Orléans
»Kurz nach zehn«, erklärte Annette Doreuil atemlos. »Wir sollten schon einmal zu den Bahnsteigen gehen. Wer weiß, wie viele in diesen Zug wollen.«
Wie sie selbst hatten die Bollards die Nacht an ihre Koffer gelehnt verbracht. Die Furchen in ihren Gesichtern waren noch tiefer als sonst. Überall lagerten die Menschen so dicht aneinander, dass man zwischen ihnen kaum die Halle durchqueren konnte.
Doreuil warf einen sehnsüchtigen Blick zu der Filiale einer Bahnhofsbäckerei, die mit Rollläden verschlossen war. Sie half Celeste Bollard auf die Beine, dann deren Mann. Vincent Bollard nahm seine Mütze ab und richtete sich die Haare. Reflexartig strich auch Annette Doreuil über ihre Frisur. Verstohlen suchte sie in der Hand nach Haaren. Sie entdeckte keine. Sie packte ihre Tasche und machte sich auf den Weg zu den Gleisen. Auf den Bahnsteigen herrschte ein solches Gedränge, dass immer wieder Menschen auf die Gleise gestoßen wurden. Egal, in diesem Zug mussten sie Plätze bekommen.
Den Haag
Da hatte sie wohl zu viel erwartet. Trotz der Behördeninformationen stand Marie Bollard enttäuscht vor dem verbarrikadierten Supermarkt. Sofort nach dem kargen Frühstück war sie mit den Kindern losgezogen. Die verschmutzten, teilweise verwüsteten Straßen waren wieder belebter, nach wie vor patrouillierte das Militär und donnerten Hubschrauber über die Dächer. In der Luft lag der Geruch von Verwesung und kalter Asche. Nach dem ersten Fehlschlag wollte sie noch zwei in der näheren Umgebung probieren. Unterwegs hielt sie Ausschau nach offenen Restaurants oder Cafés. Doch die blieben ebenso noch geschlossen. Weder Schild noch Personal kündigten eine baldige Öffnung an.
Sie war nicht die einzige Ernüchterte. Kunden schimpften vor den herabgelassenen Rollläden, fragten, diskutierten.
»Maman, mir ist kalt«, klagte Bernadette.
»Gehen wir wieder nach Hause.«
Sie nahm einen kleinen Umweg, an der Bank vorbei. Die war immerhin offen. Ein Lichtblick! Um den Schalter drängte sich eine Menschentraube, die fast bis zum Eingang reichte.
Dahinter ragten zwei Arme hoch, winkten, deuteten beschwichtigend. Eine Stimme rief etwas auf Niederländisch, wiederholte sich. Gewisse Bankgeschäfte seien heute wieder möglich. Nur Bargeld könne noch nicht abgehoben werden. Das stünde erst morgen wieder zur Verfügung. Und das nur beschränkt.
Dann würde sie morgen wiederkommen. Sie beeilten sich durch die Kälte nach Hause. Noch ehe sie den Mantel abgelegt hatte, wählte sie am Telefon im Flur die Nummer ihrer Eltern in Paris, wie sie es gestern und heute schon mehrmals getan hatte. Zehnmal ließ sie das Freizeichen läuten, dann legte sie auf, versuchte den Anschluss der Bollards. Auch dort hob niemand ab.
Brüssel
»Guten Morgen«, sagte Manzano, als Angström die Augen aufschlug. Schlaftrunken blinzelte sie ihn an, blickte sich um.
»Mein Hotelzimmer«, erklärte er. »Du bist wegen der Dusche geblieben.«
»Ich erinnere mich.« Sie streckte sich, verschwand im Bad.
Manzano ging zu den Fenstern, schob die Gardinen zur Seite, starrte hinaus in den Tag. Aus dem Bad hörte er das Wasser rauschen. Der Portier hatte ihm das erklärt: Das Hotel hatte eine bevorzugte Versorgung, unter anderem mit Wasser, weil es häufig von Diplomaten und Politikern besucht wurde. Deshalb floss hier schon wieder, was in den meisten Brüsseler Haushalten noch fehlte.
Sie zogen sich an und gingen hinunter in den Frühstückssalon. Auf dem langen Büfett fanden sie je eine Sorte Brot, Schnittkäse und Wurst. Abgepackte Schokolade. Wasserkaraffen, Tee und Kaffee. Ein handgeschriebenes Schild bat um Entschuldigung für die bescheidene Auswahl. Man sei bemüht, so schnell wie möglich den üblichen Standard wiederherzustellen.
»Guten Morgen!«, begrüßte Shannon sie mit einem breiten Grinsen.
Sie saß allein an einem der Tische, vor sich einen Laptop und eine Tasse Kaffee. Sie musterte Manzano und Angström von oben bis unten.
»Schön gefeiert gestern?«
»Und du?«
»Keine Ahnung, wie lange wir getanzt haben.«
»Wo ist Bondoni?«
»Schläft wohl noch.«
»Und dein italienischer Kollege?«
»Zum Glück auch noch nicht aufgetaucht. Wundert mich nicht, bei den Mengen, die der getrunken hat.«
Mit schnellen Fingern tippte sie etwas in den Computer.
»Entschuldigt, eine E-Mail. Ich muss dann auch gleich los. Habt Ihr schon was Neues von Bollard gehört?«
Noch einmal sah sie die beiden eindringlich an. »Na ja, ihr hattet wohl Besseres zu tun.«
Manzano nervten ihre Anzüglichkeiten. »Ich brauche etwas zum Essen und einen Kaffee.«
Shannon klappte ihren Computer zu und sprang auf. »Ich habe jetzt meinen eigenen Kameramann«, erklärte sie. »Ihr haltet mich auf dem Laufenden, wenn es Neues von Bollard gibt, ja?«
Und weg war sie.
Manzano atmete durch. »Kaum zu glauben, die Energie«, bemerkte er.
Angström fasste ihn um die Hüfte.
»Tanken wir auch welche«, schlug sie vor und zog ihn zu den Kaffeekannen.
Istanbul
Durch die Spiegelwand beobachtete Bollard die Befragung eines Japaners. Der Mann wirkte ruhig, gefasst. Wie die anderen hatte er von Beginn an zu erkennen gegeben, dass er ausgezeichnet Englisch verstand und sprach.
Als er vor Tagen in der Gruppe der Verdächtigen aufgetaucht war, hatten sich manche gewundert. Japanische Terroristen? Bollard hatte ihnen einige ins Gedächtnis gerufen, wie etwa den Giftgasanschlag der Aum-Sekte in der Tokioter U-Bahn 1995 oder das Massaker auf dem Tel Aviver Flughafen 1972.
Seit seiner Verhaftung hatte der Japaner nur zwei Stunden schlafen dürfen. In sechs Kabinen nebeneinander verhörten sie die sieben Männer und eine Frau. Drei von ihnen hatten Schusswunden davongetragen, sie wurden kürzer befragt und dabei medizinisch überwacht. Am Morgen nach dem Einsatz waren Mitarbeiter mehrerer europäischer Nachrichtendienste und der CIA eingetroffen. Abwechselnd oder gemeinsam mit den türkischen Beamten führten sie die Verhöre. Zur Vorgangsweise hatten sich die Attentäter bislang nicht geäußert. Den Angriff bestritten sie nicht, ganz im Gegenteil. Sie erklärten, dass er notwendig gewesen sei, um der Welt ein neues Zeitalter zu bringen. Interessant fand Bollard, dass sich noch keiner abfällig über Minderheiten geäußert hatte. Das galt als typisch für Terroristen, je nach Antipathie wurden sie dann dem linken oder rechten Spektrum zugeordnet.
»Wie viel bekommen Sie bezahlt dafür, dass Sie uns hier festhalten und foltern?«, fragte der Japaner sein Gegenüber.
»Sie werden nicht gefoltert.«
»Schlafentzug ist Folter.«
»Wir haben viele dringende Fragen. Sobald Sie die beantwortet haben, dürfen Sie schlafen.«
»Können Sie sich von Ihrem Gehalt einen Rolls-Royce leisten?«
Der Japaner führte das Gespräch wie ein Personalchef, fand Bollard.
Der türkische Beamte blieb ungerührt. »Um mein Gehalt geht es hier nicht.«
»Doch, genau darum geht es«, erwiderte der Japaner ruhig. »Ihre Chefs können das nämlich. Und die Männer, die Ihre Chefs bezahlen, können sich einen ganzen Fuhrpark von Luxuskarossen leisten. Während Sie hier die Drecksarbeit machen, sitzen die in ihren Villen und lassen sich schon im Diesseits von zweiundsiebzig Jungfrauen verwöhnen.«
»Ich muss Sie enttäuschen, an solche Dinge glaube ich nicht.«
»Finden Sie das gerecht? Dass Sie hier die Nacht mit einem wie mir durchmachen müssen, während die mit hübschen Frauen im Ferrari spazieren fahren?«
»Es geht hier nicht um Gerechtigkeit.«
»Worum geht es Ihnen dann?«
Bollards Laptop sprang aus der Ruhestellung an. Im Videochat-Fenster leuchtete Christopoulos’ Gesicht.
»Sieh her«, sagte der Grieche und blendete in einem Extrafenster Codezeilen ein. »Schon in Pseudocode.«
wenn kein Blockierungscode in den letzten 48 Stunden
Phase2 aktivieren.
»Was aktivieren?«, fragte Bollard.
»Das wissen wir noch nicht«, antwortete Christopoulos. »Wir wissen bloß, dass es nicht zur Aktivierung von Dragenaus SCADA-Code diente und nicht für die italienischen oder schwedischen Smart Meter. Der Punkt ist: Die bisherigen Analysen der Angriffsstrategie erfordert keinen solchen Befehl in der Software.«
Brüssel
»Genau so einen Befehl habe ich gemeint!«, rief Manzano.
Bollards Gesicht wirkte grün, aber das lag wohl am Licht. Manzano fragte sich, wann Laptops endlich mit Kameras gebaut würden, die ihre Benutzer nicht zu Zombies entstellten.
»Irgendwo in den Systemen versteckt schlummern noch immer Zeitbomben«, sagte Manzano. »Vielleicht nicht in allen, aber in einigen. Diese werden nicht aktiviert, sondern aktiv blockiert. Mindestens alle achtundvierzig Stunden. Geschieht das nicht – Wumm! Und alles beginnt von vorn.«
Shannon und Angström lugten über Manzanos Schulter, hielten sich aber wie Bondoni aus dem Blickfeld der Laptopkamera.
»Wie lange ist der Zugriff her?«, flüsterte Angström.
Manzano rechnete nach. »Rund dreißig Stunden«, flüsterte er zurück.
»Aber der block-Befehl muss nicht unbedingt erst kurz vor dem Zugriff gegeben worden sein«, wisperte Shannon. »Vielleicht wurde er schon am Vortag geschickt.«
»Dann hättest du schon über die Folgen berichtet«, erwiderte Manzano ebenso leise.
»Was flüstern Sie da?«, fragte Bollard.
»Verschaffen Sie mir Zugang zur RESET-Datenbank!«, forderte Manzano ihn auf. »Und wir brauchen die Logs aller Geräte in Istanbul und Mexico City!«
Berlin
»Schwer abschätzbar sind derzeit die Folgen auf weite Teile der Wirtschaft«, begann Helge Domscheidt aus dem Wirtschaftsministerium.
Michelsen fand, dass die meisten in der Runde heute besser aussahen. Schwächere Ringe unter den Augen, aufrechtere Haltung, allgemein eine bessere Stimmung. Sie wirkten nicht mehr nur gehetzt, sondern auch wieder konzentriert. Auch sie selbst war in der Nacht schließlich doch noch eingeschlafen.
»Die meisten Unternehmen der produzierenden Industrie mussten den Betrieb einstellen«, erklärte Domscheidt. »Viele Firmen werden noch für Tage oder Wochen stillstehen, weil Rohstoffe und Material fehlen. Viele Produktionsanlagen wurden auch beschädigt oder gänzlich zerstört, zum Beispiel Hochöfen in der Metallindustrie. Zahlreiche Güter, die sich gerade in Herstellung befanden, wurden ruiniert. Um nur ein Beispiel aus dem aktuellen Themenkreis Energie zu nehmen: Bestandteile von Windrädern müssen bei hoher Temperatur stundenlang sozusagen gebacken werden. Wenn der Strom und damit die Backöfen ausfallen, sind diese Produkte natürlich nicht mehr zu gebrauchen. Über die Probleme der Lebensmittelproduktion wurden wir bereits informiert. In der Energieversorgung gibt es Engpässe. Etwa zehn Prozent der bestehenden Kraftwerke haben schwere Schäden davongetragen, für deren Reparatur teilweise mehrere Monate benötigt werden. Das bedeutet vor allem für energiekritische Industriezweige wie die Papier-, Zement- oder Aluminiumproduktion noch eine Wartezeit. Wir sollten erwägen – wenn möglich –, Atomkraftwerke, die vor nicht allzu langer Zeit abgeschaltet wurden, vorübergehend wieder in Betrieb zu nehmen.«
»Kommt überhaupt nicht infrage!«, unterbrach ihn die Ministerin für Natur, Umweltschutz und Reaktorsicherheit empört. »Nach den Unfällen in Philippsburg und Brokdorf ist das niemandem vermittelbar.«
»Aus der Industrie werden die Forderungen mit Sicherheit auftauchen. Stellen wir uns darauf ein. Vom Ausfall betroffen waren natürlich auch Klein- und Mittelbetriebe, das Rückgrat der deutschen Wirtschaft. Sie stehen vor noch größeren Problemen, da ihnen per se weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird als den großen Konzernen und sie schwerer Finanzierungen von den Banken erhalten. Um den Kollaps der deutschen Wirtschaft in den nächsten Monaten und Jahren zu verhindern, müssen wir ein gigantisches Förderprogramm auf die Beine stellen. Selbst dann«, sagte er düster, »bleibt fraglich, ob die deutsche Wirtschaft ihre Stellung in der Welt jemals wieder erreichen wird. Denn auf einen Marshallplan aus den USA dürfen wir dieses Mal nicht hoffen. Die sind fast so schlimm betroffen wie wir. Zudem brauchen nicht nur wir Unterstützung, sondern alle europäischen Staaten. Das heißt auch, viele unserer wichtigsten Handelspartner fallen aus und werden sich – wenn überhaupt – nur langsam erholen. Das ist aber erst der Anfang. Mittelfristig fehlen den Emerging Markets die europäischen und US-amerikanischen Märkte als Abnehmer, zumindest im bisherigen Umfang. Das heißt, auch China, Indien, Brasilien und andere werden bald mit hoher Arbeitslosigkeit und in der Folge mit sozialen Konflikten sowie politischer Instabilität kämpfen. Damit fallen die großen Wachstumsmärkte der vergangenen Jahre aus – ein Teufelskreis. Auch bei uns wird die Arbeitslosigkeit ohne Unterstützungsprogramme rasant steigen. Die sozialen Folgen sind noch nicht abzusehen. Einige Wirtschaftsforscher sagen uns lateinamerikanische Verhältnisse voraus, mit einer kleinen reichen Oberschicht, einer verschwindenden Mittelschicht und dem Großteil der Bevölkerung in ärmlichen, ungesicherten Lebensverhältnissen.«
»Mit entsprechenden politischen Maßnahmen könnte man dem natürlich gegensteuern«, warf der Bundeskanzler ein.
»Wenn sich Mehrheiten dafür finden … Ich fürchte, vielen Menschen, inklusive einigen hier im Raum, ist noch nicht bewusst, welche langfristigen Auswirkungen dieses Ereignis haben kann, welche Folgen vergleichbare soziale und wirtschaftliche Zustände in der Vergangenheit hatten. Aber nicht haben müssen, das möchte ich an dieser Stelle hinzufügen.«
»Und woher soll das Geld für Konjunkturprogramme kommen?«, fragte der Außenminister. »Die meisten betroffenen Staaten waren schon vorher hoch verschuldet oder bankrott.«
Domscheidt erwiderte den Blick des Außenministers mit einer nichtssagenden Miene. »Das kann Ihnen hoffentlich der Finanzminister erklären.«
Den Haag
»Was ist das für ein Blockierungscode, und was geschieht, wenn er ausbleibt?«, fragte Bollard. Weit über den Tisch gebeugt, stützte er sich mit einem Arm ab, tippte mit dem Zeigefinger der freien Hand auf den Ausdruck.
»Ich habe doch schon gesagt, dass ich es nicht weiß«, antwortete sein Gegenüber, einer der verhafteten Franzosen. Mit seinem Landsmann konnte sich Bollard in seiner Muttersprache unterhalten. Er war wütend, dass der verdächtige Franzose zu den Angreifern gehörte. Seine Landsleute hatten immer schon gern lautstark Veränderungen gefordert und dabei Gewalt angewendet.
»Hören Sie«, zischte Bollard so leise, dass die mitfilmenden Kameras ihn nicht verstehen würden, und packte ihn am Kragen, »wenn irgendwo in Europa oder den USA wieder der Strom ausfällt und noch mehr Menschen sterben, weil Sie mir nicht sagen, wofür dieser Blockierungscode dient, dann kann ich auch anders. Ganz anders. Dann fehlt Ihnen nicht mehr bloß Schlaf.«
Für solche Drohungen konnte man vor Gericht gestellt werden, das wusste Bollard. Er stieß sich von dem Mann ab, verärgert über sich selbst.
»Das dürfen Sie nicht«, rief sein Gegenüber. »Mir mit Folter zu drohen.«
»Wer bedroht Sie denn?«
»Sie! Das verstößt gegen die Menschenrechte!«
Bollard beugte sich wieder zu ihm, seine Stirn berührte fast die des anderen.
»Sie kommen mir mit den Menschenrechten? Die Millionen Verhungerten, Verdurstenden, Erfrorenen und an unbehandelten Krankheiten Verreckten, hatten diese Menschen keine Rechte? Wofür dient dieser Blockierungscode?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, beharrte der andere. Sein Gesicht war bleich, Schweiß stand auf der Stirn. Der Mann war nicht für harte Verhöre trainiert worden. Irgendwann würde er zusammenbrechen. Bollard fragte sich, wie weit er dafür würde gehen müssen.
Aber was, wenn der Kerl wirklich nichts wusste?
Berlin
»Die gute Nachricht ist«, hob Volker Bruhns, Staatssekretär im Finanzministerium, an, »die meisten Bankfilialen haben wieder geöffnet. Die Versorgung der Bevölkerung mit Geld ist vorerst gesichert. Und dann gibt es natürlich einige weniger gute. Um noch schlimmere Bank-Runs zu verhindern, wird die Ausgabemenge vorläufig auf hundertfünfzig Euro pro Person und Tag beschränkt. Die europäischen Börsen bleiben bis Mitte nächster Woche geschlossen, ebenso die US-Handelsplätze. Die Technik wäre zwar jederzeit einsatzbereit, allerdings sollen die Märkte erst Luft holen und die Neuigkeiten verdauen können, bevor sie wieder öffnen. Bis zum letzten Handelstag vergangenen Freitag verloren die wichtigsten europäischen und amerikanischen Indizes rund siebzig Prozent an Wert. Manche deutschen Unternehmen, die vor zwei Wochen noch Dutzend Milliarden wert waren, könnte sich momentan so mancher Superreiche aus der Portokasse leisten. Der Euro kam unter die Räder, obwohl die Europäische Zentralbank die Märkte flutete. Das ist natürlich eine Katastrophe in Hinsicht auf notwendige Öl- und Gasimporte, die sich dadurch extrem verteuern und die Energieversorgung diesmal von einer anderen Seite zusammenbrechen lassen könnten, weil wir uns die Importe nicht leisten können. Zum Glück – wenn man so zynisch sein will – folgte diese Woche der Dollar, nachdem auch die USA angegriffen worden waren. Das verbilligt die Importe wieder etwas, da Öl und Gas ja in Dollar abgerechnet werden. Wobei man hinzufügen muss, dass unsere strategischen Öl- und Treibstoffreserven noch für mehrere Monate reichen und auch die Preissteigerungen erst in mehreren Monaten wirksam werden, da die Preise in den meisten Fällen auf langfristigen Verträgen basieren.«
Er holte kurz Luft, fuhr dann aber nahtlos fort: »Die Entwicklung der Wertpapier- und Rohstoffmärkte ist nicht einschätzbar. Vielleicht kommt es nach dem Ende des Stromausfalls zu positiven Gegenbewegungen. Andererseits konnten die Märkte auf die Verschlechterung der Situation während der letzten Woche nicht reagieren. Die Militärputsche in Portugal, Spanien und Griechenland zum Beispiel werden nicht ohne Folgen bleiben. Die Anleihenkurse selbst für deutsche Staatsanleihen sind weit über das Niveau von griechischen, irischen, italienischen oder spanischen aus den schlimmsten Zeiten der Finanzkrise geschossen. De facto können wir uns zurzeit über den Kapitalmarkt nicht finanzieren. Das heißt, Deutschland kann in wenigen Monaten seine Kredite nicht mehr bedienen, seine Beamten und Renten nicht mehr bezahlen. Viele europäische Staaten werden schon wesentlich früher mit diesem Problem konfrontiert. Damit stehen die internationalen Finanzmärkte vor einem Zusammenbruch, gegen den alle Wellen der Finanzkrise harmlos waren. Nun ist die Politik gefragt, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern. Mögliche Szenarien sollen in« – er sah auf seine Armbanduhr – »vier Stunden bei einer Videokonferenz mit den Regierungschefs der G-20-Staaten, Vertretern der Europäischen Zentralbank, der Federal Reserve, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank vorgestellt und diskutiert werden.«
Paris
Die Zugfahrt von Orléans nach Paris dauerte ewig. Zu Annette Doreuils Entsetzen hielten sie in jeder größeren Ortschaft entlang der Strecke, aber wenigstens war sie auf dem Weg nach Hause. Und sie hatten Sitzplätze errungen. Die Bollards waren fast umgehend auf ihren Plätzen eingeschlafen. Doreuil starrte die meiste Zeit aus dem Fenster. Wie viele Tote lagen da draußen auf den Feldern noch, hastig verscharrt? Schließlich ließ sie sich vom Lärm im Zug ablenken, vor allem von den Kindern. Hoffentlich geht es Bernadette und Georges gut, dachte sie.
Weit nach Mittag erreichten sie Paris. Zusammen mit einigen Dutzend anderen Reisenden warteten die Bollards am Taxistand, während Doreuil wieder in die Halle lief, um dort jemanden zu fragen, der ihnen vielleicht weiterhelfen konnte. Der Informationsschalter war sogar besetzt. Doch um ihn drängten so viele Leute, dass Doreuil zum Taxistand zurückkehrte. Als tatsächlich ein Wagen auftauchte, brach unter den Wartenden rücksichtsloses Geschiebe aus. Zweite weitere Autos erschienen. Sie trugen zwar kein Taxischild, hielten aber trotzdem, eines direkt vor Vincent Bollard. Der Fahrer ließ die Scheibe des Beifahrerfensters herunter und fragte: »Wohin?«
Annette Doreuil nannte die Adresse.
»Hundertfünfzig Euro«, forderte der Mann.
»Das ist …«, hob Doreuil an, beherrschte sich jedoch. Der übliche Tarif für die Strecke betrug etwa dreißig Euro.
»Einverstanden«, sagte sie mit versteinerter Miene.
»Steigen Sie ein.«
Der Fahrer öffnete die Zentralverriegelung. Andere Wartende drängten hinzu, boten dem unverschämten Kerl noch mehr Geld an, doch die Bollards saßen bereits.
»Die Hälfte vorab«, erklärte der Mann und streckte seine Hand nach hinten.
Doreuil zahlte.
»Woher kommen Sie?«, fragte der Mann neugierig, während er losraste.
»Orléans«, antwortete Doreuil einsilbig. Sie hatte keine Lust, sich mit dem Wucherer zu unterhalten.
»Ach, du liebe …!«, rief er. »Ich dachte, das ist Sperrgebiet. Haben sie in den Nachrichten gesagt.«
Doreuil musste an die Haare zwischen ihren Fingern denken.
»Orléans nicht«, erwiderte sie. »Wir waren dort in einem Notquartier.«
»Doch, doch«, beharrte der Mann. Die Straßen waren noch verdreckter als in Orléans, sogar aufgeblähte Tierkadaver entdeckte sie. Auch hier waren hauptsächlich Einsatzwagen und Panzerfahrzeuge unterwegs, trotzdem zeigte der Tachometer achtzig Stundenkilometer. Er lachte. »Na, uns in Paris geht es auch nicht viel besser!«
Doreuil hasste ihn für seine Andeutungen, aber jetzt musste sie fragen: »Wieso?«
»Dürfte wohl eine Wolke von dem explodierten Kraftwerk da unten zu uns getragen haben. Ist aber nicht so schlimm, sagen die Offiziellen.« Er zuckte mit den Schultern. »Der nächste Regen hatte es wieder weggewaschen, keine Gefahr mehr, behaupten die zumindest.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Na ja, ich glaub das lieber mal. Sonst kann ich ja nicht in Ruhe weiterleben.«
Doreuil entgegnete nichts. Wie beiläufig fuhr sie durch ihr Haar, untersuchte verstohlen ihre Hand.
»Brauchen Sie sonst etwas?«, fragte der Mann unbeschwert. »Lebensmittel? Getränke? Ich kann Ihnen was besorgen. Ist nicht leicht dieser Tage, was zu bekommen.«
»Danke, nein«, antwortete Doreuil steif.
Vor ihrem Haus zahlte sie ihm seine überteuerte Gebühr und merkte sich das Kennzeichen. Hoffentlich stank es in der Wohnung nicht ebenso wie hier draußen. Sie und die Bollards mussten über Berge von Müll klettern, um zum Eingang zu gelangen.
Als sie die Wohnungstür aufgesperrt hatte, seufzte sie: »Endlich!«
Hier war die Luft nur etwas abgestanden, die übelsten Gerüche waren bislang draußen geblieben. Sie stellte den Koffer ab und ging zum Telefon. Die Leitung war tot. Sie lief zu dem Computer in Bertrands Arbeitszimmer. Die Bollards folgten ihr. Seit die Kinder mit den Enkeln nach Den Haag gezogen waren, hatte auch sie sich mit den modernen Kommunikationskanälen vertraut gemacht. Sie warf das Gerät an, startete Skype und wählte den Namen ihrer Tochter. Nach wenigen Sekunden erschien auf dem Bildschirm tatsächlich das leicht gepixelte Bild von Marie. Doreuil stiegen die Tränen in die Augen. Durch das Mikrofon hörte sie Marie rufen: »Kinder! Kommt! Oma und Opa rufen an!« Ihre Tochter wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Mein Gott, Maman, bin ich froh, dich zu sehen! Geht es euch gut?«
Brüssel
»Das sind ja Millionen«, rief Shannon. »Die zu durchsuchen braucht ihr doch Jahre.«
Manzano tippte fieberhaft.
»Das müsstest du eigentlich inzwischen wissen. Ich schreibe ein kleines Skript. Du erinnerst dich, wie ich es schon für die Logs meiner Firewall gemacht habe, in der wir dann die IP-Adresse von RESET gefunden haben. Ist fast fertig.«
»Was sucht das Script?«
»Dasselbe oder Ähnliches wie bei meiner Firewall. Datenübertragungen an immer dieselbe IP-Adresse in einem Abstand von achtundvierzig Stunden oder darunter. Und los.«
Er hieb auf die Return-Taste, das Programm begann, die Log-Datenbank zu durchsuchen.
Manzano wechselte zum Videochat und wählte Bollard an. Er wartete, doch Bollard nahm das Gespräch nicht an.
Istanbul
»François? François! Bist du noch da?«
Wie durch Watte hörte Bollard Maries Stimme aus dem Computer. Er starrte durch den Monitor hindurch, das schlanke, bleiche Gesicht seiner Frau verschwamm. Bollard schluckte die Tränen weg.
»Er … », ihre Stimme brach, »er muss noch einmal … ausgegraben werden. Damit er in Paris begraben werden kann.«
Zum zweiten Mal wiederholte sie es schon. Die Tatsache erschütterte sie fast so sehr wie die Nachricht vom Tod ihres Vaters.
»Ich … es tut mir so leid«, antwortete Bollard mit belegter Stimme. »Ich muss jetzt Schluss machen. Passt auf euch auf. Wir sehen uns bald. Ich liebe euch.«
Für ein paar Sekunden saß Bollard regungslos da. Er dachte an seine Kinder, an Marie. Er musste nach Hause. Er hatte ihre Eltern dort hingeschickt. Wo er sie sicher geglaubt hatte. In den idyllischen Hügeln entlang der Loire. Für einen Augenblick sah er sich als kleinen Jungen über eine Wiese vor dem Schloss Chambord einem Schmetterling hinterherjagen. Nie wieder konnte er an den Ort seiner Kindheit zurückkehren. Auch Bernadette und Georges durften dort nie mehr herumtollen.
Er sprang auf, lief zu den Verhörkabinen, stürzte in die erstbeste. Zwei amerikanische Beamte hatten einen der Griechen in der Mangel. Unter seinen Achseln und Kragen zeichneten sich dunkle Schweißflecken auf dem Hemd ab, seine Lippen zitterten.
Ohne auf die Amerikaner zu achten, riss Bollard den Mann am Hemdkragen vom Stuhl.
Mit heiserem Flüstern erklärte er ihm: »Mein Schwiegervater ist vor ein paar Tagen in der Nähe von Saint-Laurent gestorben. Herzinfarkt. Niemand konnte die Rettung rufen. Saint-Laurent. Sie wissen, was dort geschah?«
Der Grieche starrte ihn aus geweiteten Augen an, wagte keine Bewegung. Natürlich wusste er es.
»Meine Eltern«, fuhr Bollard keuchend fort, »mussten das Haus verlassen, in dem meine Familie seit Generationen lebte. Ich selbst bin dort aufgewachsen. Meine Kinder haben diesen Ort geliebt. Jetzt werden wir alle nie wieder dorthinkönnen.«
Er drückte die Knöchel seiner Fäuste gegen den Kehlkopf des Mannes, roch dessen Angst. »Kennst du das Gefühl«, fuhr Bollard fort, »wie das ist, wenn man weiß, dass man sterben muss, qualvoll, und niemand wird einem helfen?«
Er spürte, wie der Grieche ihm wegzusacken drohte, festigte seinen Griff. Die Augen des Mannes begannen zu glänzen, füllten sich mit Tränen. An seinem Blick erkannte er, dass der Grieche begriffen hatte, wie ernst er es meinte.
»Dieser Blockierungscode«, fragte Bollard noch leiser, noch heiserer, »der alle achtundvierzig Stunden gesendet werden muss. Wofür ist er da? Was kann man damit verhindern? Wie viel Zeit bleibt uns noch? Rede, du selbstverliebter Mistkerl!«
Der Mann zitterte am ganzen Körper, die Tränen flossen über seine rundlichen Backen.
»Ich … weiß es nicht«, winselte er. »Ich weiß es wirklich nicht!«
Brüssel
Er hastete auf die Empfangsdame zu, so eilig, dass er sich der jungen Frau gar nicht zuwandte, sondern nur eine Hand symbolisch am Tresen ablegte, während sein Körper schon weiterstrebte. In welchem Zimmer finde ich Piero Manzano noch mal?, fragte er sie. Sie trug eine Art blauer Uniform mit Halstuch, fast wie eine Stewardess. Um seine Eile zu unterstreichen, warf er einen kurzen Blick auf seine Armbanduhr. Beflissen sah sie im Computer nach. Es war so einfach, wenn man selbstbewusst auftrat.
Zimmer 512.
Danke.
»Da sind ja immer noch welche«, stellte Manzano fest.
»Was?«, fragte Shannon, die permanent mitfilmte.
»Einigermaßen regelmäßige Logs an gleichbleibende IPs.«
Manzano zeigte auf einige der Netzwerk-Adressen. Shannon und Angström beugten sich über seine Schultern, Bondoni rückte seinen Stuhl näher, um besser zu sehen.
»Die, die und die kennen wir. Sie gehören zur Zentrale in Mexico City.«
Über das Videochat-Programm rief er Christopoulos in Den Haag an. Nach ein paar Sekunden meldete sich Bollards Mitarbeiter.
»Ich habe da eine Liste von IP-Adressen«, erklärte Manzano. »Ich brauche so schnell wie möglich einen Abgleich, von welchen wir bereits wissen, was dahintersteckt.«
Gleichzeitig hatte er die Liste per Mail auf den Weg zu Europol gebracht.
»Es ist wirklich dringend.«
»Wegen Ihres Verdachts?«
»Ja.«
»Ich sehe zu, was ich machen kann.«
Ein Segen, dachte Manzano, dass die Internetverbindungen wieder reibungslos funktionierten. Solange der Strom floss.
»Wir sehen inzwischen auch weiter«, sagte Manzano und beendete die Verbindung.
»Ich würde ja den block-Befehl nicht immer erst im letzten Moment senden«, dachte er laut. »Damit ich es nicht womöglich vergesse.«
»Außerdem«, wandte Shannon ein, »müssen ihn mehrere Personen schicken können. Falls eine ausfällt.«
»Wenn wir in dieser Zentrale gesessen hätten«, überlegte Angström laut, »und dafür verantwortlich gewesen wären, den Auslöser zu blockieren, was hätten wir gemacht?«
»Ich hätte einmal irgendwann am Tag den Befehl gesendet«, äußerte sich Shannon dazu. »Dann wäre ich auf der sicheren Seite gewesen.«
»Wenn das mehrere machen, kann man davon ausgehen, dass die Blockade bestehen bleibt, solange die Zentrale besetzt ist.«
»Ich hätte außerdem einen Alarm eingebaut«, warf Manzano ein. »Falls vor Ablauf der Frist noch niemand blockiert hat.«
»Warum überhaupt die Blockade?«, fragte Bondoni. »Wenn ohne sie doch nur ein weiterer Stromausfall ausgelöst wird, was die Kerle ohnehin wollten.«
»Um nicht unnötig Pulver zu verschießen«, sagte Manzano. »Die Blockade verhindert, dass Zeitbomben in den Stromsystemen hochgehen, die zu einem Stromausfall führen. Aber solange der Strom ohnehin weg war, brauchte man diese ja nicht zu zünden. Sie sind für genau diese Situation gedacht, in der wir uns jetzt befinden: Die Netze funktionieren wieder, die Angreifer sind ausgeschaltet. Wenn jetzt die Zeitbomben neue Schadprogramme aktivieren, fängt alles von vorn an.«
»Können wir nach solchen Mustern suchen?«, erkundigte sich Shannon.
»Natürlich«, antwortete Manzano. »Bleibt die Frage, ob wir mit unserer These richtigliegen. Zuerst aber überprüfen wir den einfacheren Fall.«
Während ihrer Diskussion hatte er die Suchparameter seines Scripts geändert.
»Zuerst überprüfe ich bei den verbliebenen IPs, ob eine in regelmäßigen Abständen kontaktiert wurde.«
Er gab den Befehl. Nach wenigen Sekunden verkündete der Monitor das Ergebnis.
»Nichts. Dann die andere Variante. Mehrere Personen schicken in unregelmäßigen Abständen an dieselbe IP.«
Sein Videochat-Fenster meldete einen Anrufer. Christopoulos. Manzano nahm an.
»Ja?«
»Ich habe Ihnen die IP-Liste geschickt. Adressen mit bekanntem Hintergrund sind markiert.«
»Danke.«
Manzano lud die Aufstellung hoch. Mehr als die Hälfte der Zeilen waren gelb unterlegt.
»Gut. Das schränkt unsere Auswahl weiter ein. Vergleichen wir die mit dem Ergebnis unserer neuesten Suche …«
Er aktualisierte die Listen in seiner Datenbank.
»Immer noch zu viele.«
Abermals rief er Christopoulos an.
»Ich schicke Ihnen eine Log-Liste«, erklärte er ihm. »Lassen Sie so schnell wie möglich überprüfen, was für Daten an die jeweiligen IPs gingen. Wir suchen einen block-Befehl.«
»Unsere Kapazitäten sind gerade alle ausgelastet«, erklärte Christopoulos. »Ich schicke Ihnen den Zugang zu den Daten. Dann können Sie selbst suchen.«
»Aber das dauert womöglich zu lange!«
»Tut mir leid! Wir haben wirklich zu tun!«
»Schicken Sie schon her«, brummte Manzano. Gleich darauf traf eine Mail auf seinem Computer ein. Er loggte sich in die Datenbank, auf der die Ermittler sämtliche Daten von den Servern und Computern aus den beiden Terrorzentralen für die Analyse gesichert hatten.
Er kontrollierte die Dateien, die zu den Zeitpunkten der IP-Liste an die erste Adresse verschickt worden waren. Er würde sich vorerst pro IP nur eine Datei ansehen. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass die IP ausschließlich für den Zeitbombenaktivierungsmechanismus eingerichtet war. Er zumindest hätte es so gemacht.
An der Tür klopfte jemand.
»Ich gehe«, bot Angström an.
Mühselig, dachte Manzano. So musste er jedes Mal zuerst auf der IP-Liste nach einer Zeit und einem Computer sehen, um dann auf dessen Sicherungsdateien die entsprechenden Daten zu suchen. Und gefährlich. Wenn er recht hatte, zählte jede Minute. Von draußen hörte Manzano jemanden »Zimmerservice« sagen.
Beim siebten Versuch wurde er fündig.
»Das könnte er sein«, stellte Manzano fest. Er sah auf die Uhrzeit, wann der letzte Befehl gesendet worden war.
Vor siebenundvierzig Stunden und fünfundzwanzig Minuten.
»Zahlen und Buchstaben«, maulte Bondoni. »Wer darin was lesen kann …«
»Das kann er«, sagte eine Stimme in ihrem Rücken auf Englisch.
Manzano fuhr herum. Angström stand in der Tür, an ihrem Hals blitzte ein Messer. Hinter ihrem Kopf sah der dunkel gelockte Haarschopf eines Mannes hervor. Trotz des Schnurrbarts erkannte Manzano das Gesicht sofort. Er hatte es während der letzten Tage in Bollards Einsatzzentrale oft genug gesehen.
Jorge Pucao schob Angström vor sich her, auf Manzano zu. In ihren Augen konnte er die Panik lesen. Er spürte, wie sich sein ganzer Körper verkrampfte.
»Lauren Shannon, holen Sie die Vorhangkordeln her, fesseln Sie Ihre Freunde damit.«
Shannon folgte dem Befehl mit zitternden Fingern. Sie riss die Kordeln ab und band zuerst Bondoni die Hände hinter den Rücken.
»Sie könnten immer noch mit uns zusammenarbeiten«, sagte Pucao zu Manzano.
»Euch gibt es nicht mehr«, erwiderte Manzano.
Pucao lachte mitleidig. »Natürlich gibt es uns noch. Milliardenfach. Menschen, die genug haben von der Art, wie die westliche Zivilisation und der Raubtierkapitalismus sie knechten und ausbeuten. Die es satthaben, beherrscht, belogen und ausgeraubt zu werden von einer kleinen Gruppe von Verbrechern, die sich Politiker, Banker und Manager betiteln. Die die feige Trägheit in den Reihenhaussiedlungen und Wohnsilos und Bürofabriken nicht mehr ertragen. Und du, Piero, du gehörst zu diesen Menschen, denen es bis hier steht.« Er hielt das Messer unter Manzanos Nase. Seine Stimme verlor das predigthafte, wechselte in einen geradezu freundschaftlichen Ton. »Du bist einer von uns. Und das weißt du auch. Oder hast du vergessen, wie du gegen die korrupte Politikerkaste Italiens auf die Straße gegangen bist? Wie du in Genua gegen die Ungerechtigkeiten der Globalisierung gekämpft hast? Vielleicht bist du älter geworden. Vielleicht bist du desillusioniert. Aber erzähl mir nicht, dass du deine Träume verloren hast.«
»In meinen Träumen starben nie Hunderttausende Menschen an Hunger, Durst, fehlender medizinischer Versorgung …«
»In deinen Träumen nicht, aber in der Realität tun sie es! Seit Jahrzehnten, jeden Tag, auf der ganzen Welt. Dagegen hast du dich in Genua empört! Darüber regst du dich noch heute auf! Aber nur noch mit alten Kampfgefährten bei einem gepflegten Glas Wein.«
Er betrachtete Manzano, setzte nach: »Ist es nicht so?«
Manzano musste sich eingestehen, dass Pucao einen empfindlichen Punkt getroffen hatte. Doch damit konnte er sich jetzt nicht beschäftigen. Sie mussten den block-Befehl senden.
»Selbst wenn meine Träume dieselben wie Ihre wären«, sagte er. »Meine Methoden, sie zu verwirklichen, sind es sicher nicht.«
»Deshalb hat sich bis jetzt auch nichts geändert«, antwortete Pucao nachsichtig. »Das war schon bei den Achtundsechzigern so. Demonstrierten, zogen in eine Kommune, warfen Steine – und heute? Sind sie Bankdirektoren, Ärzte, Rechtsanwälte oder Lobbyisten der Industrie, um ihre Villa abzubezahlen. Was haben sie erreicht? Die Reichen wurden reicher, die Armen ärmer. Die heutige Jugend ist so konservativ, apolitisch und duckmäuserisch wie ihre Urgroßeltern. Wir zerstören unsere Umwelt mehr denn je. Soll ich weiter aufzählen?«
Er prüfte die Kordel um Manzanos Handgelenke, die Shannon während des Vortrags festgezurrt hatte. Dann fuhr er fort: »Wann und wodurch fanden die wirklichen Veränderungen statt? Wann wurden tatsächlich Gesellschaften umgewälzt, neue Systeme eingeführt? Wann lösten in Europa Demokratien Adelsherrschaft und später Faschismus, in den USA die Kolonialherrschaft ab? Nur nach großen Katastrophen. Die breite Masse braucht die Erfahrung der existenziellen Bedrohung. Erst, wenn sie nichts mehr zu verlieren hat als das nackte Leben, ist sie bereit, für ein neues zu kämpfen.«
»Das ist doch Quatsch, was Sie hier faseln!«, rief Shannon dazwischen. »Was ist mit Gandhi und Martin Luther King? Was ist mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa? Dem Wechsel von Militärregimen zu Demokratien in vielen Ländern Lateinamerikas? Oder dem arabischen Frühling? Dazu brauchte es vorher auch keine Weltkriege!«
»Mund halten und weitermachen«, befahl Pucao und fuchtelte mit dem Messer in ihre Richtung. »Dem Zusammenbruch des Kommunismus ging ein jahrzehntelanger Krieg in aller Welt voraus. Der Kalte Krieg, schon vergessen? Ah, da waren Sie noch ein kleines Mädchen.«
»Aber Sie waren schon der alte Weise, oder was?«, erwiderte Shannon. Manzano versuchte, sie mit einem Blick zu bremsen.
Doch Pucao schien die Diskussion zu gefallen, vielleicht genoss er die Zuhörerschaft. »Sie haben keine Ahnung, was ein Krieg ist«, belehrte Pucao Shannon. »In Lateinamerika führten die USA und Europa mittels ihrer Marionettenterrorregime brutale Feldzüge mit Hunderttausenden Opfern. Später waren es der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, Instrumente der etablierten Staaten, um die Konkurrenz der sogenannten Schwellenländer klein zu halten. Ähnliches geschah in den arabischen Staaten. Deshalb erhoben sich die Menschen irgendwann. Nur in Europa und Nordamerika war das Leiden nicht groß genug für den Aufstand, für die Wende zum Besseren. Nun ist es das. Wir dürfen jetzt nur nicht zu früh aufhören. Da müssen wir durch, dann wird sich alles ändern.«
Pucao kontrollierte den Sitz von Angströms Fesseln.
»Hören Sie sich eigentlich selbst zu?«, fragte die Schwedin. »Sie klingen genauso wie jene, die Sie vorgeben anzugreifen. Schwachsinnige Parolen vom Opfer, das notwendig ist, um ins Paradies zu gelangen, von Reinigung durch Feuer, von schmerzhaften Maßnahmen, bevor alles besser wird …«
Sie mussten sich auf das Sofa setzen.
»Für sich selbst bringen Sie mir auch eine Kordel«, forderte Pucao von Shannon.
»Damit können Sie mich nicht provozieren«, sagte er zu Angström, während er Shannon fesselte. »Ich rede von dem Wissen, das schon die Alten besaßen. Schlagen Sie nach bei Seneca. ›Non est ad astra mollis e terris via‹ – ›Der Weg zu den Sternen ist nicht bequem‹. Schon in den alten Mythen muss man das Ungeheuer bezwingen, um zum Schatz zu gelangen.«
»Da draußen sterben Menschen!«
»Das ist entsetzlich, schrecklich, aber unvermeidbar. Es ist wie mit einem entführten Flugzeug, das Sie abschießen müssen, damit nichts Schlimmeres geschieht. Einige müssen sterben, damit viele gerettet werden können.«
»Sie Mistkerl!«, brüllte Shannon. »Sie sind doch nicht der, der über den Abschuss entscheiden muss, sondern der Entführer!«
»Der spinnt«, flüsterte Angström Manzano zu.
Pucao zog die Schnüre fest um Shannons Gelenke und stieß sie zu den anderen. »Ich muss Sie hoffentlich nicht knebeln. Noch so ein Geschrei, und Sie alle sterben sofort.«
Seien Sie doch vernünftig, wollte Manzano sagen, doch er wusste, wie sinnlos es war, an die Vernunft eines solchen Menschen zu appellieren.
»Keine Sorge«, gab Shannon patzig zurück, »mit Ihnen habe ich genug geredet.«
Pucao ignorierte die Bemerkung, setzte sich vor den Computer, studierte die Dateien. Fieberhaft überlegte Manzano, was er unternehmen konnte.
»Bastard«, flüsterte Pucao, drehte sich abrupt zu ihnen um. »Du hast nichts begriffen, oder? Gar nichts. Selbst nachdem du von der Polizei angeschossen wurdest.«
Manzano spürte den Zorn hochsteigen, wusste, dass es der falsche Moment war, die Beherrschung zu verlieren.
»Sie sind gut informiert«, sagte er stattdessen bemüht ruhig.
»Waren wir die ganze Zeit. Die längste Zeit …«, korrigierte er sich. Für einen Moment verlor sich sein Blick ins Leere. »Wie hast du uns gefunden?«, fragte er schließlich.
Manzano erwog kurz, ob er ihm die Wahrheit sagen sollte. Der Mann vor ihm war wie alle Größenwahnsinnigen ein gnadenloser Narziss. Die geringste Kritik konnte ihn unberechenbar machen.
»Haben Sie die E-Mails auf meinen Computer platziert?«
»Bist du so …?«
Manzano antwortete nicht. Wenn es tatsächlich Pucao gewesen war, so hatte der gerade seinen kapitalen Fehler begriffen.
Während Manzano mit ihm redete, versuchte er, hinter seinem Rücken die Fesseln zu lösen. Doch Shannon hatte sie fest verknotet.
»Ich habe sie geschrieben«, sagte Pucao. »Raufgeladen hat sie jemand anderes.«
»Gut geschrieben«, entgegnete Manzano. »Die Polizei ist darauf hereingefallen. Aber den Typ, der sie mir direkt von Ihrem zentralen Kommunikationsserver auf den Computer gespielt hat, den sollten Sie feuern.«
Pucao zischte etwas auf Spanisch, das Manzano nicht verstand. Es klang wie ein Fluch.
»Und bei der Gelegenheit auch alle, die für die Serversicherheit zuständig waren«, fuhr Manzano fort. »Verdammt schwer, gute Leute zu bekommen, nicht wahr?«
»Hör auf«, Pucao machte eine wegwerfende Geste. »Glaubst du, ich merke nicht, was du hier versuchst? Mir Honig ums Maul zu schmieren?«
»Wir können Sie auch gern beschimpfen«, warf Shannon kühl ein. »Tue ich sogar wesentlich lieber. Verdammter Irrer!«
Pucao lächelte.
»Ah, Sie sind der bad cop. Ich sagte doch schon, dass ich mich nicht provozieren lasse.«
Er erhob sich.
»Diese Unterhaltung langweilt mich. Verabschieden Sie sich voneinander. Es tut mir leid, dass Sie alle da waren, eigentlich bin ich nur wegen Piero gekommen. Du warst eine echte Nervensäge, weißt du das?«
»Ähnliches habe ich in letzter Zeit öfters gehört.«
»Tja, meine Damen und Herren, dass ich mit Kollateralschäden keine Probleme habe, dürfte inzwischen jeder hier begriffen haben.«
»Da befinden Sie sich in bester Gesellschaft mit anderen Herren«, maulte Bondoni.
Pucao trat von hinten an das Sofa, das Messer in der Hand, griff nach Angströms Haaren.
Manzano sprang auf. Nach einer Schrecksekunde, in der sich auch der überraschte Pucao nicht bewegt hatte, folgten ihm die anderen. Statt in Angströms Haare griff Pucao ins Leere. Manzano trat einige Schritte zurück, auch die anderen gewannen Abstand.
Pucao hatte seine Fassung wiedergewonnen, schloss die Tür zum Nebenraum, umrundete langsam das Sofa.
»Glaubst du, dass du mir entkommst?«
Manzano wich weiter zurück, neben den Tisch, auf dem der Computer stand. Shannon und Angström bewegten sich in die andere Richtung, verteilten sich im Zimmer.
Pucao ging auf Bondoni zu. »Der alte Mann ist am langsamsten«, sagte er.
Bondoni eilte auf die andere Seite des Sofas, das sie wieder voneinander trennte.
Pucao sprang auf die Sitzpolster.
»Gemeinsam!«, brüllte Manzano, stürzte los und rammte seinen Kopf mit voller Wucht in die Nieren des Mannes. Pucao stolperte, fiel hinter der Lehne zu Boden, fing sich. Statt wegzulaufen, trat Bondoni ihm mit voller Kraft gegen das Knie. Pucao knickte ein. Manzano hatte sich aus dem Sofa aufgerappelt, was mit gefesselten Händen nicht so einfach war, kletterte über die Lehne und traf Pucao mit dem Rumpf gegen die Schulter. Gemeinsam stießen sie dahinter gegen die Wand, Manzano spürte einen glühenden Schmerz in der Brust. Pucao traf ein gewaltiger Tritt Shannons von hinten zwischen den Beinen. Er knickte zusammen, in seiner Hand sah Manzano das Messer, die Klinge blutig bis zum Griff, Shannon trat noch einmal zu. Manzano bekam keine Luft, setzte trotzdem nach und warf sich mit seinem ganzen Gewicht auf Pucao, sodass sie zusammen auf den Boden fielen. Neben seinem Kopf sah Manzano Angströms Fuß Pucaos Gesicht treffen, Blut spritzte aus der gesprungenen Lippe. Manzano kämpfte sich hoch, kam auf die Knie. Pucaos Hemd war blutgetränkt. Während Angström auf Pucao eintrat, ließ sich Manzano mit beiden Knien auf ihn fallen.
»Das Messer!«, keuchte Manzano. »Wo ist das Messer?« Ihn schwindelte. In Pucaos Händen, die dieser schützend um den Kopf hielt, konnte er es nicht entdecken.
»Hier«, sagte Bondoni, der es in den gebundenen Händen hielt und damit gerade Shannons Fesseln durchschnitt.
Manzano kniete schwer auf Pucao, der sich nicht mehr bewegte, die bereits befreite Shannon hatte einen Fuß auf seinen Kopf gestellt und legte ihr ganzes Körpergewicht darauf. Sie schnitt Bondonis und Angströms Fesseln auf, dann Manzanos. Mit den Resten der Schnüre banden sie Pucaos Handgelenke und Knöchel zusammen. Der blutete aus einer Wunde an den Lippen und einem Schnitt über den Augen. Seine Lider flatterten, er atmete schwer, seine Augen öffneten sich.
»Zu viele Fehler«, stöhnte Manzano und presste seine Hand auf die linke Brust, mit der er gegen Pucao gestürmt war. Er musste sich eine Rippe gebrochen haben. »Erst recht für einen Unfehlbaren wie Sie.«
Er lief zum Computer. Ihm wurde schwarz vor Augen, er stolperte, fing sich.
Zehn Minuten noch. Wo war der Befehl? Hier. Senden an. Hoffentlich war das der richtige Code gewesen. Wo kam das viele Blut auf der Tastatur her? Hoffentlich hatte er alles richtig gemacht. Der Bildschirm verschwamm vor seinen Augen. Videochat-Fenster. Christopoulos.
»Ja?«
Atemlos sagte er: »Ich habe Ihnen eine IP-Adresse und einen block-Code geschickt. Ich glaube, das war, was ich gesucht habe.« Weshalb bekam er keine Luft?
»Was ist denn mit Ihnen passiert?«, rief Christopoulos.
Statt einer Antwort sagte Manzano: »Überprüfen Sie es trotzdem. Bitte. Schnell. Sofort.« Sein Kopf kippte fast auf die Tischplatte. Er fuhr hoch, murmelte heiser: »Wir haben noch neun Minuten.«
»Was?«
»Machen Sie einfach!«
»Piero!«, schrie Angström. Sie stürzte auf ihn zu, Shannon direkt dahinter. Angström fasste an seine Brust, wo aus einem Schlitz unter dem zerschnittenen Hemd Blut quoll. Sie presste ihre Hand darauf.
Manzano versank im Schmerz, fühlte, wie er kraftlos vom Stuhl glitt, in Shannons Hände. Ihm wurde kalt. Über ihn gebeugt Angström, weshalb diese Panik in ihren Augen? Wie von weit her hörte er sie seinen Namen rufen, immer wieder, immer leiser, nur noch schlafen wollte er, nur noch schlafen. Er ließ die Lider sinken.
Ob Christopoulos es geschafft hat?, dachte er. Kalt. Schlafen.