach einem Tag alles vorbei«, erinnerte Lara Bondoni. »Aber was schlägst du vor?«
»Du arbeitest bei der EU. Gibt es dort jemanden, dem wir unsere Beobachtungen mitteilen können?«
»Nicht nur ich«, antwortete Lara Bondoni. »Sonja auch.«
»Und nach allem, was Sie erzählt haben«, sagte Angström, »fürchte ich langsam um meinen Urlaub.«
»Nachdem dir die Italiener schon nicht zuhören wollten, denkst du, jemand bei der Europäischen Union tut das?«, fragte ihn Bondoni.
»Für einen dummen Scherz fahre ich nicht vierhundert Kilometer. Glaubt mir, diese Sache ist ernst. Sehr, sehr ernst.«
»Was meinst du, Sonja, betrifft dich das?«
Angström nickte nachdenklich. »Nicht direkt. Noch. Aber ich weiß, wer dafür zuständig ist.«
Brüssel
Terry Bilback war an seinem Arbeitsplatz zufrieden wie seit Langem nicht. Sein Büro war warm, die Toilette spülte, es gab heißes Wasser. Licht, Computer, Internet und sogar die Kaffeemaschine funktionierten. Im Gegensatz zu seiner überteuerten Zweizimmerwohnung in einem Brüsseler Vorort. Von der er heute nur mit dem Auto in die Avenue Beaulieu gelangt war. Die öffentlichen Verkehrsmittel standen still.
Die Zufriedenheit währte jedoch nicht lange. Wie seine Kolleginnen und Kollegen im Monitoring and Information Centre der Europäischen Union EUMIC, kurz MIC, hatte er mit einem baldigen Ende des Stromausfalls gerechnet.
Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil. Im Lauf des Vormittags trafen die ersten Meldungen und Bittgesuche aus den Mitgliedsländern ein.
Das MIC war rund um die Uhr mit etwa dreißig Beamten aus verschiedensten Nationen besetzt und übernahm drei Aufgabenfelder. Zum einen bildete es ein kontinentales Kommunikationszentrum. Im MIC liefen im Fall einer Katastrophe Bittgesuche und Assistenzangebote aus allen Mitgliedsstaaten zusammen. Neben den Mitgliedern der Europäischen Union zählten Norwegen und Island zu dem Verbund. Jedes Mitgliedsland besaß eine Kontaktstelle, die mit dem MIC in beiden Richtungen zusammenarbeitete. In Deutschland war das zum Beispiel das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum von Bund und Ländern.
Die zweite Aufgabe des MIC bestand in der Information aller Mitglieder, aber auch der breiten Öffentlichkeit, über aktuelle Aktivitäten und Interventionen. Im MIC Daily warnte es außerdem täglich vor möglichen Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Waldbränden.
Drittens unterstützte das MIC die Koordination der Hilfsmaßnahmen auf zwei Ebenen. In der Zentrale wurden Hilfsangebote und Bedürfnisse verglichen, Defizite identifiziert und Lösungen dafür gesucht. In die betroffenen Gebiete entsandte das MIC bei Bedarf Experten.
Allen Fällen gemein war immer ein Umstand: Das Hilfsgesuch kam aus einem Land. Die Hilfsangebote kamen aus Dutzenden anderen.
Doch bereits seit diesem Nachmittag war das anders. Eine Vorwarnung nach der anderen traf ein, dass ein Staat Hilfe brauchen könnte, darunter Italien, Spanien, Liechtenstein, Dänemark, Tschechien, Ungarn, die Slowakei, Slowenien und Griechenland.
Dagegen kamen aus keinem einzigen Land Hilfsangebote. Wer noch keinen Antrag gestellt hatte, kämpfte damit, die eigene Situation zu klären. Bilback rechnete mit den ersten konkreten Gesuchen im Lauf der nächsten Nacht, wenn sich die Versorgungssituation nicht schnell dramatisch verbesserte.
Die große Frage war: Woher sollte Hilfe kommen?
Er überlegte, ob sie ihre Schicht heute würden verlängern müssen. Sollte sich die Lage nicht entspannen, würden sie womöglich alle verfügbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter benötigen. In seine kalte, wasserlose Wohnung zog es ihn ohnehin nicht. Ging es nach ihm, blieb er gern über Nacht. Zur Not gab es sogar ein paar Duschen im Gebäude.
Sein Telefon läutete. Das tat es schon den ganzen Tag. Die Nummer kannte er nicht. Eine österreichische Vorwahl.
»Hallo, Terry! Hier spricht Sonja Angström.«
»Sonja, bist du gut angekommen?«
Angström lachte. »Mit Hindernissen. Die Tankstellen können kein Benzin mehr pumpen.«
»Was habt Ihr gemacht?«
»Kühe gemolken.«
»Wie bitte?«
»Erzähle ich dir ein anderes Mal. Hör zu. Du bist sicher im Stress. Hast du trotzdem kurz Zeit?«
»Gibt es Strom, da wo du bist? Österreich, wenn ich die Vorwahl richtig gelesen habe.«
»Ja, Österreich. Nein, was den Strom betrifft. Bei euch?«
»Wer Notstrom hat, dem geht es gut. Also uns im Büro. Dafür geht es hier drunter und drüber, wie du dir vorstellen kannst.«
»Habt ihr schon Hilfsgesuche?«
»Noch nicht. Aber bald, wenn es so weitergeht.«
»Könnte gut sein. Deshalb rufe ich an. Ich habe da eine seltsame Geschichte erfahren. Wir sind nicht der korrekte Ansprechpartner dafür. Ich schätze, das wäre eigentlich Europol. Aber ich habe keine der Nummern mit.«
»Worum geht es denn?«
»Das erklärt dir am besten der Bekannte einer Freundin, mit der ich hier Urlaub mache. Er heißt Piero Manzano, ist ein italienischer Programmierer und hat etwas Beunruhigendes entdeckt.«
Ischgl
Nachdem Manzano seine Erklärungen in fast fließendem Englisch beendet hatte, sah Angström, wie sich zwei tiefe Falten zwischen seine Augenbrauen gruben.
»Was heißt, Sie sind nicht zuständig?«, rief der Italiener in den Telefonhörer. Sie gab ihm ein Zeichen, ihr den Hörer zu geben.
»Typisch Behörde«, schimpfte er, während er ihr den Hörer reichte.
»Terry, was ist los?«
»Ich wollte ihm gerade sagen, wie wir am besten vorgehen, da hat er schon losgeblafft …«
»Er hat schlechte Erfahrungen mit Verantwortlichen in Italien gemacht.«
»Verstehe. Klingt auch ziemlich nach Verschwörungstheorie, was er da von sich gibt. Was für ein Typ ist der denn?«
»Wirkt vernünftig.«
»Wenn er recht hat, lässt das eigentlich nur drei Schlüsse zu: ein technisches Gebrechen. Wäre aber schon ein dummer Zufall. Die Alternativen sind eine kriminelle oder sogar terroristische Aktion. Ich will gar nicht daran denken. Bei der EU dafür zuständig wären das Büro des Anti-Terrorbeauftragten oder Europol.«
»Die keine gewöhnliche Notrufnummer haben, und die erreichbaren Nummern habe ich natürlich nicht bei mir.«
»Ich kann sie dir geben.«
»Besser, jemand ruft von einem internen Anschluss an.«
»Du meinst, ich …« Er holte kurz Luft. »Woher weiß ich, dass ich mich nicht komplett lächerlich mache, wenn ich dort mit einer solchen Geschichte aufschlage?«
»Gar nicht. Aber vielleicht wirst du der Held, der als Erster die Nachricht überbracht hat.«
»Du weißt, was den Überbringern schlechter Nachrichten geschieht.«
»Falls an der Story etwas dran ist, überbringst du eine gute Nachricht: nämlich, dass man die Ursache der Ausfälle kennt. Und damit beheben kann.«
Schweigen am anderen Ende. Dann: »Wie hieß der Typ noch mal? Gib mir ein paar Infos. Name, Geburtsdatum, Adresse.«
Angström fragte Manzano.
»Wozu will er das wissen?«, erkundigte sich der Italiener.
»Weil er lieber weiß, von wem er Informationen weitergeben soll.«
»Piero Manzano, geboren am 3. Juni 1968, wohnhaft Via Piero della Francesca, Mailand.«
Sie gab die Informationen an Bilback weiter. Durch das Telefon hörte sie das Klappern seiner Tastatur. Dann sagte er: »Gib mir ein paar Minuten. Wo kann ich dich erreichen? Unter der Nummer, die ich auf dem Display sehe?«
»Hoffentlich.«
Angström legt auf. Sie fasste den Anwesenden das Gespräch zusammen.
»Das Büro des Anti-Terrorbeauftragten oder Europol«, schimpfte der alte Bondoni. »Wer denn nun? Arbeitet in dem Laden und weiß nicht, wen er anrufen soll?«
»Das wird so sein wie bei uns im Konzern«, seufzte Terbanten. »Bei manchen Themen weiß ich nicht, ob ich damit zur Marketingabteilung gehen muss oder zur Werbung, zum Vertrieb oder zu Investor Relations.«
»Und wohin gehst du dann?«, fragte Lara Bondoni.
»Zu allen.«
»Das macht Terry jetzt auch«, sagte Angström.
»Glaube ich erst, wenn er zurückruft«, murmelte Manzano.
Den Haag
François Bollard stand am Wohnzimmerfenster und schaute hinaus in den Regen. Langsam wurde es dunkel. Auf der Wiese des kleinen Gartens standen alle Gefäße, die sie im Haus gefunden hatten, Eimer, Schüsseln, Töpfe, Trinkgläser, Becher, Plastikgefäße, Suppenteller. Die Regentropfen ließen die Wasserflächen darin tanzen. Hinter seinem Rücken spielten die Kinder. Seine Frau Marie saß auf dem Sofa und las. Kerzen spendeten Licht. Im offenen Kamin brannte ein Feuer. Der Raum war als einziger im Haus angenehm warm.
Bollard hatte die Idee gefallen, in einer Stadt zu arbeiten, die ihm wie ein Sinnbild Europas und seiner Verwaltung erschien. Prunkvolle Bürgerhäuser erzählten von Den Haags reicher Vergangenheit, und der Regierung und der Königin gefiel es in der beschaulichen Stadt besser als in Amsterdam. Die eine hatte hier ihren Sitz, die andere ihre Residenz. Mit seiner Frau und den beiden Kindern bewohnte er ein hübsches Häuschen aus dem neunzehnten Jahrhundert, fünfzehn Gehminuten vom Meer entfernt, mit steilen Treppen und viel Holz. Die Kinder besuchten die internationale Schule, seine Frau arbeitete als Übersetzerin.
Als er das Angebot vor einem Jahr bekommen hatte, war wenig Zeit zum Überlegen geblieben. Doch der Zeitpunkt war günstig gewesen. Bernadette stand vor dem Schuleintritt und Georges vor dem Wechsel aufs Gymnasium. Beides hatten sie zwar in Paris bereits mit Mühen gefunden, doch die internationalen Schulen in Den Haag hatten genug Plätze frei. Wenn man dafür bezahlte. Als französischer Beamter bei Europol konnte er sich beides leisten. Nach den Jahren im Ministerium hoffte Bollard zudem in dem internationalen Umfeld auf neue Herausforderungen. Und die weiteren Aussichten nach der Rückkehr von einem zweijährigen Auslandsaufenthalt waren sehr positiv. Vorausgesetzt, er pflegte in dieser Zeit seine Kontakte. Doch darin war er immer gut gewesen. Warum also nicht von Den Haag aus? Paris war gerade einmal fünfhundert Kilometer entfernt. Mit dem Flugzeug dauerte es eine Stunde bis dorthin. Wenn der Flug nicht abgesagt wurde. So wie gestern Abend.
Sie hatten sich nicht in die lange Schlange derjenigen gestellt, die Auskunft wollten oder brauchten. Zu ihrem Glück war Schiphol weder Zwischenstation gewesen, noch lag es Hunderte Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Sie hatten sich ins Auto gesetzt und trafen eine Stunde später wieder in Den Haag ein. Es war eine eigenartige Fahrt gewesen. Die sonst beleuchtete Autobahn war dunkel, der Verkehr dicht.
Bollard ging in den Flur zur Gartentür und zog Gummistiefel sowie Regenjacke an. Im Garten füllte er sieben fast volle Gefäße in einen großen Eimer um und stellte sie wieder auf. Den Eimer brachte er in das Badezimmer im ersten Stock und leerte ihn in die viertelvolle Badewanne. Dann stellte er ihn wieder in den Garten und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
»Kannst du nicht doch irgendwo ein Notstromgerät für uns auftreiben?«, fragte Marie.
»Europol hat keine, wenigstens nicht für private Zwecke ihrer Mitarbeiter.«
Seine Frau seufzte. »Das ist einfach nicht normal. Der Strom müsste längst wieder da sein.«
»Sollte man glauben«, meinte Bollard.
»Du hast doch auch mit kritischen Infrastrukturen zu tun.«
»Erst wenn die Situation etwas mit Terrorismus zu tun hat. Und dafür gibt es keine Anhaltspunkte oder Hinweise.«
»Was kein Wunder ist«, erwiderte Marie. »Die Schwachköpfe in den einzelnen Staaten backen lieber ihre eigenen kleinen Brötchen, als das große Ganze zu sehen.«
Die kleine Spitze gegen ihn ärgerte ihn. Er war kein großer Freund Europas, der Job ausgerechnet bei einer europäischen Institution für ihn nur eine Stufe zu einer besseren Position in Frankreich. Marie zog ihn gern mit diesem Widerspruch auf. Trotzdem fühlte er sich zur Verteidigung der Institution gezwungen.
»Oder es gibt schlicht und ergreifend nichts zu berichten.«
»Dein Wort in Gottes Ohr.«
In diesem Moment läutete das Telefon. Er eilte in den Flur, wo es auf einem kleinen Tischchen stand, und hob ab. Der Anrufer stellte sich als ein Däne vom Journaldienst heraus, der einen britischen Kollegen verbinden wollte, der aus Österreich einen Anruf von einem Italiener erhalten hatte. Bollard verdaute noch die Informationen, als es in der Leitung bereits klickte.
Der Brite, ein gewisser Terry Bilback, arbeitete im Monitoring and Information Centre der EU in Brüssel und erzählte eine eigenartige Geschichte von Codes in italienischen Stromzählern. Bollard hörte aufmerksam zu, fragte nach. Als Antwort gab ihm der Brite einen Namen, ein paar Daten dazu und eine Telefonnummer. Dort würde er den Italiener erreichen und mehr erfahren.
Bollard legte auf. Er dachte über das Gehörte nach. Dann wählte er die österreichische Nummer.
Ischgl
Manzano legte auf.
»Und?«, fragte ihn Angström, als er sich zu den anderen gesellte, die es sich vor dem Kamin in der Empfangshütte gemütlich gemacht hatten. Alle sahen ihn gespannt an.
»Das war jemand von Europol«, erklärte er. »Angeblich will er die italienischen und schwedischen Behörden informieren.«
»Hoffentlich nicht auf dem Amtsweg«, warf van Kaalden ein. »Sonst sitzen wir hier noch lange an unserem Höhlenfeuer.«
Hoffen wir, dass dieser Vergleich nicht realer wird als in diesem Augenblick, dachte Manzano. Nur kurz und leise hatte er mit dem Franzosen von Europol die möglichen Konsequenzen seiner Entdeckung besprochen. Er schob den beängstigenden Gedanken beiseite.
»Gibt es für mich auch etwas zu trinken?«, fragte er mit gespielter Fröhlichkeit.
Lara Bondoni reichte ihm einen Becher mit einer dampfenden, duftenden Flüssigkeit. »Um ein Quartier für euch haben wir uns schon gekümmert. Wegen der Verhältnisse konnten nicht alle Gäste anreisen. Ein paar Hütten sind frei. In einer könnt ihr heute übernachten. Das ist sicher gemütlicher als in euren kalten Wohnungen«, lachte sie und prostete ihm zu.
Manzano trank und hoffte, dass der Alkohol seine düsteren Ahnungen vertrieb.
»Jetzt erzählen Sie mir einmal genauer, wo Sie eigentlich arbeiten«, forderte er Angström auf. »Sie scheinen ja ganz gute Verbindungen zu haben.«
Den Haag
Bollard ging ins Wohnzimmer.
»Ich muss kurz ins Büro.«
Marie sah auf.
»Jetzt? Am Samstagabend?« Sie musterte ihn, versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Sie wusste, was es bedeutete, wenn er ernsthaft gebraucht wurde.
»Muss ich mir Sorgen machen?«
»Nein«, log er.
Mit dem Auto fuhr er nur zehn Minuten durch die finsteren Straßen. In der Europol-Zentrale im Statenkwartier brannten ein paar Lichter. Der Bau war nach den modernsten Erkenntnissen zum Umweltschutz erbaut. Zum Glück hatte man auch Sicherheitsfaktoren ausreichend berücksichtigt. Die Notstromaggregate funktionierten. Erst 2011 hatten sie die neue Zentrale bezogen. Neben Europol beherbergte der Komplex unter anderem die Organisation zum Verbot chemischer Waffen, OCPW, den internationalen Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, ICTY, und das World Forum Convention Centre. Dazu gab es Konferenz-, Presse- und Trainingsräumlichkeiten, Restaurants und andere Einrichtungen.
Bollard suchte Dag Arnsby auf, der ihm den Anruf vermittelt hatte.
»Du hattest Glück, mich zu erreichen. Eigentlich sollte ich in Paris sein.«
»Weiß ich«, antwortete der füllige Mann mit den dunklen Locken. »Aber offensichtlich war es richtig.«
»Weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall trifft es sich, dass du da bist. Lass uns einmal in die Datenbank sehen.«
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Arnsby.
»Sieh mal nach, ob wir zufällig etwas über einen gewissen Piero Manzano haben.«
Seit 2005 führte Europol ein automatisiertes Informationssystem. In dieses pflegten die Mitgliedsstaaten Daten über Verurteilte und Verdächtige ein. In einer weiteren Analysedatenbank fanden sich zudem Informationen über Zeugen und Opfer von Straftaten, Kontakt-, Begleit- und Auskunftspersonen. Auf sie hatten nur Analysten wie Arnsby Zugriff. Bollard dachte an die gelegentlich aufflammenden Diskussionen über Datenschutz. Nicht jeder fand die Kontrollmechanismen so ordentlich wie er.
Arnsby gab den Namen des Italieners ein.
»Ist er das?«, fragte Arnsby.
Das Bild auf dem Monitor zeigte einen Mann mittleren Alters. Kantige Züge, markantes Kinn, schmale Nase, kurze, schwarze Locken, braune Augen, blasser Teint.
»Piero Manzano«, las Bollard laut. »Eins siebenundachtzig, achtundsiebzig Kilo, dreiundvierzig Jahre alt, Programmierer. Gehörte jahrelang zu einem Verein italienischer Hacker, die in Computernetze von Unternehmen und staatlichen Behörden eindrangen, um Sicherheitsmängel aufzudecken. Wurde deshalb Ende der Neunzigerjahre sogar einmal verurteilt. Allerdings nur bedingt. Außerdem taucht er auch auf Demonstrationen im Rahmen der ›Mani pulite‹ auf. 2001 bei den G-8-Protesten in Genua kurzfristig verhaftet.«
Bollard erinnerte sich. Genua war ein Debakel für das Image der italienischen Polizei gewesen. Bei den schweren Ausschreitungen rund um das Gipfeltreffen der acht einflussreichsten Regierungschefs der Welt war ein Demonstrant erschossen worden, Hunderte zum Teil schwer verletzt, weil Teile der italienischen Polizei mit äußerster Brutalität vorgegangen waren. Einige Beamte waren dafür später sogar von Gerichten verurteilt worden. Andere waren wegen Verjährung davongekommen.
»Aus dieser Ecke kommt der also«, bemerkte Bollard, mehr zu sich selbst. Seit frühester Kindheit eingebettet in das Beziehungssystem jener oberen Mittelschicht Frankreichs, die sich der Oberschicht zugehörig fühlte, betrachtete er Aktivisten, besonders die des linken Spektrums, skeptisch. Auch wenn er die Aktionen der italienischen Kollegen von Beginn an verurteilt hatte, wäre er nie in die Verlegenheit geraten, ihnen bei einer Demonstration gegenüberzustehen. Aber er konnte schon verstehen, dass man nicht immer nur vernünftig reagierte, wenn man mit Steinen beworfen wurde.
»Arbeitet offiziell als selbstständiger IT-Berater. Wird jedoch verdächtigt, weiterhin aktiv zu sein. Es konnte ihm aber nie mehr nachgewiesen werden. Der weiß also, wovon er redet, wenn ihm Codes in seinem Stromzähler nicht gefallen«, meinte Arnsby.
»Das fürchte ich auch. Er gab mir sogar noch Tipps. Die italienische Stromgesellschaft sollte als Erste die Logs der Router prüfen. Was immer das ist.«
»Wenn er die Wahrheit sagt, bedeutet es das, was sich mein uninformiertes Hirn zusammenreimt?«
Bollard hatte während der kurzen Fahrt ins Büro an nichts anderes gedacht. Alle Möglichkeiten und Szenarien flüchtig durchgespielt.
»Ich will keine unnötige Panik verbreiten. Aber gut wäre es nicht. Ganz und gar nicht gut.«
»Du meinst, wenn jemand in Italien das Stromnetz infiltrieren, manipulieren und lahmlegen kann, gelingt ihm das auch woanders.«
Bollard zuckte nur mit den Augenbrauen und schob den Unterkiefer vor.
»Auf jeden Fall können wir es nicht ganz ausschließen.«
»Was tut man in so einem Fall?«
»Man informiert den Leiter des Operations Department. Der leitet das an den Direktor und alle betroffenen Abteilungen im Haus weiter. Dann berät man sich.«
»Bis dahin ist der Strom längst wieder da«, wandte Arnsby ein. »Heute ist Samstag. Abend.«
»Mich hast du auch erreicht. Im Ernstfall würde man dann die Verbindungsbüros der entsprechenden Mitgliedsstaaten kontaktieren, also Italien und Schweden.«
»Was meinst du, als Leiter der Abteilung Counter Terrorism? Ist das ein Ernstfall? Und warum Schweden?«
»Dieser Herr hier«, Bollard zeigte auf den Bildschirm, »vermutet in Schweden dieselbe Geschichte, weil dort auch schon alle mit intelligenten Stromzählern ausgestattet sind. Ich habe ihm gesagt, dass dadurch nicht ganz Europa ausfällt.«
»Was hat er gemeint?«
»Dasselbe, wie du vermutest. Dass der angenommene Unbekannte woanders auch noch seine Finger im Spiel haben müsste.«
»Aber wo?«
»Weiß man nicht. Das wäre das Problem.«
»Kann das einer allein?«
»Natürlich nicht. Und das wäre das nächste Problem.«
»Ein richtig großes.«
»Jetzt malen wir nicht den Teufel an die Wand.«
»Du müsstest alle Kontaktbüros informieren.«
»Das wäre übertrieben. Wir reden hier völlig hypothetisch. Wenn überhaupt, sollten die Italiener und Schweden nachsehen. Müssten sich eben beeilen, damit wir möglichst bald etwas wissen.«
»Und was, wenn der Typ sich einfach nur wichtig machen will?«
Bollard verzog den Mund. »Dann mache ich mich vor allen Kollegen lächerlich. Und Europol wird zum Gespött der internationalen Kontaktleute. Und der Medien.«
»Eine schöne Wahl. Was wirst du tun?«
Mailand
Von den vergangenen sechsunddreißig Stunden hatte Curazzo eine geschlafen. Als Assistent des Technikvorstands stand er an vorderster Front. Nicht viel anders erging es der restlichen Mannschaft im Krisenzentrum. Die Luft war stickig, die Leute gereizt. Längst war die formale Disziplin verschwunden. Hemdkragen standen offen, Sakkos hingen irgendwo, aufgerissene und zerknüllte Lebensmittelverpackungen lagen auf und unter den Tischen. Die Versorgung mit Essen und Trinken würde bald zum Problem werden. Die Reserven der Kantine waren fast verbraucht. Supermärkte und Läden hatten geschlossen. So wie die Restaurants. Die Verantwortlichen waren bereits beauftragt worden, für Nachschub zu sorgen.
In welches Gesicht Curazzo auch sah, er erblickte nur Müdigkeit und Enttäuschung.
»Ich verstehe es nicht«, sagte Franco Solarenti, Leiter des technischen Krisenmanagements. »Wir haben eine ganze Menge Kraftwerke verloren. Achtzig Prozent haben Probleme beim Hochfahren. Immer wieder kommt es zu Fehlermeldungen. Einige Trafos sind auch hinüber.«
»Dass ein paar wenige Kraftwerke durch die Spannungsschwankungen in Mitleidenschaft gezogen wurden, ist schon möglich«, bemerkte ein leitender Ingenieur. »Aber so viele …«
»Puh, bei den Sparmaßnahmen der vergangenen Jahre …«, meinte Solarenti. »Ich habe davor immer gewarnt.«
»Meine Herren, das hilft uns nicht weiter.« Franco Tedesci, Technikvorstand. »Wir brauchen eine Lösung. Und wir brauchen sie schnell.«
Curazzo nickte abwesend. Sein Walkie-Talkie läutete in seiner Hosentasche. Der Empfang meldete Besuch für den Vorstand.
»Wer soll das sein?«
»Polizei.«
»Ich komme.«
Ohne ein weiteres Wort verließ er die Runde und ging in die Empfangshalle.
Die beiden Männer sahen nicht aus wie Polizisten. Einer stellte sich als Dottore Ugo Livasco vor, der andere als Ingegnere Emilio Dani.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Wir haben einen Ermittlungsauftrag von Europol«, erklärte der Ingegnere. »Sie haben Hinweise erhalten, dass italienische Stromzähler manipuliert wurden und dies der Auslöser für den Stromausfall sein könnte.«
Curazzo schoss das Blut in den Kopf. Der Kerl vom Morgen fiel ihm ein. Nachdem Curazzos zweiter Versuch, das Thema auf den Tisch zu bringen, vom Vorstand abgeschmettert worden war, hatte niemand mehr daran gedacht. Schnell bekam er sich wieder in den Griff.
»Das halte ich für unmöglich«, vertrat er die Vorstandslinie. »Unsere Systeme sind getestet und sicher.«
Dani zuckte mit den Schultern. »Glauben Sie mir, ich hätte auch bessere Ideen, mir die Samstagnacht um die Ohren zu schlagen. Zumal ich zu Hause für solche Fälle einen Dieselgenerator stehen habe«, bemerkte er zufrieden. »Wir würden uns freuen, wenn wir in der Sache zusammenarbeiten können. Dann haben wir diesen Verdacht in ein paar Stunden aus der Welt.«
Nach bald zwei Tagen und Nächten auf den Beinen war jedes Gesicht in der Enel-Zentrale bleich. Doch in diesem Moment wurden alle kalkweiß. Sie hatten nicht lange suchen müssen. Die IT-Forensiker der Polizei hatten vorgeschlagen, als Erstes die Logs der Router zu prüfen.
»Warum gerade die?«
»Wir haben einen Tipp bekommen.«
Binnen weniger Minuten waren sie fündig geworden.
Im Prinzip waren die intelligenten Stromzähler in den italienischen Haushalten und Unternehmen über verteilende Router untereinander verbunden wie jedes andere Computernetz. Aus diesen ließen sich Log-Daten auslesen, die alle an die Zähler gesandten Signale dokumentierten.
»Da drinnen findet sich tatsächlich der Befehl, die Verbindung zum Stromnetz zu unterbrechen.«
Vier Dutzend Menschen hatten sich vor dem großen Bildschirm versammelt, auf dem der Leiter des Krisenmanagements, Solarenti, die zugehörigen Dateien und Grafiken zeigte. Meistens waren es für Nicht-Programmierer unverständliche Buchstaben- und Zahlenkolonnen. Mit einer Gänsehaut am ganzen Körper folgte Curazzo den Ausführungen.
»Diese Befehle kommen aber nicht von uns«, fuhr Solarenti fort. »Sondern von außerhalb. Jemand hat sie in einen Zähler eingespielt. Von dort wurden sie nach und nach an alle Zähler im Land verbreitet. Dazu braucht es nicht einmal einen Virus. Der Befehl wird wohl per Funk weitergeleitet.«
Er ließ seine Worte wirken. Curazzo hörte nicht einen Atemzug in Raum. Nur das leise Summen der Maschinen.
»Mein Gott«, sagte jemand in die Stille.
»Wie kann denn das passieren?«, rief eine andere Stimme. »Was ist mit unseren Sicherheitssystemen?«
»Das versuchen wir gerade herauszufinden.«
»Das heißt, jemand hat uns tatsächlich das Licht ausgeknipst«, bemerkte ein anderer. »Dem ganzen Land.«
»Nicht nur aus«, erwiderte Solarenti. »Und das macht die Sache noch schlimmer. Zuerst hat dieser Jemand Haushalte und Unternehmen vom Stromnetz genommen. Darauf brachen die Netze zusammen. Als wir endlich wieder einigermaßen stabile Netze in einigen Gebieten hatten, schaltete ein weiterer Fremdbefehl die Zähler wieder ein. Dadurch gingen zu viele Haushalte und Unternehmen mit einem Schlag zurück ans Netz. Das führte erneut zu Spannungsschwankungen im Netz, und es brach abermals zusammen.«
»Da spielt also jemand Katz und Maus mit uns!«
»Das ist die schlechte Nachricht. Wir haben aber auch eine gute. Jetzt, da wir die Ursache kennen, können wir diesen Befehl zur Stromabschaltung blockieren. Wir arbeiten bereits daran. In zwei Stunden sollte der Spuk ein Ende haben.«
Wo in Filmen an dieser Stelle Applaus und Jubel aufbrandeten, blieb es in der Krisenzentrale sehr still. Die Kollegen flüsterten miteinander. Langsam sickerte die Bedeutung des Gesagten in ihr Bewusstsein. Das italienische Stromnetz war Opfer eines Angriffs geworden. Noch wussten sie nicht, von wem. Oder warum. Sie hatten keine erpresserischen Forderungen erhalten. Oder Drohungen.
»Das ist ein Desaster«, stöhnte Tedesci. »Meine Herren«, wandte er sich an die beiden Kriminalisten, die neben ihm standen. »Wir sollten den Ball in dieser Sache flach halten.«
Die beiden sahen ihn abwartend an.
»Auf keinen Fall darf die Öffentlichkeit davon erfahren«, fuhr er leise und hektisch fort. »Und eigentlich müssen wir die Sache auch nicht an Europol berichten. Sie haben es ja gehört: In zwei Stunden ist alles vorbei!«
Ingegnere Emilio Dani wiegte nachdenklich den Kopf. Dottore Ugo Livasco musterte den Vorstand mit versteinerter Miene.
»Meine Herren«, wiederholte der Vorstand mit ungeduldigem Blick, »wir haben von 2001 bis 2005 drei Milliarden Euro in dieses System investiert, dreißig Millionen Zähler in ganz Italien installiert! Ist Ihnen bewusst, was die Nachricht auslösen würde?«
Der Ingegnere nickte. Curazzo gewann den Eindruck, dass er damit nur sein Verstehen ausdrückte, nicht aber sein Verständnis für das Anliegen des Vorstands.
Dottore Livasco mischte sich ein: »Ich verstehe Ihre Sorge. Aber könnte es nicht sein, dass, wer immer diese Manipulationen vorgenommen hat, Ähnliches in anderen Ländern getan hat? Wir sind verpflichtet, die anderen zu warnen.«
»Ein vergleichbares System gibt es bislang sonst nur in Schweden. Sollen die doch melden, wenn sie etwas finden.«
»Ob die Nachricht der Öffentlichkeit mitgeteilt wird, entscheidet jemand anderes. Wir haben Ermittlungen zu unterstützen.«
»Aber diese Sesselfurzer in Brüssel …«
»Europol sitzt in Den Haag«, korrigierte Livasco.
»Egal! Die haben doch nichts Besseres zu tun, als alles hinauszuposaunen, um sich zu profilieren!« Tedesci redete sich in Rage. »Ich werde jetzt meinen Freund, den Ministerpräsidenten, anrufen. Der soll entscheiden, was zu tun ist. Das ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit!«
Livascos Miene verhärtete sich. Auf seinen Lippen erschien ein schmales Lächeln. »Ich fürchte, das liegt nicht in seiner Befugnis. Aber rufen Sie Ihren Freund gern an. Ich kontaktiere derweil Europol.«
»Sie unterstehen doch dem Innenminister?«, fragte Tedesci.
»Allerdings. Er wird natürlich ebenfalls informiert. Und wird dann sicher den Herrn Ministerpräsidenten unterrichten.«
»Ich glaube, Sie verstehen mich nicht«, zischte Tedesci. »Wollen Sie Ihre Karriere bei der Polizei fortsetzen?«
Livascos Lächeln kippte ins Sarkastische. Er fixierte den Vorstand. »Wessen Karriere hier weitergeht, wird sich noch zeigen.«
Curazzo beobachtete, wie ein Mitarbeiter Solarentis ihm etwas ins Ohr flüsterte. Solarenti kam zu ihnen. Technikvorstand Tedesci erwartete ihn mit starrer Miene.
»Ich habe noch eine gute Nachricht«, erklärte Solarenti mit einem Blick zu den Ermittlungsbeamten und deutete auf eine grüne Computergrafik des Stromnetzes.
»Die Codes müssen über Zähler ins System eingebracht worden sein. Von diesen Zählern haben sie sich nach und nach über das ganze Land verbreitet.«
Von drei Punkten aus breiteten sich rote Felder über das Netz aus, die sich miteinander verbanden, bis alle Linien umgefärbt waren.
»Aufgrund der Zeitstempel der Logs konnten wir diese Verbreitung nachvollziehen. Und die Ursprungszähler identifizieren.«
Die Rotfärbung entwickelte sich zurück, bis wieder nur noch die drei roten Punkte im ganzen Land übrig blieben.
»Soll das heißen«, fragte der Dottore von der Polizei, »dass wir den genauen Standort kennen, an denen die Angreifer die Signale eingeschleust haben?«
Solarenti nickte. »Jede einzelne Adresse. Es sind drei Stück.«