Zevenhuizen
François Bollard hatte eine weitere unruhige Nacht hinter sich. Nach ihrem Ausbruch am Vorabend hatte seine Frau eine Beruhigungstablette genommen und war schnell eingeschlafen. Bollard hatte sich ebenfalls hingelegt, war aber bald wieder aufgestanden und hatte stundenlang aus dem Fenster gestarrt, das auf den zugeparkten Vorplatz blickte. Irgendwann war dort auch der Letzte in sein Auto gekrochen. Kurz darauf hatte auch Bollard etwas Schlaf gefunden.
Noch vor Morgengrauen erwachte er von Geräuschen, die er nicht sofort identifizieren konnte. Er quälte sich hoch, tappte zum Fenster. Unten hatte sich eine Gruppe von etwa zwanzig Personen vor dem Haustor versammelt und verlangte Einlass. Nachdem er sich angezogen hatte, ging er hinunter. Im Flur kam er nicht mehr weiter. Eine wild diskutierende Horde bedrängte Jacub Haarleven, die Tür zu öffnen. Noch gebot der Hausherr, ein Gewehr quer vor der Brust, der Menge Einhalt.
Seine operative Zeit als Polizist, inklusive der Einsätze bei Kundgebungen und Demonstrationen, war lange her, trotzdem war Bollard sofort klar, dass Haarleven auf Dauer keine Chance hatte. Von draußen klangen die dumpfen Schläge gegen die Tür, drinnen murrten die Leute unwillig. Er sollte ihm das Gewehr abnehmen, bevor Haarleven sich zu Dummheiten hinreißen ließ.
»Gehen Sie zurück«, sagte der Hausherr zu der Gruppe vor ihm und ließ die Waffe sinken. »Ich öffne die Tür, aber Ihnen muss klar sein, dass Sie trotzdem nicht bleiben werden können. Die Behörden werden sich um Sie kümmern.«
»Das haben sie bis jetzt auch nicht getan!«, rief einer.
»Genau!«
»Die lassen uns verhungern und verdursten!«
»Und erfrieren!«
Bollard überlegte bereits, wo er seine Familie jetzt noch unterbringen konnte. Wie es aussah, mussten sie wieder nach Hause. Holz für den Kamin hatten sie genug. Aber weder Lebensmittel noch Wasser. Er selbst würde noch eine Weile über Europol versorgt. Aber wie lange noch?
Eine Frau aus der Gruppe trat vorsichtig vor. Sie musste im fünften oder sechsten Monat schwanger sein. »Wir bitten Sie um Hilfe«, flehte sie, drehte sich zu den anderen um. »Beruhigt euch. Mit Geschrei ist niemandem geholfen.«
»Die habe ich schon gegeben«, erwiderte Haarleven. »Aber ich habe nicht Platz für alle, die draußen sind. Und auch nicht genug Verpflegung.«
Aus einem Nebenraum klang das Klirren von Glas, dann ein Poltern, noch ein Klirren. Die Frau zuckte zusammen, Haarleven umklammerte sein Gewehr, trat einen Schritt nach vorn. Die Menge wich zurück. Bollard beeilte sich, die Waffe sanft niederzudrücken.
»Jemand hat ein Fenster eingeworfen!«, rief eine Frau aus dem Frühstücksraum. »Hört auf!«
Auf der Treppe entdeckte Bollard seine Frau mit besorgtem Gesicht. Mit einer Handbewegung bedeutete er ihr, wieder hinaufzugehen. Er hatte seinen Entschluss gefasst und folgte Marie ins Zimmer.
»Wir packen«, erklärte er. »Schnell.«
Sie verlangte keine Erklärungen.
Zwanzig Minuten später schleppten sie ihr gesamtes Gepäck die Treppe hinunter, damit sie nur ein Mal aus dem Haus mussten.
Haarleven, mittlerweile auf einem Stuhl neben der Tür, das Gewehr zwischen den Beinen, empfing sie mit überraschter Miene.
»Wir fahren«, erklärte Bollard. »Bezahlt hatte ich ja eine Woche im Voraus. Wir sind Ihnen also nichts schuldig. Lassen Sie uns bitte hinaus?«
Vorsichtig öffnete Haarleven die Pforte und schob Bollard hindurch. Kaum war die Familie im Freien, schlug er die Tür hinter ihnen zu.
Alles war so schnell gegangen, dass die Belagerer nicht hatten reagieren können. Die Bollards schleppten ihren Kram zu den Autos und luden sie voll. Ein paar andere mussten zur Seite fahren, um den zugeparkten Wagen von Marie freizugeben.
»Die Kinder fahren mit mir«, erklärte Bollard. Wenige Minuten später hatten sie das Grundstück verlassen, da leuchtete das Tankreservelicht auf. So viel konnte er unmöglich verbraucht haben. Bei der Ankunft gestern Abend war der Tank noch halb voll gewesen.
Kaum hatten sie die Stadtgrenze von Den Haag erreicht, als hinter ihm seine Frau mehrmals kurz aufblendete, um ihm ein Signal zu geben. Bollard fuhr langsamer, doch Marie war bereits am Straßenrand stehen geblieben und betätigte abermals die Lichthupe. Er legte den Rückwärtsgang ein.
»Ihr bleibt sitzen«, sagte er zu den Kindern und stieg aus.
»Benzin ist aus«, erklärte Marie. »Dabei weiß ich sicher, dass der Tank fast voll war, als ich vorgestern auf dem Bauernhof angekommen bin. Seither bin ich nicht mehr gefahren.«
»Dann habe ich mich doch nicht verguckt«, erwiderte er. »Ich fahre auch schon auf Reserve.«
Sie prüften den Tankdeckel. Er war aufgebrochen worden.
Sie luden die Koffer um, schoben Maries Wagen noch ein Stück weiter an den Rand und fuhren gemeinsam in seinem Wagen weiter.
»Hoffentlich kommen wir noch bis nach Hause«, bemerkte Georges von der Rückbank.
»Wann hat das ein Ende?«, flüsterte Marie mit Tränen in den Augen.
Den Haag
Zu Hause half François ihr noch beim Ausladen des Autos, dann fuhr ihr Mann weiter zu Europol.
Da war sie also wieder. Leider nicht, weil alles vorbei war. Zuerst entzündete Marie Bollard ein Feuer im Wohnzimmerkamin, damit wenigstens ein Raum im Haus geheizt war. Nachdem sie die Koffer und Taschen ausgeräumt hatte, inspizierte sie den Kühlschrank. Tiefkühlware und leicht verderbliche Produkte hatte sie bereits in den ersten Tagen des Ausfalls verbraucht. Danach war nicht mehr viel übrig geblieben. Wegen des geplanten Aufenthalts auf dem Bauernhof hatten sie sich um keine Vorräte gekümmert. Während ihrer Abwesenheit waren die meisten Reste verdorben. In der Speisekammer fand sie verschiedene Konserven, die würden noch ein, zwei Tage reichen, wenn auch in seltsamen Speisekombinationen, aber jetzt war die falsche Zeit für hohe Ansprüche. Sie musste sich dringend schlaumachen. Vielleicht wussten ihre Nachbarn schon, wo man Lebensmittel beziehen konnte. François hatte von solchen Stellen erzählt. Vielleicht wusste auch er Bescheid. Dann versuchte sie den Fernseher und das Telefon, jedes Mal vorher schon wissend, dass sie keinen Mucks von sich geben würden. Wie es wohl ihren Eltern ging?
+ Lage in Saint-Laurent für EU-Kommissar ernst +
EU-Umwelt-Kommissar Roman Padarescu äußerte sich beunruhigt über den Unfall in dem französischen Kernkraftwerk. Gleichzeitig zeigte er sich überzeugt, dass die Verantwortlichen die Lage im Griff hätten. Bislang wären nur geringe Mengen an Radioaktivität freigesetzt worden, für die Bevölkerung Frankreichs und Europas bestünde keine Gefahr. »Wir müssen gemeinsam die schwierigen Umstände bewältigen, unter denen Hunderte Millionen Menschen gerade leiden. Das sollten wir mit der notwendigen Ruhe und Solidarität tun.«
Die Lage im Griff!, dachte Bollard, während er auf den Bildschirm starrte, und glaubte keine Sekunde daran. Ebenso wenig wie an die geringe Menge freigesetzter Radioaktivität. Dass die Telefone in der Europol-Zentrale funktionierten, half ihm wenig. Zum wiederholten Mal an diesem Morgen wählte er die Telefonnummer seiner Eltern, und als sich niemand meldete, jene des französischen Innenministeriums, der Atomsicherheitsbehörde und der Polizei in Nanteuil, in Blois und in Orléans. Vier der Leitungen waren tot, im Innenministerium hob niemand ab. Der Griff zum Telefon war für Bollard längst zum sinnentleerten Ritual geworden. In seinem Innersten wusste er, dass ihm niemand über das Schicksal seiner Eltern und der Doreuils würde Auskunft geben können.
+ USA: Reaktoren und Stromnetze sicher +
Umweltorganisationen und Abgeordnete des US-Kongresses fordern nach den großflächigen Stromausfällen in Europa ein Überdenken der Energiepolitik. Regierungsmitglieder bezeichneten die amerikanischen Reaktoren als sicher. Die Ereignisse in Europa zeigten die Bedeutung des raschen Ausbaus der Energienetze zum Smart Grid. Einwände, dass der Ausfall in Europa durch Angriffe auf die smarten IT-Komponenten des Netzes ausgelöst wurde, wiesen sie als »irreführend« zurück.
+ Asiatische Börsen mit schweren Verlusten +
Die asiatischen Börsen starteten den dritten Handelstag in Folge mit bis zu zweistelligen Verlusten. Der japanische Topix verlor bis Mittag 9 %, der Hang Seng 8 %, der Sensex 10,7 %.
+ Meldungen über Reaktorschäden unterschiedlich +
»An der Reaktorhülle in Saint-Laurent könnte es zu Schäden gekommen sein«, erklärte ein Experte der französischen Atomsicherheitsbehörde. Ist die Hülle um die Brennstäbe beschädigt, kann es zum Austritt großer Mengen von Radioaktivität kommen. Der Betreiber dagegen verweist auf Strahlenmessungen, die belegen, dass es zu keiner wesentlichen Erhöhung der Belastung während der vergangenen Stunden kam. Umweltschutzorganisationen widersprechen und behaupten, im fünfzehn Kilometer entfernten Chambord, Standort des weltberühmten Loire-Schlosses, eine Belastung von einem Mikrosievert pro Stunde gemessen zu haben. Das entspräche dem zehnfachen des als unbedenklich geltenden Wertes.
+ Eilmeldung: Frankreich evakuiert Bevölkerung +
Das französische Innenministerium bestätigt, dass im Umkreis von fünf Kilometern rund um das Kraftwerk Saint-Laurent im Department Loire-et-Cher mit der Evakuierung der Bevölkerung begonnen wurde. Betroffen davon sind mehrere Dörfer und Kleinstädte beiderseits der Loire. Im Umkreis von dreißig Kilometern wurde die Bevölkerung aufgefordert, ihre Häuser weiterhin nicht zu verlassen. Davon betroffen sind unter anderem Städte wie Blois mit seinem weltberühmten Schloss und Vororte von Orléans. Weitere Evakuierungsmaßnahmen werden nicht ausgeschlossen.
»Mein Gott«, stöhnte Bollard. Nanteuil lag zwischen Blois und Saint-Laurent. Erneut griff er zum Telefon.
+ Bargeldabhebungen auf 100 Euro pro Tag beschränkt +
Nach dem gestrigen Ansturm auf die Banken in den meisten europäischen Ländern ruft die Europäische Zentralbank zur Ruhe auf. »Die Bargeldversorgung ist gesichert«, bekräftigte ihr Vorsitzender Jacques Tampère. Bis auf Weiteres wird die Abhebung jedoch auf hundert Euro pro Tag und Person beschränkt. Tampère dementierte, dass einige Banken vor dem Zusammenbruch stünden. »Wir müssen jetzt einen kühlen Kopf bewahren«, forderte er. Viele kleinere Bankfilialen, besonders auf dem Land, bleiben mittlerweile aber geschlossen, weil sie nicht mehr mit Bargeld und Treibstoff für die Notstromanlagen beliefert werden können. Tampère bestätigte, dass die EZB weitere einhundert Milliarden Euro für die Stützung der Märkte zur Verfügung stellte.
+ Radioaktive Wolke unterwegs nach Paris? +
Für Unruhe sorgen seit dem frühen Morgen Berichte, wonach eine Wolke mit radioaktiven Partikeln aus Saint-Laurent vom Wind Richtung Paris getrieben wird. Laut AKW-Betreiber EDF wurde gestern leicht radioaktiver Dampf aus dem Kernkraftwerk abgelassen, um den Druck im Reaktor zu reduzieren. Nach Angaben von EDF seien die Mengen jedoch nicht gesundheitsgefährdend gewesen. Der französische Wetterdienst bestätigt die Wetterlage, wonach derzeit der Wind von Süden weht – für Paris sieht der Wetterdienst keine Gefahr. Saint-Laurent liegt einhundertsechzig Kilometer südlich von Paris. Für den Fall, dass tatsächlich eine Wolke Paris erreichen sollte, wird empfohlen, in geschlossenen Räumen zu bleiben.
Es klopfte an Bollards Tür.
»Herein.«
Manzano trat ein.
»Haben Sie kurz Zeit?«
Bollard legte den Hörer zurück und bat ihn an den kleinen Besprechungstisch.
»Sie sehen blass aus«, bemerkte Manzano.
»Ich bekomme zu wenig Schlaf in den letzten Tagen.«
»Wer nicht«, seufzte Manzano. Er stellte den Laptop vor Bollard auf.
»Sie erinnern sich an die Daten der Softwarelieferanten für die Kraftwerke, die ich von Ihnen wollte?«
»Ja.«
»Ich glaube, ich habe da etwas entdeckt, woher die rätselhaften technischen Probleme bei den Kraftwerken kommen könnten. Deren Software ist ja erstens sehr spezifisch und zweitens sehr komplex, so komplex, dass ein breiter Angriff auf so viele Kraftwerke eigentlich viel zu aufwendig ist. Wo könnte ein Angreifer also ansetzen? Ich habe mir einfach überlegt, wo ich ansetzen würde, wenn ich genügend Vorbereitungszeit und Geld hätte. Als Angreifer brauche ich ein Einfallstor, das mir bei möglichst vielen potenziellen Opfern zur Verfügung steht. Also etwas, was bei möglichst vielen Kraftwerkssteuersystemen, trotz aller Unterschiede, gleich ist. Wenn man so denkt, kommt man recht schnell dahinter, dass das die SCADA-Systeme, die Softwaresysteme, die Kraftwerke verwenden, sind. Weil sie weltweit von nur wenigen Ausrüstern stammen. Diese SCADA-Hersteller entwickeln natürlich auch für jedes Kraftwerk spezifische Lösungen. Aber gewisse Softwareteile sind für viele gleich. Wenn es mir also gelingt, einige dieser Teile zu manipulieren, habe ich gewonnen.«
»Aber die SCADAs sind aufgrund ihrer Struktur extrem sicher«, warf Bollard ein. »Außerdem müsste man trotzdem jedes Kraftwerk separat infiltrieren und die jeweiligen Sicherheitsmaßnahmen durchbrechen. Das ist immer noch ein riesiger Aufwand.« Er zog die Augenbrauen zusammen. »Es sei denn …«
»… es handelt sich um einen Insider-Job beim SCADA-Produzenten«, führte Manzano Bollards Gedanken zu Ende. »Ich habe mittlerweile Grund zu der Annahme, dass genau das der Fall sein könnte. Könnte, sage ich mit sehr großer Vorsicht. In den letzten Jahren wurden SCADAs zunehmend unsicherer.«
»Inwiefern unsicherer?«, fragte Bollard.
»Vergleichsweise sicher waren nur die SCADA-Systeme der ersten Generation, in denen die Hersteller jeweils eigene Softwareprotokolle und -architektur verwendet hatten. Moderne SCADA-Systeme bedienen sich jedoch zunehmend Standardlösungen, wie sie auf jedem Computer und im Internet verwendet werden. Das macht die Bedienbarkeit einfacher, erhöht aber die Sicherheitsrisiken drastisch«, erklärte Manzano. »Allerdings muss ich gestehen, dass mein Verdacht nur auf einer einzigen Statistik beruht.«
Auf dem Monitor aktivierte er eine Europakarte mit vielen blauen Punkten.
»Das sind nach aktuellem Stand die betroffenen Kraftwerke. Ich habe einen simplen Abgleich mit den jeweiligen Softwareausrüstern gemacht. Das Ergebnis ist verblüffend.«
Er drückte eine Taste. Die meisten der Punkte färbten sich rot. »All diese Kraftwerke wurden von einem SCADA-Hersteller ausgerüstet.«
Er ließ seine Worte sacken.
»Zur Sicherheit habe ich natürlich den Gegencheck durchgeführt. Das restliche Viertel wurde von anderen großen SCADA-Ausrüstern ausgestattet. Kurz: Eine überwältigende Mehrheit der nach wie vor nicht einsatzfähigen Kraftwerke arbeitet mit Systemen desselben Ausrüsters: Talaefer.«
Kommandozentrale
Langsam wurde der Italiener lästig.
Natürlich hatten sie damit gerechnet, dass Tausende Ermittler in Europa früher oder später eine Spur finden würden. Allerdings hatten sie es deutlich später erwartet, als es nun der Fall war. Und wieder war der Italiener schuld. Zuerst die Stromzähler in Italien und Schweden, jetzt das. Zeit, dass sie etwas gegen den Kerl unternahmen. Sie würden noch ihren Spaß mit ihm haben. Zu seinem Computer hatten sie Zugang. Er tippte ein paar Befehle in seine Tastatur. Auf einem Bildschirm vor ihm erschien eine Liste mit Namen, darunter Manzanos. Daneben stand »offline«. Sobald der Italiener den Laptop wieder anschaltete und online ging, würde er ihm eine kleine Überraschung bereiten. Dabei bedauerte er ihn fast ein wenig. Manzano war ihnen so nah. Mit ihnen war er den Bullen gegenübergestanden, hatte die Prügel ihrer Schlagstöcke eingesteckt. Wie sie hatte er sich in verbotene Räume gewagt, als er sich schwerelos durch die unendlichen Weiten des Netzes gehackt, Grenzen durchdrungen und aufgelöst hatte. Bis er irgendwann wie so viele die falsche Abzweigung genommen hatte. Wenn sie ihn schon nicht auf den rechten Weg zurückbrachten, dann mussten sie ihn jetzt aus ihrem eigenen räumen.
Den Haag
»Was halten Sie davon?«
Mit einem Stirnrunzeln blickte Bollard in die Kamera seines Laptops. In dem kleinen Fenster rechts oben auf seinem Bildschirm sah er das Gesicht des Direktors von Europol. Der war schon wieder unterwegs, diesmal in Brüssel, um sich mit verschiedenen führenden Beamten anderer EU-Organisationen zu beraten.
»Eine Spur, der wir nachgehen können«, meinte der Direktor. »Wir müssen jede mögliche Idee verfolgen. Uns läuft die Zeit davon.«
Darauf hatte Bollard gehofft. Manzanos Zusammenarbeit mit der amerikanischen Journalistin hatte Bollards schlimmste Befürchtungen bestätigt. Auch wenn Manzano, genau betrachtet, nicht gegen die Geheimhaltungsklausel verstoßen hatte, traute er ihm weniger denn je. Er wollte diesen kriminellen Pseudorevoluzzer aus dem Haus haben.
»Was halten Sie davon?«, fragte er Ruiz, »wenn wir Manzano als Unterstützung zu Talaefer schicken, um denen zu helfen?«
Sollen sich die Deutschen mit ihm herumschlagen.
»Wenn Sie ihn nicht brauchen …«
»Wir bräuchten jeden Mann, aber wenn an seiner These etwas dran ist, sind sie bei Talaefer sicher auch glücklich über Hilfe.«
»Schlagen Sie es vor.«
Endlich, dachte Bollard. Ciao, Piero Manzano!
Ratingen
»Die wollen was?«, fragte Wickley.
»An die Software ran«, wiederholte der Technikvorstand. Er hatte ein Satellitentelefon aufgetrieben, mit dem er die Verbindung zum Standort Bangalore hielt. »Wir konnten eben erst wieder den Kontakt herstellen. Wir kommen nur drei oder vier Mal am Tag durch.«
»Und jetzt gab es Anfragen?«
Draußen über dem Gebäude der Talaefer AG erstreckte sich ein grauer Himmel. Der Winter war trist hier. Erst recht, wenn man wie sie bei zehn Grad im Büro Schal und Winterjacken tragen musste. Sie boten einen lächerlichen Anblick. Wickley träumte sich nach Bangalore.
»Drei Betreiber melden Probleme bei mehreren Kraftwerken, die sie sich nicht erklären können. Sie hätten gern Unterstützung von uns.«
»Dann müssen wir dafür sorgen, dass sie die bekommen. Womit kämpfen sie konkret?«
»Wissen wir noch nicht genau. Das Problem ist, dass sich unsere Serviceleute üblicherweise online einloggen und die Systeme ansehen. Aber solange das Internet nicht vernünftig funktioniert, ist das unmöglich.«
»Dann müssen wir jemanden hinschicken.«
»Wir können froh sein, wenn wir noch Leute hier haben, die sich auskennen. Wenn wir die jetzt auch noch wegschicken … und zu wem sollen wir sie zuerst schicken? Und wie?«
Er rieb die Hände aneinander, führte sie zum Mund, hauchte sie an.
»Finden Sie einen Weg!«
»Wir suchen bereits danach. Aber es ist wie mit dem Diesel. Immer ist jemand anderes zuerst dran, weil wichtiger.«
In Wickleys Ohren entstand ein seltsames Rauschen, das sich in ein Dröhnen verwandelte. Er hatte bereits zwei Hörstürze hinter sich. Einen weiteren brauchte er so dringend wie ein Loch im Kopf. Das Geräusch wurde immer lauter, entwickelte ratternde Untertöne.
»Was ist das?«, fragte der Technikvorstand.
»Hören Sie es auch?« Wickley versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. Es war die falsche Zeit für Zeichen der Schwäche.
Der Lärm füllte jetzt seinen Kopf. Ein Schatten verdunkelte die Fenster des Vorstandsbüros. Wickley erkannte eine dunkelblaue Silhouette, dann den rasenden Rotor eines Hubschraubers, der sich langsam auf den Parkplatz vor dem Haus senkte.
»Was zum …«
Sie stürzten zum Fenster und beobachteten, wie das Fluggerät zwischen den Autos aufsetzte. Gleich darauf sprangen vier Gestalten heraus, beladen mit schweren Taschen, die sie auf den Boden warfen. Zwei von ihnen liefen geduckt zum Gebäude, zwei blieben stehen. An der Seite des Hubschraubers konnte Wickley einen Schriftzug entziffern.
»Polizei?«
»Was wollen die denn hier?«, rief der Technikvorstand ungläubig.
Aus dem Inneren des Helikopters wurden Kisten gereicht, die von den zwei Verbliebenen in Empfang genommen und neben den Taschen abgestellt wurden. Schließlich sprangen zwei weitere Passagiere hinaus. Einer gab ein Zeichen, der Hubschrauber hob ab und zog in einer langen Kurve hinauf und davon. Die ganze Aktion hatte nicht länger als drei Minuten gedauert.
Jemand klopfte an die Tür.
Sie saßen in einem kleinen Besprechungszimmer hinter dem Empfangsraum, in das Wickley sie geführt hatte. Der Vorstandsvorsitzende musterte Hartlandt, dann räusperte er sich und sagte: »Unter welchem Titel führen Sie diese Untersuchung?«
Hartlandt hatte in seiner Karriere beim Bundeskriminalamt gelernt, auch mit Führungskräften internationaler Großunternehmen umzugehen. Ihm missfiel Wickleys Überheblichkeit, doch er war sie gewohnt und blieb ruhig.
»Ermittlungen zur Bildung einer terroristischen Vereinigung, einfach gesagt. Ich nehme nicht an, dass Sie darin verwickelt sind«, lancierte er eine dezente Spitze. »Aber jemand in Ihrer Firma könnte es sein. Falls das so ist, wollen Sie das sicher so schnell wie möglich geklärt wissen, oder?«
Wickley wog Hartlandts Aussagen ab. »Unsere SCADA-Systeme?«, fragte er. »Unmöglich!«, fügte er entrüstet und entschieden hinzu.
Hartlandt hatte diese Reaktion erwartet. Er packte die Statistik aus, die Europol ihm geschickt hatte, breitete das Blatt vor dem Vorstandsvorsitzenden aus und erklärte ihm die Fakten.
»Das muss ein Irrtum sein«, beharrte Wickley.
»Irrtum oder nicht«, erwiderte Hartlandt. »Wir müssen der Sache nachgehen. Stellen Sie uns bitte eine Liste aller Mitarbeiter zusammen, die an diesen Projekten gearbeitet haben. Außerdem möchten wir uns heute noch mit den verantwortlichen Führungskräften zusammensetzen. Meine Mitarbeiter hier sind IT-Forensiker des Bundeskriminalamts. Sie werden Ihre Leute dabei unterstützen, mögliche Fehler zu finden.«
»Das wird nicht ganz so einfach sein, fürchte ich«, gestand Wickley schließlich.
Hartlandt sah, dass ihm dieses Zugeständnis nicht leichtfiel. Er sagte nichts und wartete, dass der andere fortfuhr.
»Unsere Notstromversorgung war auf einen Fall wie diesen nicht eingerichtet. Viele Mitarbeiter können wegen Treibstoffmangels und ausgefallener öffentlicher Verkehrsmittel nicht zur Arbeit erscheinen. Und ohne Strom können wir auch nicht auf unsere Computer zugreifen, in denen sämtliche Daten gespeichert sind.«
Hartlandt verkniff sich eine Bemerkung über mangelnde Stromversorgung eines großen Zulieferers der Energieindustrie, stattdessen nickte er nur leicht. »Ich kümmere mich darum. Wir werden hier zumindest eine Mindestversorgung etablieren. Dazu brauchen wir bis morgen. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Angestellten dann da sind. Außerdem benötige ich drei Räume hier im Haus als Quartier für mich und meine Leute und für ein Lagezentrum.«
Berlin
Michelsen stieg aus der Dusche und trocknete sich ab. Rasch brachte sie ihre Haare in Ordnung, trug ein wenig Schminke auf und zog sich an. Als sie das kleine Bad verließ, warteten bereits zwei andere. Die vier kleinen Kojen im Keller des Ministeriums waren eine beliebte Anlaufstelle. Einer der wenigen Orte in Berlin, an denen man noch einigermaßen normale Körperhygiene pflegen konnte.
Michelsen nahm den Fahrstuhl in den dritten Stock.
Im Krisenstab ging es zu wie in einem Bienenstock. Ein Kollege streckte einen Telefonhörer in die Luft und rief ihren Namen.
Am anderen Ende meldete sich Jürgen Hartlandt. Sie hatte ihn kurz per Bildschirmtelefonat kennengelernt, nachdem der Krisenstab beschlossen hatte, Sonderermittler zu Talaefer zu schicken.
»Talaefer hat keinen Strom«, erklärte der BKA-Mann nach einer knappen Begrüßung. »Wir brauchen ein paar Generatoren.«
Michelsen schloss für einen Moment die Augen und seufzte.
»Ich kümmere mich darum. Ich rufe Sie zurück.«
Michelsen wusste, dass es eilte. Doch alles eilte in diesen Tagen. Sie ging zum Kontaktmann des Technischen Hilfswerks und erklärte ihm das Problem.
»Alle brauchen Generatoren«, schnaubte er. »Und den Treibstoff dazu. In den vergangenen zwei Tagen haben wir so gut wie alle verteilt.«
»Ich weiß, ich weiß … Aber das hier ist wichtig.«
»Ich weiß.« Der Mann zuckte mit den Achseln. »Aber Sie kennen das Problem ja selbst.«
Auf seinem Computer rief er eine Deutschlandkarte auf. Darauf waren unzählige Punkte in verschiedenen Farben verteilt. Sie häuften sich in und um die Städte. Mit ein paar Tastenbefehlen blieben schließlich nur noch die dunkelblauen Punkte übrig.
»Gepriesen seien unsere Geodatenprogramme! Haben auch genug gekostet. Aber immerhin sind wir jetzt gut organisiert. Hier sind alle unsere Notstromsysteme eingetragen. In der Liste rechts sehen Sie, wie viele noch verfügbar sind.«
»Die Liste ist leer«, bemerkte Michelsen.
»Messerscharf erkannt. Das Problem besteht also darin, dass wir Generatoren, die Sie bei Talaefer einsetzen wollten, woanders abziehen müssen. Die Betroffenen werden sich nicht freuen.«
»Das tut mir leid für sie«, erwiderte Michelsen. »Aber diese Ermittlungen gehen vor. Sie wissen besser, wer wo wie versorgt ist. Entscheiden Sie, wer in Düsseldorf oder Umgebung am ehesten auf den Notstrom verzichten kann. Ich übernehme die Verantwortung.«
Der Mann scrollte eine Weile durch eine andere Liste. Dann sagte er: »Ich hätte da einen Lokalpolitiker in Düsseldorf, der tatsächlich Generatoren für sein Restaurant und sein Fitnessstudio bekam. Mit dem Argument, dass er für die Lebensmittelversorgung und Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich sei.«
»Zu ein paar Ausnahmen waren wir gezwungen.«
»Gezwungen …«, spuckte der Mann spöttisch aus.
»Aber vielleicht kann man ja eine davon jetzt rückgängig machen, was meinen Sie?«
»Nichts lieber als das.«
Düsseldorf
Die Szenen erinnerten ihn an seine früheste Kindheit, doch er wusste nicht einmal, ob er die Bilder in seinem Kopf nur aus den Medien hatte. So leer hatte Hartlandt deutsche Straßen lange nicht gesehen. Kaum jemand hatte noch Treibstoff im Tank. Tanken konnte nur, wer einen Berechtigungsschein hatte. Und die wurden ausschließlich an jene vergeben, die für die Versorgung der Bevölkerung die notwendigsten Güter transportierten. Auch Menschen waren nur vereinzelt zu sehen. Stattdessen wucherten Berge von Müllsäcken auf den Bürgersteigen. Eine gespenstische Stimmung herrschte in der Stadt.
Im Rückspiegel beobachtete er den Konvoi. Der Lastwagen mit dem Hebearm folgte ihm. Dahinter wusste er einen Kleinbus der Düsseldorfer Polizei mit sechs Beamten. Sie mussten darauf vorbereitet sein, dass in diesen Tagen niemand seine Stromversorgung freiwillig hergab, auch wenn sie ihm nicht gehörte.
Keine Ampel regelte mehr den Verkehr. Auch keine Polizisten, das hatte man nur vereinzelt in den ersten Tagen versucht. Ab und zu sah Hartlandt einen Einsatzwagen.
Er fuhr den Fürstenwall entlang. Nur gelegentlich warf er einen Blick auf die Hausnummern. Das Objekt würde er auch so erkennen.
Schon von Weitem sah er die Maschinen. Zwei Meter hoch und noch breiter belegten sie in ihren Containern fast den gesamten Bürgersteig. Über dessen schmalen Rest lagen dicke Kabelstränge und verschwanden in einer Haustür. Rechts davon pries eine große Tafel an der Fassade die Pizzeria San Geminiano an, links wiesen – abgeschaltete – Leuchtbuchstaben das Fitnessstudio aus.
Er parkte so, dass der Lkw hinter ihm direkt neben den Geräten zum Stehen kam. Er wartete, bis alle ausgestiegen waren, seine Kollegin, die drei Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks aus dem Lkw und die Uniformierten aus dem Mannschaftswagen. Es stank nach Diesel und Müll.
Gemeinsam betraten sie die Pizzeria. Eine Kellnerin begrüßte sie und wollte ihnen einen Tisch anbieten. Hartlandt verlangte nach dem Besitzer. Die Frau verschwand in einer Tür hinter dem Tresen.
Hartlandt sah sich um. Das Lokal war gut besucht. Kein Wunder. Hier war es warm, es gab Essen und Getränke. Die Gäste musterten die Truppe verstohlen. Er griff sich eine Speisekarte, in Folien eingeschweißte Drucke, studierte sie. Der übliche Nachbarschaftsitaliener, Pizza, Pasta, Tiramisu. Die Preise waren von kleinen, mit Hand beschriebenen Klebern verdeckt, die neu aussahen. Die Pizzeria musste Gold in ihre Speisen mischen.
»Guten Tag, meine Herren. Was kann ich für Sie tun?«
Hinter dem Tresen erschien ein Mann mit breiten Schultern und Stiernacken, der in einem blauen Hemd mit weißem Kragen steckte. Darüber trug er Jackett und Schlips. Er überragte den nicht kleinen Hartlandt um Haupteslänge.
»Alfons Hehnel?«, fragte Hartlandt.
»Ja.«
Hartlandt zeigte ihm seinen Ausweis.
»Wir haben den Auftrag, die Generatoren vor Ihrem Lokal abzubauen. Es empfiehlt sich daher, dass Sie das Lokal jetzt schließen.«
Der Mann zog die Augenbrauen zusammen, dann hellte sich seine Miene wieder auf.
»Nein«, erklärte er. »Das muss ein Irrtum sein. Ich habe die Geräte extra bekommen, damit die Leute in der Umgebung hier versorgt werden können.«
»Das mag sein. Doch die Maschinen werden woanders dringender gebraucht. Wir beginnen jetzt mit dem Abbau.« Er gab den Männern vom Technischen Hilfswerk ein Zeichen. Sie verließen den Gastraum. Hehnel lief ihnen nach.
»Nein! Das dürfen Sie nicht!«
Hartlandt ging hinterher, die Polizisten im Schlepptau. Vor dem Lokal folgten die Männer vom THW dem Kabelstrang in den Hausflur, wo er in einer Tür verschwand. Ein Vorratsraum hinter der Küche, wie sich herausstellte. Als sie anfangen wollten, die Anschlüsse zu trennen, zog Hehnel sie zurück. »Schluss jetzt! Sie können hier doch nicht einfach hereinspazieren und den Leuten den Strom abstellen.«
»Können wir schon. Lassen Sie die Männer bitte arbeiten.«
»Kommt nicht infrage.« Er baute sich vor den Steckern auf. Aus der Küche sah ein Koch herein. Er war noch muskulöser als sein Chef.
»Hol die anderen«, befahl ihm Hehnel. »Die wollen uns den Strom wegnehmen.«
»Herr Hehnel«, erklärte Hartlandt geduldig, »Wenn Sie uns behindern, machen Sie sich strafbar. Lassen Sie die Männer jetzt bitte weitermachen.«
Hehnel stand mit verschränkten Armen da, hob sein Kinn, was Hartlandt an Mussolini erinnerte, und erklärte: »Sie wissen wohl nicht, wer ich bin.«
»Kreistagsabgeordneter der CDU. Das wird Ihnen aber auch nicht helfen. Mein Befehl kommt direkt aus dem Krisenstab. Und auch wenn der Bundeskanzler der SPD angehört, glauben Sie mir, das hier hat nichts mit Politik zu tun. Treten Sie bitte zur Seite.«
Aus der Küche und vom Flur drängte ein gutes Dutzend Muskelmänner, die meisten in Sportkleidung, einige verschwitzt, in den kleinen Raum. Der Koch musste sie aus dem benachbarten Fitnessstudio geholt haben.
»Was soll das werden?«, fragte Hartlandt. Er wandte sich an die Neuankömmlinge und erklärte ihnen seinen Befehl. Ungerührt hörten sie zu, suchten mit Blicken Anweisungen von Hehnel. Als er fertig war, gab er zwei Polizisten ein Zeichen. Sie stellten sich neben Hehnel, wollten ihn von seinem Platz schieben, doch dieser wehrte sich. Als die Beamten mit mehr Nachdruck zur Tat schritten, kam es zum Handgemenge, Hehnel schimpfte und fluchte, wich aber nicht zur Seite. Seine Muckitruppe rückte bedrohlich näher.
Hartlandts Leute waren zahlenmäßig unterlegen. Er fragte sich, was diese Männer sich einbildeten. Glaubten sie wirklich, ihn und seine Kollegen einschüchtern zu können?
Er trat auf Hehnel zu.
»Es reicht!«, sagte er scharf. »Lassen Sie uns unsere Arbeit machen.«
Hehnel rührte sich nicht von der Stelle, blickte überheblich auf ihn herab. Ohne Vorwarnung brachte Hartlandt ihn mit einem Kampfgriff zu Fall. Bevor Hehnel reagieren konnte, lag er auf dem Bauch, einen Arm hinter den Rücken gedreht, Hartlandts Knie im Rücken. Der Kreis von Hehnels Leuten zog sich um die Beamten enger, im nächsten Moment jedoch wichen sie wieder zurück. Einige Beamte hatten ihre Waffentaschen geöffnet.
»Meine Herren, Sie gehen jetzt besser nach Hause, bevor wir Sie verhaften«, befahl Hartland, während ein Polizist Hehnel Handschellen anlegte.
Die anderen Uniformierten drängten die Sportler hinaus, eine Hand immer an der Hüfte.
Hartlandt half Hehnel auf die Beine und führte ihn in das Lokal. Den überraschten Gästen verkündete er: »Das Lokal ist geschlossen. Bitte verlassen Sie es jetzt.«
Als die Leute gingen, hielt Hartlandt einen älteren Herrn auf. »Sind Sie öfter hier?«
Der Mann sah ihn vorsichtig an, dann antwortete er: »Ja. Wieso?«
Hartlandt zeigte ihm eine Speisekarte.
»Sind die Preise hier schon länger so stolz?«
»Seit dem Stromausfall, was denken Sie denn?«, antwortete der Mann empört. Hartlandt konnte nicht einordnen, ob die Empörung den Preisen oder seiner Frage galt.
»Danke«, erwiderte Hartlandt. Er ließ den Mann gehen und sagte zu Hehnel: »Wucher auch noch.«
Er schob Hehnel auf die Straße und nickte den Mitarbeitern des Technischen Hilfswerks bei den Generatoren zu. Deren Brummen verstummte. In der Pizzeria San Gimignano wurde es dunkel.
Eine Viertelstunde später baumelte der erste Generator unter dem Kranarm des Lkws auf seinem Weg zur Ladefläche.
Den Haag
Ein Konvoi aus Militär- und Tankwagen schob sich über den Bildschirm, Manzano musste an den gleichnamigen Actionfilm aus den späten Siebzigerjahren denken.
»Der Unfall in Frankreich hat in den übrigen Ländern Europas für Unruhe gesorgt. Streng bewachte Diesellieferungen sollen die ausreichende Versorgung der Notstromsysteme in den Kernkraftwerken sichern.«
Alle Anwesenden im Besprechungsraum von Europol verfolgten die Reportage.
»Mit Ausnahme von Saint-Laurent befinden sich so gut wie alle Kraftwerke des Kontinents und auf den Britischen Inseln in stabilem Zustand«, erklärte der Nachrichtensprecher, »die Internationale Atomenergie-Organisation meldet aus zwölf Anlagen geringfügige Zwischenfälle. Einzig im tschechischen Kraftwerk Temelín bleibt die Lage angespannt. Schlechte Nachrichten gibt es dagegen aus dem havarierten französischen Kraftwerk.«
Längst verfolgten sie hier nur noch CNN, die nationalen und viele europäische TV-Stationen hatten ihren Sendebetrieb einstellen müssen. Auf dem Bildschirm unscharfe, körnige Aufnahmen der Anlage. Als würde ein Luftballon platzen, dehnte sich eines der Gebäude zu einer gewaltigen Wolke aus.
»In der havarierten Anlage kam es zu einer zweiten Explosion. Dabei wurden Gebäude schwer beschädigt.«
Unheimliche Wesen in Schutzanzügen staksten wie gigantische Insekten über das Kraftwerksgelände, ratternde Kästchen in den Händen.
»Eine Stunde danach wurde eine dreißigfach erhöhte Radioaktivität gemessen.«
Ein weiterer Insektenmann, auf dessen Overall ein Logo von Greenpeace prangte, streckte ein Messgerät in die Kamera.
»Umweltorganisationen geben an, bereits zwanzig Kilometer vom Kraftwerk entfernt gesundheitsbedrohlich hohe Strahlendosen gemessen zu haben.«
Kolonnen von Militärlastkraftwagen, in deren Laderäumen sich grün vermummte Spezialeinheiten drängten, schienen direkt vom Set eines Katastrophenfilms zu kommen.
»Die französische Regierung hat angekündigt, die Bevölkerung im Umkreis von zwanzig Kilometern vorläufig zu evakuieren.«
Die folgenden Bilder von Notquartieren gehörten mittlerweile zu den Standards der Berichterstattung in den vergangenen Tagen. Manzano beobachtete, wie Bollard auf einem der Telefone wählte.
Die Redaktion spielte Bilder eines Flughafens ein. In den Bauch plumper Riesenflugzeuge schienen spielzeuggleiche Lastwagen gesaugt zu werden wie Plankton in das Maul eines Wals. Andere Aufnahmen zeigten Soldaten beim Verladen von Kisten und Einweisen von Fahrzeugen.
»Die USA, Russland, Türkei, China, Japan und Indien bereiten die Entsendung erster Hilfsmannschaften vor.«
Bollard legte den Hörer auf, ohne mit jemandem gesprochen zu haben, wie Manzano feststellte.
»Wir müssen diesen Wahnsinn stoppen«, sagte einer.
Die anderen blieben stumm.
Ratingen
Hartlandt hatte ihre Einsatzzentrale in einem der Konferenzräume hinter der Empfangshalle von der Talaefer AG eingerichtet. Die Tische waren zu einem länglichen Rechteck zusammengestellt. An einem Ende standen die Laptops von Hartlands Leuten. Die andere Hälfte diente für Besprechungen. Die Notstromgeneratoren hinter dem Gebäude lieferten ausreichend Energie für ihre Computer und einige sanitäre Anlagen im Erdgeschoss sowie für die Server. Fahrstühle und obere Etagen hatten die Haustechniker abgekoppelt. Selbst Wickley hatte sich von seinem Chefbüro im obersten Stock zu ihnen herabbegeben müssen. Er hatte sich ein provisorisches Büro auf demselben Flur eingerichtet, wenn auch mit ein paar Zimmern Abstand. Jetzt allerdings saß er mit ihnen und einigen seiner Mitarbeiter am Tisch und fasste die Lage im Unternehmen zusammen.
»Unser SCADA-Führungsteam umfasst sieben Leute, von denen heute zwei da sind, die gesamte Belegschaft beträgt rund hundertzwanzig Leute. Details dazu erklärt Ihnen Herr Dienhof.«
Der Angesprochene, ein großer, hagerer Mann mit einem grauen Haarkranz und Vollbart, nahm ein Blatt Papier zur Hand, las es kurz und sagte: »Drei unserer Manager sind im Urlaub, wir konnten sie noch nicht erreichen. Zwei weitere wohnen in Düsseldorf, allerdings mussten sie offensichtlich in ein Notquartier umziehen. Und wir wissen noch nicht, in welches. Vielleicht können Sie uns bei dieser Suche unterstützen, Sie haben sicher besseren Zugang zu den Behörden«, wandte er sich an Hartlandt.
»Ich kümmere mich darum«, bestätigte dieser.
»Vom Rest der Mannschaft konnten wir bislang nur zehn kontaktieren. Bei den anderen waren wir noch nicht, weil wir nicht genug Leute und Fahrzeuge mit Treibstoff dafür haben, oder wir haben sie ebenfalls nicht zu Hause angetroffen.«
Er legte das Blatt zur Seite.
»Geben Sie uns eine Liste mit Namen und Adressen«, bat Hartlandt. »Wir werden versuchen, sie zu finden.«
Dienhof nickte. »Was die SCADA-Systeme betrifft, so konnten wir erst heute Morgen mit Analysen beginnen. Im Moment können wir noch nicht abschätzen, wie lange es dauern wird. Je mehr Leute wir hier hätten, desto besser. Die Systeme basieren zwar auf einigen gemeinsamen Grundmodulen, werden aber für jeden Kunden individuell zugeschnitten. Natürlich schauen wir uns zuerst einmal diese gemeinsamen Faktoren an. Falls unsere Systeme für die Probleme tatsächlich mitverantwortlich sind, müsste die Ursache am ehesten dort zu finden sein, weil ja viele Kraftwerke davon betroffen sein sollen.«
»In Ordnung«, sagte Hartlandt. »Arbeiten Sie weiter. Wir sehen zu, dass wir möglichst viele Ihrer Leute finden und herbringen.«
Mit einem schnellen Blick verglich Hartlandt Name und Adresse auf seiner Liste mit jenen auf dem Türschild des Einfamilienhauses. Dimitri Polejev. Klingeln war sinnlos. Er rief laut den Namen, mehrmals. Als niemand antwortete, öffnete er mit einem Dietrich routiniert die Gartentür.
So wie er waren gerade vier seiner sechs Leute und fünf regionale Polizeibeamte unterwegs und klapperten die Adressen der Talaefer-Mitarbeiter ab. Nach der Lagebesprechung bei dem Unternehmen hatten sie die Beamten informiert und für die Aufgabe freistellen lassen. Autos hatten sie von einem lokalen Mietwagenverleih. Für jeden hatten sie eine Route zusammengestellt. Die rund hundertzwanzig Mitarbeiter, die sie finden mussten, wohnten in einem Umkreis von siebzig Kilometern. Jeder Uniformierte und Hartlandts Leute hatten an der behördlichen Versorgungsstelle ihre Wagen vollgetankt. Dann hatten sie sich auf den Weg gemacht. Hartlandt war seit fast drei Stunden unterwegs. Polejev war Nummer elf auf seiner Liste.
An der Haustür klopfte Hartlandt laut und rief noch einmal den Namen. Endlich wurde die Tür einen Spaltbreit geöffnet. Hartlandt sah die dünne Sicherungskette, die sofort reißen würde, träte er mit Wucht gegen die Tür. Er stellte sich vor und fragte, ob Herr Polejev da sei.
»Bin ich«, antwortete der Mann hinter der Tür.
»Wir brauchen Sie und Ihre Kollegen aus der IT bei Talaefer«, erklärte ihm Hartlandt.
Polejev schloss die Tür, zog die Sicherungskette zurück und bat Hartlandt in einen finsteren Flur. Irgendwo hörte er ein Kind weinen.
»Mein Auto hat keinen Sprit mehr«, entgegnete Polejev. »Und fünfundzwanzig Kilometer zu Fuß zu gehen hat wenig Sinn.«
»Deshalb werden wir einen Abholdienst organisieren«, sagte Hartlandt. »Er wird Sie und einige Ihrer Kollegen am Morgen mitnehmen und abends wieder nach Hause bringen.«
»Wie stellen Sie sich das vor?« Er zog Hartlandt am Arm in ein düsteres Wohnzimmer. Eine Frau in Anorak und wattierter Skihose ging durch den Raum, ein Bündel auf dem Arm. Hartlandt erkannte ein Baby. Auf dem Sofa saßen zwei kleine Kinder, in dicke Jacken gepackt, Wollmützen auf den Köpfen, Decken um die Schultern, und spielten, soweit es die unförmigen Finger ihrer Handschuhe zuließen, mit Puppen.
»Soll meine Frau hier ganz allein bleiben?«
»Wir brauchen Sie unbedingt. Vielleicht können Sie mithelfen, diese Misere zu beenden.«
Er erzählte von der notwendigen Überprüfung der SCADA-Systeme und fragte dann: »Was hat denn das Kleine?«
»Kalt, Hunger, dasselbe wie wir alle.«
»Warum gehen Sie und Ihre Familie nicht in ein Notlager? Dort ist es warm, Sie bekommen Lebensmittel, es gibt Toiletten und sogar Duschen.«
»Toiletten«, seufzte Polejevs Frau. »Und Duschen!«
»Wie machen Sie das denn jetzt?«, wollte Hartlandt wissen.
Polejev deutete in den Garten. »Da draußen. Ich habe eine Grube gegraben.«
Hartlandt sah das Loch neben einer Hecke.
Polejev zeigte auf das mager bestückte Bücherregal. »Und das ist unser Klopapier, seit das richtige ausgegangen ist.«
»Sehr erfinderisch«, lobte Hartlandt. »Frau Polejev, wir brauchen Ihren Mann.« Er nannte auch ihr noch einmal den Grund.
»Dann gehe ich eben mit den Kindern in so ein Notquartier«, seufzte sie.
»Und währenddessen räumt man uns hier das Haus aus«, beklagte sich Polejev.
»Du kannst ja weiter hierbleiben«, sagte sie.
»Wer soll so etwas denn tun?«, argumentierte Hartlandt. »Außer den Behörden hat praktisch niemand mehr Treibstoff. Diebe kommen also gar nicht hierher. Und Ihren Nachbarn werden Sie so etwas wohl nicht zutrauen.«
»Sie kennen unsere Nachbarn nicht«, meinte Polejev und wackelte mit dem Kopf. »Zugegeben, die meisten sind anständige Menschen. Aber in so einem Lager hat man keine Privatsphäre.«
»Besser das als Kinder, die sich hier eine Lungenentzündung holen.«
»Er hat recht«, stimmte Frau Polejev ihm zu.
»Wo ist denn das nächste Quartier?«, fragte Polejev gereizt.
»In Ratingen gibt es drei. In der Schule, der Veranstaltungshalle und in der Sporthalle. In einem davon finden wir sicher noch Platz. Wir sorgen dafür, dass Ihre Familie hingebracht wird. Packen Sie die wichtigsten Sachen zusammen.«
Das Baby zeigte sich unbeeindruckt und plärrte weiter. Polejevs Frau sagte nur: »In Ordnung.«
Polejev zuckte mit den Schultern und sah Hartlandt hilflos an.
»Sie tun das Richtige«, versicherte ihm Hartlandt. »Ihre Familie ist gut aufgehoben, und Sie können wieder an Ihren Arbeitsplatz.«
Hartlandt kündigte ihm die erste Tour noch für den Nachmittag an. Dann nannte er ihm ein paar Namen von Kollegen: »Die sind zurzeit in Ferien«, fügte er hinzu. »Haben Sie sich zufällig mit einem darüber unterhalten, wohin er fährt?«
Polejev dachte kurz nach. »Müller wollte in die Schweiz zum Skifahren, wohin genau, weiß ich nicht. Dragenau hat was von Bali erzählt. Und Fazeri wollte zu Hause bleiben. Musste wohl im Haus einiges reparieren.«
Hartlandt bedankte sich. Vor allem Dragenau war wichtig, er war einer der fehlenden Chefentwickler. Den Bali-Urlaub hatte schon die Personalfrau bei Talaefer erwähnt. Ihn hätten sie besonders gern dabeigehabt. Aber wenn er tatsächlich auf Bali war, hatten sie da wohl wenig Chancen.
Als er wieder im Auto saß, machte er hinter die Zeile mit Polejevs Namen und Adresse einen Haken. Er gab die nächste Adresse in sein Navigationssystem ein und fuhr los.
Die Veranstaltungshalle war ein modernes, funktionales Gebäude, das große, weiße Buchstaben über dem Eingang als »Dumeklemmerhalle« vorstellten.
Davor standen Menschen in Gruppen beisammen und unterhielten sich oder rauchten. Hartlandt betrat die große Vorhalle. Wo sonst Tickets verkauft wurden, Menschen sich vor den Veranstaltungen verabredeten und mit Popcorn und Softdrinks eindeckten, befanden sich jetzt Leute in Winterkleidung, obwohl es wärmer war als draußen. Durch große, offene Tore gewann Hartlandt kurze Einblicke in die große Halle. Für einen Moment fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, 1997, da hatte er im Grundwehrdienst wochenlang bei der großen Oderflut geholfen.
Über die Anzeigetafeln für Ticket-, Snack- und Getränkepreise waren Schilder gehängt worden. In einfachen schwarzen Buchstaben auf weißem Grund erklärten sie: Aufnahme. Rotes Kreuz. Freiwillige Helfer. Materialausgabe. Wegweiser zu Toiletten, Duschräumen und Lebensmittelausgabe, die sich in anderen Räumen befinden mussten. An einer langen Wand hingen unzählige Zettel und Bilder, eine Art Schwarzes Brett, vermutete Hartlandt. Nur wenige der Deckenspots gaben Licht. Die restlichen waren vermutlich deaktiviert worden, um Strom zu sparen.
Er ging zur Aufnahme. Eine korpulente, ältere Frau begrüßte ihn mürrisch. Er wies sich aus und legte ihr eine Liste mit siebenunddreißig Namen vor.
»Ist jemand von diesen Personen bei Ihnen einquartiert?«
Die Frau drehte sich wortlos zu einem mannshohen Schrank mit Schubladen um, von denen sie eine herauszog. Sie begann, Hängeregister zu durchsuchen. Dazwischen sah sie öfters auf Hartlandts Liste und machte sich Notizen auf einen Zettel.
Er beobachtete die Menschen in der Halle. Sie wirkten weder aufgeregt noch besorgt. Fast schien es, als warteten sie auf den Beginn einer Veranstaltung. Ihre Gespräche vermischten sich zu einem konturlosen Schnattern, das den Raum erfüllte. Dazwischen kehrte eine Frau mit einem breiten Besen Schmutz zusammen. Eine Horde Kinder tollte über den Steinboden und verschwand so schnell und laut, wie sie aufgetaucht war, nur ihre Stimmen hallten noch eine Weile nach.
Bei der Materialausgabe stand etwa ein Dutzend Personen, ein Mann mit zwei Kindern bekam Decken ausgehändigt, wie Hartlandt sie aus seiner Militärzeit kannte. Eine Frau vom Roten Kreuz erklärte einer Mutter mit einem Kind an der Hand etwas zu einer Medikamentenschachtel, die sie ihr schließlich übergab.
»Elf davon sind hier«, bestätigte die Aufnahmedame in Hartlandts Rücken. Er wandte sich um. Vor ihm lag seine Liste, ein Blatt Papier mit elf Namen, daneben jeweils eine Buchstaben-Zahlen-Kombination.
Die Frau legte einen dicken Finger darauf.
»Das ist sozusagen die Adresse der Leute hier«, erklärte sie. »An den Eingängen zur großen Halle finden Sie Pläne mit einem Raster darauf. Die Buchstaben und Zahlen geben den Quadranten im Raster an, wo die Menschen ihre Schlafstelle haben. Es gibt bei uns aber weder eine Aufenthalts- noch Meldepflicht. Ich kann Ihnen daher nicht sagen, ob Sie die Damen und Herren auch antreffen werden.«
Hartlandt bedankte sich und marschierte los. Unterwegs studierte er die Liste. Zu seiner Freude fand sich auch eine der bislang vermissten Führungskräfte darauf, von denen Dienhof gemeint hatte, dass sie besonders wichtig seien.
Die Einlässe zur zentralen Halle waren Schiebetüren aus hellem Holz, die weit offen standen. An einem davon klebte ein gerasterter Plan, wie es die Frau an der Aufnahme erklärt hatte.
Die Halle selbst hatte einen trapezartigen Grundriss und bildete ein riesiges Feld voll einfacher Betten, die in Reih und Glied standen und zwischen denen teilweise aufgehängte Tücher notdürftig einzelne Bereiche voneinander abschirmten. Boden und Decken waren aus Holz. Das Material verlieh dem Raum eine freundliche, warme Atmosphäre. Die Luft war abgestanden, es roch muffig, nach feuchter Kleidung, Schweiß und einem Hauch von Urin. Menschen saßen oder lagen auf Betten. Andere plauderten, lasen, starrten in die Luft, schliefen.
Hartlandt warf noch einmal einen Blick auf seinen Plan, auf seine Liste und steuerte seine erste Station an.
Brüssel
»Die haben was getan?«, brüllte Nagy in das Telefon. Das Gespräch war auf laut geschaltet, sodass alle im Kontrollraum des Monitoring and Information Centre mithören konnten.
»Das Lager ist vollständig leer geräumt«, erklärte die Stimme auf Englisch aus dem Lautsprecher der Anlage. Sie gehörte dem Verbindungsmann im slowakischen Innenministerium.
Alle Staaten unterhielten mehr oder minder umfangreiche Lager mit Ausrüstung für Notfälle, von Feldtoiletten über Zelte und Generatoren bis zu Satellitentelefonen. Einige der Bestände waren für die internationale Zusammenarbeit vorgesehen. In einem Lagerhaus nahe Zvolen hatten die Verantwortlichen nur noch leere Regale vorgefunden.
»Über Nacht«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Sie wissen auch nicht, wie das passieren konnte. Es war das slowakische Hauptlager, jetzt fehlt uns natürlich all das Material, mit dem unser Zivilschutz gerechnet hatte.«
Neben Angström flüsterte ein dänischer Kollege: »An die Diebstahlgeschichte glaube ich nicht. Das waren sicher die Slowaken selbst.«
Nagy warf ihm einen strengen Blick zu.
»Mit Teilen davon haben auch wir kalkuliert«, erinnerte er. »Wir haben zurzeit keinerlei Ressourcen. Wir können nur versuchen, von der außereuropäischen Hilfe ein wenig mehr zu ihnen umzuleiten. Aber auch das wird von den Entwicklungen der nächsten Tage abhängen.«
Aus seiner Stimme hörte Angström Ärger und Zweifel. Nur fünf Tage und die europäische Solidarität beginnt zu bröckeln, dachte sie. Wie im Alltag zwischen den Menschen. Nachdenklich kehrte sie zurück in ihr Büro.
Ratingen
Bei Talaefer hatten sie die mobilen Trennwände zwischen den Besprechungszimmern im Erdgeschoss entfernt und so einen einzigen, großen Saal geschaffen. Auf zwei langen Tischreihen standen sich hundertzwanzig Laptops gegenüber. Gut zwei Drittel der Arbeitsplätze waren besetzt, die meisten von Männern. Viele von ihnen hatten sich seit ein paar Tagen nicht rasiert. Und nicht geduscht. Dagegen würden sie mit der Zeit etwas tun. Hartlandts Team hatte vom Technischen Hilfswerk zwei provisorische Duschen mit Wassertanks angefordert, die jeder benutzen durfte.
Hartlandt stand am Ende der Tische mit Dienhof, Wickley und seinen eigenen Leuten zusammen.
»Wir haben dreiundachtzig von hundertneunzehn«, erklärte er. »Dreißig sind im Urlaub. Zehn konnten wir noch nicht finden. Von den Führungskräften sind alle da außer Dragenau, Kowalski und Wallis. Laut unserer Aufzeichnungen macht Dragenau Urlaub auf Bali, Kowalski in Kenia, und Wallis ist zum Skifahren in der Schweiz. Kontakt konnten wir noch zu keinem aufnehmen.«
»Wir sind jetzt schon ganz gut aufgestellt«, meinte Dienhof. »Trotzdem wird es eine Weile dauern. Zunächst untersuchen wir die Standardbibliotheken. Das sind jene Bestandteile der verschiedenen Softwarelösungen für unterschiedliche Kraftwerke, die bei allen Systemen gleich sind. Wir müssen den Quellcode jedes einzelnen Elements überprüfen. Das sind teilweise Millionen von Programmzeilen. Viele davon werden immer wieder aktualisiert. Das heißt, wir müssen auch die Änderungen der vergangenen Jahre durchforsten. Denn wenn wir hier wirklich einen Saboteur haben, kann er das nicht über Nacht eingebaut haben. Außerdem müssen wir alles von mindestens zwei Personen untersuchen lassen.«
»Wieso denn das?«, fragte Wickley.
»Falls der Saboteur zufällig selbst seine Manipulation prüft, wird er uns das kaum sagen«, antwortete Hartlandt. »Deshalb setzen wir das Vieraugenprinzip ein.«
»Die größte Herausforderung«, fuhr Dienhof fort, »ist jedoch, dass wir nicht wissen, was wir suchen. Wir durchwühlen den sprichwörtlichen gigantischen Heuhaufen, haben aber keine Ahnung, ob nach einer Stecknadel, einer Zecke oder einem Schimmelpilz.«
»Oder nach gar nichts«, ergänzte Wickley.
»Oder nach gar nichts«, bestätigte Hartlandt.
»Frühestens wissen wir das in zwei, drei Tagen, schätze ich«, sagte Dienhof.