Den Haag
Schweißgebadet erwachte Shannon aus einem Albtraum. Schwer atmend orientierte sie sich. Sie war in diesem Hotelzimmer. Die Wände flackerten blau und orangefarben, wie in einer Diskothek. Neben ihr wälzte sich jemand unruhig im Bett. Natürlich, der Italiener. Shannon fragte sich, wie sie so bedenkenlos ins Bett eines Fremden steigen konnte. Ohne dass etwas zwischen ihnen war. Sie betrachtete seinen Hinterkopf, die Schultern im flackernden Dunkel. Er hatte nicht einmal eine Annäherung versucht. Vielleicht interessierte er sich nicht für Frauen. Oder sie war nicht sein Typ. Sie wusste nicht einmal, ob er ihr gefiel. Er war viel älter als sie. Sie stützte sich auf die Ellenbogen, verscheuchte die letzten Fetzen des Albtraums und fragte sich, woher das Leuchten kam. Sie stand auf, ging zum Fenster, schob die Vorhänge beiseite.
Ein Stück die Straße hinunter brannte ein Haus. Flammen schlugen aus den Fenstern und dem Dach. Dichter Qualm stieg in den Nachthimmel. Mehrere Löschzüge der Feuerwehr standen kreuz und quer auf der Straße, zwei Leitern waren ausgefahren, von denen Wasserstrahlen in das Inferno spritzten. Feuerwehrmänner liefen hektisch durcheinander, evakuierten die Bewohner der benachbarten Gebäude. Menschen in Pyjamas, mit Decken um die Schultern. Shannon tastete nach ihrer Kamera auf dem Schreibtisch und begann zu filmen.
»Wollte wohl wieder einmal jemand mit einem Lagerfeuer im Wohnzimmer heizen«, hörte sie hinter sich und zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass Manzano aufgestanden war.
»Wir haben leicht reden in unserem warmen Hotelzimmer«, erwiderte sie. »Der vierte Tag ohne Strom und Heizung beginnt. Die Leute sind verzweifelt.«
Sie zoomte näher. In einem Fenster des obersten Stocks, aus dem dichter Rauch qualmte, entdeckte sie eine Bewegung.
»Mein Gott …«
Ein Schatten winkte, klammerte sich an den Fensterrahmen, kletterte hinaus. Eine Frau in einem verrußten Pyjama, die Haare wirr im Gesicht. In der dunklen Öffnung erschien noch einer, kleiner.
»Da ist noch jemand im Haus«, stammelte sie, ohne die Kamera abzuwenden. »Ein Kind …«
»Sch …«, flüsterte Manzano.
Shannon hielt mit der Kamera darauf, verfolgte mit ihrem Blick die Lage auf der Straße. Dort brach noch mehr Hektik aus. Eine der Leitern wurde länger und drehte sich. Auch aus dem Dach des Nebenhauses drang nun Rauch. Gleichzeitig breiteten Feuerwehrleute unter dem Fenster ein Sprungtuch aus.
Oben hatte die Frau das Kind auf den Arm genommen, stand auf dem Fensterbrett, die freie Hand am Rahmen, beugte sich mit dem Kleinen so weit wie möglich aus dem Rauch.
»Sie kommen mit der Leiter nicht hin«, wisperte Manzano.
Flammen fuhren aus dem Fenster. Die Frau ließ los, schwankte, verlor das Gleichgewicht.
Nanteuil
Annette Doreuil öffnete ihre Lider und starrte ins Dunkel. Es roch anders im Schlafzimmer. Dann wurde ihr bewusst, dass sie in einem der Bed-and-Breakfast-Zimmer bei Bollards aufgewacht war. Jetzt im Winter hatten sie keine Gäste. Außer ihnen, den Doreuils, den Eltern ihrer Schwiegertochter.
Zuerst dachte Annette Doreuil, die ungewohnte Umgebung ließ sie nicht schlafen. In Paris litt sie selten unter einer gestörten Nachtruhe. Aber sie war auch nicht zum ersten Mal in Nanteuil. Es hatte zwar ein paar Jahre gedauert, bis sie François’ Eltern besucht hatten, nachdem ihre Tochter den Jurastudenten vor bald zwanzig Jahren kennengelernt hatte. Anfangs gestand sich Annette Doreuil ihre Vorurteile gegenüber dem Freund ihrer Tochter nicht einmal ein. Als Sohn eines Bauern kam er für sie eigentlich nicht infrage, obwohl seine Manieren eine gute Erziehung nahelegten. Der Junge hatte sich ausgezeichnet entwickelt. Erst nach fünf Jahren der Beziehung hatten sie François’ Eltern zum ersten Mal getroffen, als diese ihren Sohn in Paris besuchten. Zwei Jahre später, anlässlich der Hochzeit, waren die Doreuils erstmals nach Nanteuil gereist.
Das Anwesen der Bollards entpuppte sich als ein jahrhundertealter Gutshof, seine Eigentümer als gebildete und interessierte Leute. Annette Doreuil begrub ihre Vorurteile und hatte seither mit ihrem Mann bereits mehrmals eine Woche oder sogar zwei im herrlichen Loiregebiet verbracht. Trotzdem war es natürlich nicht ihr Zuhause. Die untragbaren Zustände durch den Stromausfall, die rätselhaften Andeutungen ihres Schwiegersohnes, der überhastete Aufbruch aus Paris hatten sie schon in der ersten Nacht bei Bollards unruhig schlafen lassen. Und dann gestern Abend die Nachrichten. Bollard hatte sie im Autoradio gehört, dem einzigen elektronischen Gerät im Haus – beziehungsweise in der Garage –, das noch funktionierte. Regelmäßig alle paar Stunden war er hinausgegangen, ob es etwas Neues gab. Kurz vor dem Schlafengehen war er zu ihnen in die Stube gestürzt und hatte berichtet.
An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken gewesen. Über sein altmodisches Festnetztelefon hatte Bollard versucht, seinen Sohn zu erreichen, vergeblich. Aufgeregt hatten sie stundenlang die Bedeutung der Neuigkeiten diskutiert, bis die Müdigkeit doch die Oberhand gewonnen hatte. Annette Doreuil hatte sich in den Schlaf gewälzt, während sie von ihrem Mann bald nur noch lange, ruhige Atemzüge gehört hatte. So wie jetzt, als sie gelegentlich von kurzen, kleinen Schnarchern unterbrochen wurden, an die Annette Doreuil sich gewöhnt hatte und die sie schon lange nicht mehr störten.
Doch da drang noch ein anderer Laut an ihre Ohren. Es klang wie eine scheppernde Stimme. Von weit weg. Doreuil lauschte. Der monotone Singsang, von dem sie kein Wort verstand, wurde lauter, schien sich zu nähern. Dann Stille.
Wenige Sekunden darauf setzte die Ansprache erneut ein. Wieder lauter, aber noch immer genauso unverständlich. Doreuil versuchte, sich auf einzelne Worte zu konzentrieren. Wie spät mochte es sein? Sie tastete nach ihrer Armbanduhr auf dem Nachtisch. Hielt sie direkt vor ihre Augen. Wenn sie die Zeichen der Leuchtfarbe auf den Zeigern richtig deutete, musste es kurz nach vier Uhr morgens sein.
Jetzt hatte sie etwas verstanden.
»Häuser.«
Gebrabbel. Was sollte das bedeuten? Warum fuhr um vier Uhr morgens ein Wagen mit Lautsprecher – denn um einen solchen handelte es sich offenbar – durch den Ort und verkündete Nachrichten, wie man es sonst nur von Zirkussen oder Werbetreibenden kannte?
Wieder vernahm sie ein paar Wortfetzen, doch sie ergaben keinen Sinn. Sie richtete sich auf und schüttelte ihren Mann an der Schulter.
»Bertrand, wach auf! Hörst du das?«
Der so unsanft aus dem Schlaf Geholte brummte: »Was ist denn?«
»Jetzt hör doch! Da draußen wird etwas durchgesagt, mitten in der Nacht!«
Das Bettzeug raschelte, sie hörte, wie auch ihr Mann sich erhob.
»Was ist denn los? Wie spät ist es?«
»Pst! Kurz nach vier. Was sagen die?«
Wieder brummte ihr Mann, rieb sich über das Gesicht.
Eine Weile hörten sie zu.
»Ich verstehe kein Wort«, grummelte Bertrand Doreuil schließlich, seine Frau hörte das Tappen seiner Füße auf dem Boden, dann knarrten die Fenster und die Läden.
»… und warten Sie auf weitere Meldungen«, verkündete die scheppernde Stimme nun laut. Nach einer kurzen Pause setzte sie wieder ein. Dabei schien sie sich zu entfernen.
»Bitte bleiben Sie in Ihren Häusern und halten Sie die Fenster geschlossen.« Die verzerrte Stimme war immer noch schwer zu verstehen, aber Annette Doreuil konnte sich den Inhalt zusammenreimen. »Es besteht keine Gefahr und kein Grund zur Beunruhigung. Schalten Sie ein Radio an und warten Sie auf weitere Meldungen.«
Ihr Mann wandte sich um.
»Hat der jetzt gesagt …?«
»Wir sollen die Fenster geschlossen halten.«
»Warum denn?«
»Mach schon!«
Ihr Mann schloss die beiden Flügel.
»Jetzt habe ich die Läden vergessen.«
»Ist doch egal.«
Die Stimme von draußen war kaum mehr zu verstehen. Doch nun, nachdem Annette Doreuil den Inhalt der Durchsage kannte, verstand sie die Botschaft auch in dem Kauderwelsch.
Ihr Mann trat zurück ans Bett.
»Was bedeutet das?«
Annette Doreuil hatte sich erhoben und zog ihren Morgenmantel über.
»Ich werde die Bollards fragen.«
Mit der Taschenlampe, die sie für alle Fälle auf dem Nachttisch liegen hatte, leuchtete sie sich den Weg hinaus. Ihr Mann folgte ihr. Im Flur trafen sie auf den Hausherrn.
»Hast du das auch gehört?«, fragte Annette Doreuil.
»Im Haus bleiben und die Fenster geschlossen halten.«
»Aber weshalb?«
»Keine Ahnung«, antwortete Bollard.
Den Haag
Shannon erwachte mit dicken Lidern. Die Betthälfte neben ihr war leer. Aus dem Bad hörte sie nichts. Sie rieb sich die Müdigkeit aus dem Gesicht, stand auf und tappte zum Fenster. Kein Traum. Das Haus in der Nachbarschaft war eine schwarze Ruine. Auf der Kamera ließ sie die Bilder der Nacht noch einmal laufen. Ein Albtraum. Die Frau mit dem Kind auf dem Sprungtuch, das die Feuerwehrleute nicht rechtzeitig hatten ausbreiten können. Die Uniformierten, wie sie neben den leblosen Körpern knieten. Shannon schaltete ab. Überlegte, ob sie die Aufnahme löschen sollte.
Mit der Morgentoilette ließ sie sich Zeit. Dann schnappte sie ihre Kamera und ging hinunter zum Frühstück. Viele Leute saßen nicht an den Tischen. Sie hatte keinen Appetit, zwang sich zu einem Honigbrot und einem Kaffee.
In der Hotelgarage wartete der Porsche. Vorsichtig lenkte sie den Boliden auf die Straße. Dekadent, dachte sie. Ein kleineres, unauffälligeres Gefährt wäre ihr lieber gewesen. Shannon kannte den üblichen Morgenverkehr in Den Haag nicht. Jetzt war er nicht besonders dicht. Das Bild der beiden Schwerverletzten oder Toten hatte sie nicht mehr richtig schlafen lassen. Verließ sie auch jetzt nicht. Ohne bedrängt zu werden, konnte sie langsam fahren und beobachten. Viele Fußgänger und Radfahrer waren unterwegs. Die Kamera lag auf dem Beifahrersitz, eine zweite sowie Ersatzakkus davor im Fußraum.
Viele der Menschen schienen es eilig zu haben. An der nächsten Kreuzung entdeckte sie den Grund. In der Straße rechts drängte ein Schwarm um ein Gebäude, das Shannon beim Näherkommen als Supermarkt identifizierte. Einzelne Erfolgreiche hasteten bereits mit überfüllten Einkaufswagen davon, eifrig darauf bedacht, dass ihnen niemand etwas daraus stibitzte.
Shannon hielt an, stieg aus, filmte. Um ein Interview brauchte sie keinen der Menschen fragen. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, in den Supermarkt zu gelangen oder ihre Einkäufe in Sicherheit zu bringen. Shannon zielte mit dem Objektiv auf die hektischen Gesichter, aufgerissenen Münder, die Hände, die gegen ihre Vorderfrauen drückten oder am Vordermann zerrten. Sie filmte Strauchelnde, Alte oder Schwache, die zur Seite gedrängt wurden. Sie hielt auf die Einkaufswagen, die aus dem Getümmel auftauchten, über die die Schiebenden beschützend Oberkörper und Arme geworfen hatte, die gleichzeitig verzweifelt versuchten, lästige Diebe zu verscheuchen.
Ketchup, Senf – warum nahmen die Leute das mit?, fragte sich Shannon, den Blick unverwandt auf den kleinen Monitor gerichtet, der die Welt abbildete. Die Menschen schienen alles in die Körbe zu werfen, dessen sie habhaft wurden, schien Shannon.
War es die Gier, die Angst, Gedankenlosigkeit?
Wäre es ohne meinen Bericht gestern Abend hier heute anders zugegangen?
Sie stieg in den Porsche. Mit röhrendem Motor ließ sie den Aufruhr im Rückspiegel zurück.
»Gehen wir alles durch«, sagte Bollard. Er stand vor der großen Übersichtswand in ihrem improvisierten Lagezentrum.
»Beginnen wir mit Italien. Dort haben sie inzwischen die Bewohner der letzten Jahre jener Appartements überprüft, über deren Zähler der falsche Code eingeschleust und verbreitet wurde.«
Er zeigte auf eine ganze Reihe von Bildern der Wohnungen und von Personen.
»Besonders intensiv widmeten sie sich natürlich jenen der letzten Monate und Jahre. Die Leute waren durchwegs unauffällig und unbescholten, wenn man von Steuervergehen absieht, was in Italien nicht als echtes Verbrechen gilt. Von den angeblichen Mitarbeitern der Stromgesellschaft weiterhin keine Spur.«
Bollard deutete auf das Bild eines modernen italienischen Stromzählers.
»Inzwischen wissen wir auch mehr darüber, was in Italien geschehen ist. Techniker des italienischen Elektrizitätsversorgers Enel haben die Zugriffsprotokolle der Firewalls zum Internet geprüft und herausgefunden, dass bereits seit fast achtzehn Monaten verdächtige Zugriffe auf interne Systeme und Datenbanken des Unternehmens stattfinden. Die IP-Adressen der Eindringlinge kommen aus der Ukraine, von Malta und aus Südafrika. Auf diese Weise gelangten sie vermutlich an die Zugangsdaten für die Zähler. Außerdem wurden die Router so umkonfiguriert, dass sich der Störcode über das ganze Netz verteilen konnte. Der Angriff selbst fand dann, wie schon bekannt, in mehreren Wellen statt.«
»Eines verstehe ich nicht ganz«, sagte eine Kollegin. »Wie kommen Angreifer überhaupt an die ganzen Informationen, um in die Enel-Netze einzudringen und die Zähler zu manipulieren?«
»Für Profis ist das möglich. Seit Jahren dringen Unbekannte in praktisch jedes Netz kritischer Infrastrukturen ein. Manche meinen, es seien Hacker, andere behaupten, Staaten steckten dahinter, von den Chinesen über die Russen bis zu den Iranern oder Nordkoreanern. Um in die internen IT-Netze der Stromgesellschaften zu kommen, gibt es verschiedenste Möglichkeiten. Von speziell entwickelten Webseiten, bei deren Besuch man sich einen Trojaner oder einen Wurm einfängt, über ›liegen gelassene‹ USB-Sticks, die ein Mitarbeiter findet, bis zu raffinierten E-Mails. Die Schwachstellen sind immer die Menschen. Nicht umsonst verbieten viele Behörden und Unternehmen schon länger die Verwendung derartiger Datenüberträger oder gestatten ihren Mitarbeitern nur die Benutzung einiger weniger Webseiten. Leider sind Menschen, wie sie sind, und halten sich nicht immer an das, was man ihnen vorgibt. Außerdem sollten natürlich so heikle technische Systeme auch hardwaremäßig voneinander getrennt sein. Sind sie aber in vielen Fällen nicht wirklich vollständig, weil es kaum machbar ist. So kommen sie also an die internen Daten. Und was die Stromzähler betrifft, das ist noch einfacher: Die Dinger hängen in jedem Haushalt, und man kann sie auf eBay gebraucht kaufen. Man muss sie nur auseinandernehmen, da erfährt man schon einiges.
Außerdem findet man im Internet tonnenweise Literatur und Referenzgeschichten zu den Geräten, unter anderem von den Herstellern selbst. Wenn man sich genauer damit beschäftigt, findet man schnell heraus, wie geeignet diese Kästchen für ein derartiges Vorhaben sind. Sie können nämlich Daten an die anderen funken.«
»Aber so ein Zähler wird doch nicht beliebige Daten von wildfremden Zählern annehmen. Die müssen sicher irgendeine Art der Authentisierung verlangen.«
»Tun sie, aber die haben die Angreifer vermutlich durch die Infiltrierung der internen IT-Netze und Datenbanken bei Enel abgegriffen. Mit etwas Glück haben sie die sogar im Internet gefunden. Man wundert sich immer wieder, was man da alles findet, wenn man nur weiß, wie und wo man suchen muss. Wenn sie die Authentisierung haben, ist der Rest ein Kinderspiel. Wobei wir Grund zur Annahme haben, dass die Authentisierung der italienischen Datenquellen schwach war. Die Angreifer müssen dann nur noch die verlangte Datenquelle imitieren und den jeweiligen Befehlscode einspielen.«
»Und mit solchen Systemen soll in den nächsten Jahren ganz Europa ausgerüstet werden?«
»Tja«, sagte Bollard dazu nur. Er wandte sich einer anderen Bilderreihe zu. »Damit wären wir bei den Schweden. Im Prinzip gingen die Angreifer dort nach derselben Methode vor. Auch dort wurden drei Haushalte als Infektionsherde ausgemacht. Und auch hier haben sich die Bewohner selbst bei den mittlerweile intensiven Nachforschungen als unbescholten und unverdächtig entpuppt. Die Codes wurden also wie in Italien mit hoher Wahrscheinlichkeit von jenen Männern in die Zähler gesetzt, die sich als Servicemitarbeiter der Elektrizitätsgesellschaften ausgaben und von denen wir nach wie vor nur ungefähre Personenbeschreibungen haben.«
Er stellte sich vor die Europakarte im Zentrum der Wand.
»Neben den Angriffen auf die IT-Systeme haben wir seit Neuestem noch die Nachrichten von Brandstiftung in Schaltanlagen und die Sprengung von Strommasten. Noch ist allerdings auch hinter dieser zweiten Art von Angriffen keine Systematik zu erkennen. Deshalb wird es schwierig, die Saboteure zu erwischen.«
Bollard beendete seinen Vortrag, bedankte sich und eilte in sein Büro zurück. Auf seinem Computer überprüfte er, ob es neue Meldungen aus Saint-Laurent gab. Seit dem Morgen war der Zwischenfall von der französischen Atomaufsichtsbehörde auf INES 3 hochgestuft worden. Die Bevölkerung im Umkreis von zwanzig Kilometern wurde dazu aufgefordert, in den Häusern zu bleiben. Zum wiederholten Mal wählte Bollard die Nummer seiner Eltern. Die Leitung blieb stumm.
Shannon musste auf die Gegenfahrbahn ausweichen, um die Menschentraube vor dem Gebäude zu umfahren. Erst jetzt erkannte sie, dass die Drängenden nicht in einen Supermarkt wollten, sondern eine Bankfiliale stürmten. Zwei Minuten später war sie mitten unter ihnen.
»Ich habe noch siebzig Euro in meiner Geldbörse«, erklärte ihr ein rundlicher Mann aufgebracht in die Kamera. »Alles, was man noch kaufen kann, muss man bar bezahlen. Und wer weiß, wie lange das noch so geht? Da wollte ich mir ausreichend Geld besorgen. Und dann das!« Empört wies er hinter sich. »Wenn die jetzt schon kein Geld mehr haben, wie sieht das dann erst in den nächsten Tagen aus? Morgen bin ich auf jeden Fall schon sehr früh da.«
»Was heißt das?«, fragte Shannon. »Die Bank hat kein Geld mehr?«
»Heute nicht mehr, behaupten sie, weil schon so viele abgehoben hätten. Bargeld wird erst morgen wieder geliefert. Wir haben hier alle umsonst gewartet.«
Shannon filmte einige der Frauen und Männer, die noch wütend gegen die Scheiben der Bank trommelten, bevor sie aufgaben und sich nach und nach verteilten. Sie schwenkte auf das handgeschriebene Schild hinter der Tür.
Gesloten vanwege een technische storing. Vanaf morgen kunt u weer geld opnemen. We vragen uw begrip voor het feit dat het maximale bedrag dat u per persoon kunt opnemen EUR 250 is.
Closed due to technical disruption. You can get money as of tomorrow. We ask you kindly for your understanding that the maximum amount for withdrawal will be 250 € per person.
Die Bank hatte also geschlossen. Geld gab es erst wieder morgen und auch dann nur zweihundertfünfzig Euro pro Person. Im Schalterraum entdeckte sie die Angestellten, die in Gruppen zusammenstanden und sich unterhielten. Sie klopfte, mehrmals, bis sich einer umdrehte. Er schüttelte den Kopf. Als Shannon ihm die Kamera zeigte, wandte er sich ab.
Paris
»Ich brauche Ergebnisse«, erklärte Blanchard müde. »Der Präsident, der Innenminister und alle anderen fordern unsere Köpfe. Zum Glück haben sie keine Alternativen.« Nur ungern dachte er daran, wie er noch vor wenigen Tagen den Anwesenden mit Köpferollen gedroht hatte. Inzwischen lag sein eigener auf dem Schafott. Seit zwei Tagen arbeiteten die gesamte IT-Abteilung und zwei Dutzend externe IT-Forensiker rund um die Uhr. Vor ein paar Minuten hatte Proctet ihn angerufen.
»Ergebnisse haben wir«, erklärte der junge Mann. »Aber keine erfreulichen.«
Blanchard schloss für einen Moment die Augen. Er sah das Beil auf seinen Hals fallen. War jetzt auch schon egal.
»Wir haben Teile der auslösenden Schadsoftware gefunden. Sie befindet sich seit mehr als achtzehn Monaten im System. Dieser Angriff ist von langer Hand geplant. Das heißt, unsere aktuellen Datensicherungen sind alle unbrauchbar, weil ebenfalls verseucht.«
»Dann greifen wir eben auf ältere zurück.«
Proctet schüttelte den Kopf. »Können wir vergessen. Eineinhalb Jahre im digitalen Zeitalter sind wie ein Jahrhundert in der realen Welt. Achtzehn Monate alte Datensicherungen sind hoffnungslos veraltet. »
»Das heißt?«
»Wir müssen alle Rechner säubern.«
»Das sind Hunderte!«
»Ein paar Dutzend würden für den Anfang genügen«, wandte Proctet ein. »Wäre da nicht noch etwas anderes.«
Blanchard bemühte sich, den jungen Mann nicht zu entgeistert anzustarren. »Was denn noch?«, fragte er atemlos.
»Die wenigen Server«, erläuterte Proctet, »die noch in Betrieb waren, versuchten, auf Rechner zuzugreifen, wo sie eigentlich nichts verloren hatten.«
»Sie wollen sagen …«
»… dass auch die Server infiziert sind. Genau.«
»Das ist ein Desaster«, murmelte Blanchard. »Wie lange schätzen Sie den Aufwand?«
»Eine Woche«, meinte Proctet leise. Trotzdem hörte ihn jeder im Raum. Blanchard hatte den Eindruck, dass der junge Mann noch bleicher wurde, als er das sagte. Und hinzufügte: »Mindestens.«
»Vergessen Sie es!«, rief Blanchard. »Haben Sie heute Morgen schon die Nachrichten gesehen? Mitten in Frankreich droht eine Reaktorkatastrophe, wenn die in Saint-Laurent nicht bald Strom für ihre Kühlsysteme bekommen! Wer weiß, wo so ein Szenario noch überall lauert!«
Den Haag
Fassungslos scrollte Bollard über die Seite mit dem Newsticker:
+ Betreiber bestätigen kontrolliertes Ablassen von Radioaktivität +
(05:26 Uhr) Électricité de France, Betreibergesellschaft des havarierten Kraftwerks in Saint-Laurent, bestätigt die kontrollierte Abgabe geringer Mengen radioaktiven Dampfes in die Umgebungsluft zur Druckentlastung des Reaktorbehälters. In der näheren Umgebung des Kraftwerks wurden leicht erhöhte Radioaktivitätswerte gemessen. »Sie entsprechen der durchschnittlichen Belastung eines Flugbegleiters während eines Transatlantikfluges«, erklärte ein Sprecher der Gesellschaft.
+ Atomsicherheitsbehörde: »Keine Schäden an Reaktorhülle« +
(06:01 Uhr) Die französische Atomsicherheitsbehörde ASN erklärt, dass der Reaktorbehälter in Block 1 von Saint-Laurent unbeschädigt sei. Die Kühlsysteme von Block 2 arbeiteten fehlerfrei.
+ Block 2 soll Block 1 helfen +
(09:33 Uhr) Wie der Betreiber des Kraftwerks bekannt gibt, soll eines der drei redundanten Notkühlsysteme des intakten Reaktorblocks 2 so schnell wie möglich für Block 1 adaptiert werden. Experten halten so eine Lösung allerdings für ebenso unmöglich wie gefährlich.
+ Regierung: »Andere AKWs sicher« +
(10:47 Uhr) Die französische Regierung erklärt, dass es seit Beginn des Stromausfalls zu kleinen Zwischenfällen in drei weiteren Kraftwerken gekommen sei. Die betroffenen Anlagen sind Tricastin im Süden des Landes, Le Blayais bei Bordeaux und Cattenom an der deutsch-französischen Grenze. Sie legt Wert auf die Feststellung, dass zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Bevölkerung bestand.
+ IAEO bestätigt europaweit Zwischenfälle, gibt gleichzeitig Entwarnung +
(11:12 Uhr) Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien bestätigte Zwischenfälle in insgesamt vierzehn Atomanlagen in zehn Ländern. Welche davon im Zusammenhang mit dem Stromausfall stehen, sei noch nicht geklärt. Alle seien auf INES-Stufe 1 bewertet und stellten keinerlei kurzfristige oder langfristige Bedrohung für die Bewohner der Umgebung oder die Umwelt dar.
+ EZB gibt Finanzspritze von 200 Milliarden +
(12:14 Uhr) Die Europäische Zentralbank wird die Märkte auch heute mit gigantischen Summen stützen. Nach den zweistelligen Kursverlusten am Montag und weiteren schweren Turbulenzen am Dienstag schießt die EZB noch einmal 200 Milliarden Euro nach. Nach der verkürzten Handelszeit gestern wurden die Aktien zahlreicher europäischer Unternehmen heute vom Handel ausgesetzt. Besonders betroffen waren Energieversorger, Chemiebetriebe und die Autobranche.
Ohne seinen Blick vom Bildschirm zu lösen, tippte Bollard die Telefonnummer seiner Eltern in den Apparat und legte den Hörer ans Ohr. In der Leitung hörte er nur dieses unheilvolle, leise Rauschen.
»Ach du liebe …«, rief Shannon, als Manzano das Zimmer betrat. Sie saß auf der Bettkante, zwei Kameras neben sich auf der Decke, eine davon per Kabel mit dem Laptop auf ihrem Schoß verbunden. Doch der Computer interessierte sie nicht, sie starrte in den Fernseher.
»Sieh dir das an!«, stieß sie hervor. »Auch das noch!«
Auf dem Bildschirm verkündete eine Sprecherin im CNN-Nachrichtenstudio: »… asiatischen Börsen schwer von den Neuigkeiten des gestrigen Abends getroffen. Der Nikkei-Index fiel erneut um elf Prozent, der breiter gestreute Topix sogar um dreizehn. Schanghai verlor zehn Prozent, und der Hang Seng gab sogar fünfzehn Prozent nach.«
»Was hast du erwartet?«, fragte Manzano. »Hoffentlich hast du auf fallende Kurse gesetzt, bevor du die Nachrichten gestern in die Welt posaunt hast.«
Manzano hatte nur wenig Ahnung von den Finanzmärkten, aber ihm war vollkommen klar gewesen, dass Shannons Nachrichten weitere Kursstürze auf der ganzen Welt auslösen würden. Wer rechtzeitig auf diese fallenden Kurse setzte, konnte viel Geld verdienen.
»Das meine ich doch nicht«, sagte sie. »Lies den Ticker.«
Im roten Band am unteren Bildschirmrand lief ein Text: »Störfall in französischem Kernkraftwerk. Kühlsystem versagt. Radioaktivität ausgetreten. Sondersendung in Kürze.«
Manzano beobachtete, wie Shannon an ihren Fingernägeln kaute.
»… schalten jetzt zu unserem Korrespondenten James Turner nach Frankreich. James?«
»Verdammt, verdammt, verdammt!«, zischte Shannon. »Und ich bin nicht dort!«
»Sei froh.«
Der Amerikaner stand auf einem Feld, weit im Hintergrund konnte Manzano die Kühltürme einer Atomanlage mehr ahnen als sehen.
»Ich befinde mich hier im Herzen Frankreichs, mitten zwischen den weltberühmten Loire-Schlössern. Doch seit heute ist es mit der Idylle vorbei. Im Morgengrauen fuhren Wagen mit Lautsprechern durch die Orte der Umgebung und forderten die Bevölkerung auf, in den Häusern zu bleiben und die Fenster geschlossen zu halten. In einer offiziellen Mitteilung heißt es, dass die Notkühlsysteme von Reaktorblock 1 im Atomkraftwerk Saint-Laurent ausgefallen sind. Noch weiß niemand, wie lange das schon der Fall ist. Wir befinden uns etwa fünf Kilometer entfernt, am anderen Loireufer. Zu Schäden am Reaktorkern gibt es noch keine genauen Angaben …«
»Dieser Mistkerl hat mich jahrelang geknechtet, und jetzt hat er wieder die Top-Story!«
»Die hast gestern doch du geliefert.«
»Nichts ist so alt wie die Nachrichten von gestern.«
»… ein Schaden könnte gravierende Auswirkungen auf die Umwelt haben.«
»Wie kommt der überhaupt auf Sendung?«, wollte Manzano wissen.
»Mit dem Satellitenwagen wahrscheinlich. Da kann er die Geräte über den Motor mit Strom versorgen und die Daten direkt an den Satelliten funken. Sündhaft teuer, noch dazu jetzt, da die Satellitenkapazitäten sicher ein Vielfaches kosten.«
»… nach Berichten von Reuters müssen die Probleme den Verantwortlichen schon länger bekannt sein. Umso unverständlicher ist es, dass die Bevölkerung erst jetzt informiert wurde.«
»Die hatte genug andere Probleme«, bemerkte Manzano. »Werden sie zumindest als Entschuldigung anführen.«
Statt der Kühltürme breitete sich hinter dem Reporter explosionsartig eine Wolke aus.
»Noch gibt es allerdings …«
Sogar im Fernsehen hörte Manzano den dumpfen Knall.
»Wow, was war das?« Turner wirbelte herum, den Blick auf die wachsende Wolke gerichtet. »Es hat eine Explosion gegeben!«, rief er in sein Mikrofon. »Im Kernkraftwerk hat es soeben eine Explosion gegeben!«
»An deiner Stelle würde ich die Beine in die Hand nehmen«, murmelte Manzano.
»Eine Explosion!«
»Fällt dem nichts anderes ein?«, maulte Shannon.
»Abhauen«, bemerkte Manzano.
Doch Turner wandte sich wieder an die Kamera. Hinter ihm stieg die Wolke langsam hoch, wurde transparenter.
»Hast du das gesehen? Hast du es drauf? Verdammt! Können wir das noch einmal sehen? Studio?«
Tatsächlich spielte die Redaktion bereits eine Zeitlupenwiederholung ein, in der das Kraftwerk herangezoomt war. Trotzdem war nicht mehr zu erkennen als beim ersten Mal. Anstelle der Kühltürme breitete sich ruckartig eine weiße Wolke aus.
»Scheiße«, flüsterte Shannon.
»Na, wärst du noch immer gern dort?«, fragte Manzano.
Hinter Turner lichtete sich die Wolke allmählich, die Konturen der Kühltürme traten wieder hervor.
»Was ist da explodiert?«, fragte der Journalist rhetorisch, denn eine Antwort würde ihm sein Kameramann nicht geben können. »Meine Damen und Herren, liebe Zuschauer …«
Manzano nervte das aufgeregte Geplapper des Mannes, auch wenn er dessen Gefühle gut verstehen konnte. Er spürte selbst, wie die Anspannung seine Glieder erfasst hatte. Er erinnerte sich an die Tage nach der Katastrophe von Fukushima 2011, als er wie ein Junkie vor den Livetickern im Internet gesessen hatte, ganz zu schweigen vom 11., 12. und 13. September 2001, die er ohne Unterbrechungen vor dem Fernseher und im Internet verbracht hatte, gebannt und fassungslos angesichts der immer wiederkehrenden Bilder.
»… versuchen, Verantwortliche zu erreichen, und melden uns dann wieder«, verkündete Turner. Die Regie wechselte ins Studio zu der Sprecherin, in deren Gesicht das Entsetzen deutlich abzulesen war.
»Well, good luck, James«, sagte sie und schob dabei nervös Papiere vor sich hin und her. »Sobald es Neuigkeiten aus Frankreich gibt, schalten wir wieder zu James Turner.«
»Scheiße …«, wiederholte Shannon leise.
»Allerdings«, ergänzte Manzano. »Ich hoffe, unser Freund Bollard hat in der Gegend keine Freunde.«
Zwischen den Besprechungen konsultierte Bollard immer wieder kurz den Newsticker. Die Nachrichten wurden nicht besser.
+ Explosion erschüttert AKW Saint-Laurent +
(13:09 Uhr) Im französischen Kernkraftwerk kam es heute Mittag zu einer Explosion. Zu den Ursachen gibt es noch keine Informationen. Fachleute vermuten eine Wasserstoffexplosion im Reaktorgebäude. Ob dabei Radioaktivität freigesetzt wurde, ist noch nicht bekannt.
+ Betreiber bestätigt Verletzte in AKW Saint-Laurent +
(13:35 Uhr) Électricité de France spricht von drei Arbeitern, die durch die Explosion verletzt wurden. Sie seien dabei jedoch keiner gefährlichen Strahlung ausgesetzt worden, erklärt die Gesellschaft.
+ Reaktor nach Explosion unbeschädigt +
(14:10 Uhr) Nach der Explosion in der zentralfranzösischen Anlage Saint-Laurent seien Reaktorhülle und -kern weiterhin intakt, erklärte die Atomsicherheitsbehörde ASN. Radioaktivität sei mit hoher Wahrscheinlichkeit keine ausgetreten. Trotzdem ruft die Regierung die Bevölkerung im Umkreis von dreißig Kilometern dazu auf, in geschlossenen Räumen zu bleiben.
»Und warum, wenn angeblich keine Radioaktivität ausgetreten ist?«, brüllte Bollard den Bildschirm an. Wieder versuchte er die elterliche Nummer. Abermals vergeblich. Er probierte verschiedene Nummern im Innenministerium, bei der Atomsicherheitsbehörde, bei der Polizei. Obwohl die meisten nicht offiziell waren, kam er bei keiner durch. Entweder die Leitungen waren pausenlos besetzt oder tot.
Kommandozentrale
+ Atomexperten unterwegs nach Saint-Laurent +
(14:18 Uhr) Französische Regierung und IAEO haben ein Expertenteam nach Saint-Laurent entsandt. Die Fachleute werden gegen Abend erwartet. Sie sollen die Mitarbeiter der Anlage dabei unterstützen, den Reaktor wieder in einen sicheren Betriebszustand zu bringen.
+ Betreiber: Kaum Risiko für weitere Zwischenfälle +
(14:55 Uhr) Ein Sprecher von EDF erwartet keine weiteren Zwischenfälle im beschädigten Kernkraftwerk Saint-Laurent. Experten gehen mittlerweile von einer Knallgasexplosion aus. Zu Schäden am Kraftwerk gab der Sprecher keine Auskünfte. Zwei Stunden nach der Explosion wurde in näherer Umgebung des Kraftwerks leicht erhöhte Radioaktivität gemessen. Für die Bevölkerung besteht keine Gefahr, versichert er, fordert die Bewohner im Umkreis von dreißig Kilometern jedoch auf, weiterhin in den Häusern zu bleiben.
Zugegeben. Damit hatten sie nicht gerechnet. Saint-Laurent verlieh dem Ganzen eine neue Dimension. Nicht unbedingt im Sinn der Sache. Europa sollte nicht unbewohnbar werden. Im Gegenteil. Wir müssen die Sache abbrechen, argumentierten einige. Bevor noch Schlimmeres geschieht. Er war nicht der Meinung. Selbst wenn Saint-Laurent kein Einzelfall bleiben sollte. Für einen Abbruch war es ohnehin zu spät. Auch wenn sie die Schadcodes preisgeben würden und die Systeme, in denen sie saßen, ein paar Tage würde es dauern, sie zu reparieren. Außerdem. Sie hatten gewusst, dass es Opfer geben würde. Viele Opfer. Sie waren bereit gewesen, sie in Kauf zu nehmen. Jede Veränderung verlangte Opfer. Wie stellt ihr euch das vor?, hatte er die Kritiker gefragt. Ihr könnt nicht einfach aufstehen und gehen. Das hieße, all unsere Ziele aufzugeben. Ziele, für die auch sie Opfer gebracht hatten. Große Opfer. Jetzt aufzugeben hieße, wieder klein beizugeben. Wieder den anderen die Räume des Handelns und der Interpretation zu überlassen. Dieser Gesellschaft, die vom Geld besessen war und von Macht, von der Ordnung und der Produktivität und der Effizienz, vom Konsum, von der Unterhaltung und vom Ego und davon, wie sie möglichst viel von allem an sich reißen konnte. Für die Menschen nicht zählten, nur Profitmaximierung. Für die Gemeinschaft nur ein Kostenfaktor war. Umwelt eine Ressource. Effizienz ein Gebet, Ordnung ihr Schrein und das Ego ihr Gott. Nein, sie konnten jetzt nicht aufhören.
Ratingen
»Das ist ein Desaster«, erklärte Wickley. »Für uns alle. Energiewende, moderne Energienetze, Smart Grid und Co. können wir für die nächsten Jahre vergessen.«
Der Besprechungsraum in der Vorstandsetage war schwächer besetzt als am Vortag. Wieder waren ein paar Leute weniger an ihrem Arbeitsplatz erschienen, auch von den Führungskräften. Die Kommunikationsagentur war gleichfalls nur mit zwei statt vier Personen vertreten, Hensbeck und seine Assistentin. Alle trugen ihre Mäntel oder Daunenjacken.
Wickley hätte sie gern alle gleich am Morgen einberufen, doch einige hatten Termine außer Haus gehabt, und Hensbeck hatte er natürlich nicht erreicht. Berittene Boten oder Brieftauben, womöglich müssen wir sie wieder einführen, dachte er.
Lueck hatte weder Ersatzteile noch einen neuen Generator oder Dieselnachschub organisieren können. Ohne funktionierende Telefonnetze kam er nicht einmal zu den zuständigen Stellen durch. Persönlich hatte er sich mit dem Auto auf den Weg nach Düsseldorf gemacht, ohne zu wissen, an wen genau er sich überhaupt wenden musste und ob er vorgelassen würde. Allein die Recherche der Adressen war ein Problem. Alle waren sie elektronisch gespeichert, auf Servern, in Mobiltelefonen, auf Laptops, deren Akkus längst den Geist aufgegeben hatten. Ein Telefonbuch hatten sie schon seit Jahren nicht mehr im Haus. Noch war er von seiner Mission nicht zurückgekehrt.
»Zahlreiche europäische Netzbetreiber bestätigen mittlerweile fatale Attacken auf ihre IT-Systeme«, sagte Wickley. »Inoffiziell konnte ich in Erfahrung bringen, dass manche sogar mit einigen Tagen oder länger für die Reparatur rechnen.«
»So schlimm die Nachrichten und die Situation sind«, warf Hensbeck ein, »schafft die Lage doch auch eine große Chance, oder nicht? Sie macht deutlich, dass die gegenwärtigen Systeme nichts taugen und eine Umstellung nötig ist.«
»Ihren Willen zum positiven Denken in Ehren, Hensbeck, aber so einfach ist es nicht. Die Ursache für den Ausfall ist bereits jetzt eindeutig: die IT-Systeme. Ausgerechnet jener Teil des Gesamtsystems Energieproduktion und -verteilung, der beim Aus- und Umbau zum Smart Grid in den kommenden Jahren die Schlüsselrolle spielen sollte. Und Teil unseres Kerngeschäfts. Und – Kern unserer visionären Entwicklungsprojekte! Verstehen Sie? Neben dem Stromnetz sollte ja ein Kommunikationsnetz aufgebaut werden, um das Stromnetz zu steuern. Womit Banken, Kreditkartenfirmen und Versicherungen seit Jahren kämpfen, hat jetzt auch unsere Branche ereilt. Nur mit weitaus schlimmeren Folgen, wie man da draußen gerade sehen kann. Die Niederlande haben bei der Einführung von Smart Metern schon vor geraumer Zeit eine Pause eingelegt. Grund: Sicherheitsbedenken. Wenn sich der Staub nach dieser Situation gelegt hat, werden alle Entwicklungsprojekte, die mit IT zu tun haben, evaluiert, überprüft, gestoppt werden.«
»Unsere Produkte wurden nach höchsten Sicherheitsstandards entwickelt«, warf der Technikvorstand ein. »Damit können wir punkten.«
»Das wurden auch jene der Banken, Versicherungen, Behörden und anderer Angegriffener in den vergangenen Jahren, beteuerten jedes Mal die Verantwortlichen. Wie sich später herausstellte, war dem häufig nicht so. Können Sie garantieren, dass unsere Systeme absolut sicher sind?«
»Kein System wird jemals absolut sicher sein«, wand sich der Technikvorstand. »Aber wir gehen weit über alle Industriestandards hinaus.«
»Das ist das Argument der Atomindustrie jeweils bis zum nächsten GAU und der Finanzindustrie bis zum nächsten Crash. Es wird nicht genügen. Als Erstes möchte ich, dass wir alle Zukunftsprojekte noch einmal auf Herz und Nieren überprüfen. Sobald wir das getan haben, wiederholen wir es und dann noch einmal!«
»Zuerst einmal bräuchten wir Strom«, murmelte jemand laut genug, dass Wickley es hörte.
Er ging nicht darauf ein. »Außerdem müssen wir unsere Kommunikationsstrategie nach diesen Neuigkeiten fundamental überdenken. Nach diesem Angriff auf die Systeme wird es in der Energieversorgung für Jahre nur noch ein Thema geben: Sicherheit beziehungsweise Versorgungssicherheit. Klima- und Umweltschutz werden vergessen sein. Europa wird froh sein, wenn es überhaupt wieder auf die Beine kommt. Ich höre die Politiker jetzt schon. Sie werden argumentieren, wie es heute Entwicklungs- und Schwellenländer tun. Um den Lebensstandard ihrer Wähler auch nur annähernd zu halten, wird der deutsche Atomausstieg zurückgenommen, Gas- und Kohlekraftwerke werden schneller und ohne Rücksicht auf die Umwelt gebaut, Hauptsache, sie können liefern.«
»Warum sollten sie die Chance nicht nutzen und gleich die Erneuerbaren noch stärker vorantreiben?«, wollte Hensbeck wissen.
Wickley fragte sich langsam, warum dieser Mann die Kommunikationsstrategie für Talaefer ausarbeitete. Er schien sich nicht in die Materie vertieft zu haben.
»Weil sie für die erneuerbaren Ressourcen und zahllosen dezentralen Kleinproduzenten das Smart Grid benötigen. Aber dessen bescheidene Anfänge wurden gerade mit Kawumm in die Luft gejagt – im übertragenen Sinn. Die Angriffe starteten in Italien und Schweden ausgerechnet über intelligente Stromzähler, wie sie bis 2020 nach Vorgabe der EU in ganz Europa eingesetzt werden sollen.«
»Das wird doch eine Festtafel für kriminelle Hacker, Terroristen oder feindlich gesinnte Nationen«, sagte Hensbeck. »Weshalb wurden denn so unsichere Geräte installiert? Das ist doch verantwortungslos.«
»Die Italiener wollten einfach den Volkssport Stromdiebstahl unterbinden«, erklärte der Technikvorstand. »Sicherheit war Anfang des neuen Jahrtausends noch kein so großes Thema.«
»Wie bitte? Aber natürlich. Da war doch sogar dieser Actionfilm …«, widersprach Hensbeck.
»Ich weiß, welchen Sie meinen, Die Hard, vierter Teil. Abstruse Story …«
»Aber das Thema war bereits da.«
»Natürlich, da müssen wir uns alle an die Nase greifen, damals hat man die Gefahren als Spinnerei von Katastrophenpropheten abgetan. Die wahre Brisanz wurde vielen Verantwortlichen erst in den letzten Jahren bewusst. Und natürlich ist es auch eine Kostenfrage. Sicherheit kostet Geld.«
»Wie man gerade sieht, kostet es noch mehr, sie nicht zu bezahlen.«
»Sie sind alt genug dafür, erinnern Sie sich an die Zeit, als etwa in Italien der Entscheidungsprozess für diese gewaltige Investition begann. Wie umständlich und langwierig der war, um endlich umgesetzt zu werden, können Sie sich vorstellen. Das dauerte Jahre! Und Sie wissen, was Jahre für ein technisches Gerät heutzutage bedeutet. Im Grunde sind die Smart Meter bei ihrem Einbau bereits veraltet. Und selbst wenn sie es nicht wären, heute sind sie es. Das ist ein Grundproblem moderner Technik, für das noch niemand eine Lösung gefunden hat.«
»Apple und Co. schon«, wandte Hensbeck ein. »Die Konsumenten fiebern den neuen Produkten entgegen und sind bereit, Hunderte Euro für das neueste Handy, den neuesten Flach- oder 3D-Bildschirm, den neuesten Tabletcomputer oder was als Nächstes erfunden wird, auszugeben, obwohl das Vorgängermodell es noch drei Jahre machen würde.«
Wickley griff das Stichwort auf. Ähnliche Gedanken hatte er selbst auch schon gehabt. Doch er war nicht der Kreative, sich solche Produkt- oder Kommunikationskonzepte auszudenken.
»Wenn es Ihnen gelingt, die Konsumenten dazu zu bringen, gern und begeistert für Smart Meter alle zwei Jahre einhundert Euro auszugeben, werden Sie ein sehr reicher Mann. Denn wir haben die optimalen Programme und Services dazu, sozusagen den App-Store der Energieindustrie.«
Hensbeck blickte ihn nachdenklich an.
»Für dessen Angebote man dann noch extra bezahlen muss«, sagte er.
»Von irgendetwas wollen unsere Ingenieure ihre Kinder ernähren«, antwortete Wickley.
Später, nachdem die Kommunikationsleute gegangen waren und es draußen bereits dämmerte, fragte Wickley den Technikvorstand: »Sind bei uns eigentlich Meldungen von Kraftwerksbetreibern eingetroffen?«
»Bis jetzt nicht. Wobei das ursprüngliche Callcenter schon wieder außer Dienst ist. Die Telefonnetze brachen so schnell zusammen, dass wir ohnehin nicht erreichbar waren. Wir versuchen gerade, eines in Bangalore einzurichten.«
Seit sechs Jahren unterhielten sie, so wie viele andere Hightech-Konzerne, eine Entwicklungsabteilung in der südindischen Stadt, die mittlerweile zu einem Zentrum der weltweiten Softwareindustrie geworden war. Ein bis zwei Mal pro Jahr besuchte Wickley den Standort, der seit der Gründung seine Mitarbeiterzahl auf hundertzwanzig Leute versechsfacht hatte.
»Aber die Kommunikation über Satellit ist mühsam, die Satelliten alle überlastet«, fuhr der Technikvorstand fort. »Wir hoffen, morgen so weit zu sein. Aber ich erwarte eigentlich nicht viele Kontakte. Unsere SCADA-Bestandteile sind sicher, und die Leute haben gerade andere Sorgen.«
Wickley hatte noch immer von Balsdorffs Satz in den Ohren: »Auch Kraftwerke melden ungewöhnliche Schwierigkeiten …«, deshalb sagte er: »Sollte etwas kommen, will ich sofort darüber informiert werden.«
Den Haag
Shannon hatte ihre Beiträge geschnitten und lud sie ins Internet hoch. Der Fernseher lief.
Manzano kam ins Zimmer.
»Was Neues?«
Er warf sich aufs Bett, klappte seinen Laptop auf und verfolgte die Nachrichten im Fernsehen, während das Gerät hochfuhr.
»Hm«, erwiderte Shannon unkonzentriert, mit einem Blick auf seinen Computer und den komischen grünen Aufkleber auf dessen Deckel.
Die Nachrichten aus Saint-Laurent klangen schlecht. Unscharfe Bilder aus großer Entfernung zeigten das Kraftwerk, von dem Rauch aufstieg.
»Was wir sehen, ist kein Dampf aus den Kühltürmen«, erklärte eine Sprecherin. »Nach der Explosion am Mittag ist die Situation weiterhin unklar …«
Parallel überflog Manzano den Liveticker im Internet. Bei den meisten Meldungen beschränkte er sich auf die Headlines.
+ Europäische Börsen geschlossen +
+ Stillstand in allen europäischen Autoproduktionsstätten +
+ Münchner Rück rechnet bislang mit Schäden in Höhe von 1 Billion Euro +
+ Korrektur: Sechs Mitarbeiter in AKW Saint-Laurent verletzt; zwei verstrahlt +
+ Eishockeyweltmeisterschaft in Schweden Ende Februar abgesagt +
+ Regierung schätzt Opferzahl in Deutschland nach Stromausfall auf bis zu 2000 +
+ Greenpeace: Strahlungswerte um Saint-Laurent stark erhöht +
+ USA, Russland, China, Türkei bereiten Hilfe vor +
+ Region Bochum zeitweise wieder mit Strom +
+ Interpol veröffentlich Phantombilder von Verdächtigen +
+ NATO-Oberkommando bespricht Lage +
+ Ölpreise nach Stromausfall im Sinkflug +
+ Atombehörde: Saint-Laurent kein Tschernobyl oder Fukushima +
»Das haben die in Japan in den ersten Tagen auch gesagt«, murmelte Manzano. »Bis herauskam, dass der Reaktor vom ersten Augenblick an außer Kontrolle war.«
Berlin
»Es ist ein Zeichen an die Bevölkerung«, erklärte der Innenminister.
»Das kaum jemand sieht«, sagte der Sprecher des Bundeskanzlers.
Fassungslos verfolgte Michelsen die Diskussion. Beim Jour fixe hatten sie sich an der Frage festgebissen, ob der Kanzler in Begleitung der Medien ein Notquartier und ein Krankenhaus besuchen sollte. Als ob sie nichts Wichtigeres zu tun hätten. Michelsen studierte ihre Liste. Längst hatte sie aufgegeben, jedes Detail festzuhalten. Für den groben Überblick genügten ihr ein paar Stichwörter.
Wasser
In vielen Strominseln nur stundenweise; in stromlosen Gebieten fast völliger Ausfall; Notbrunnen aktiviert, Verteilung läuft; Informationen aus einigen Gebieten fehlen wegen nicht vorhandenem Kommunikationsnetz; Notstrom für Pump- und Abwasserentsorgungsanlagen teilweise installiert; keine ausreichenden Notstromkapazitäten, da u. a. auch für Krankenhäuser benötigt
Lebensmittel
Hamsterkäufe in noch geöffneten Supermärkten; Ausgabestellen und Suppenküchen eingerichtet; Versorgung wegen mangelnder Transportmöglichkeiten teilweise kritisch > verbessern!
Medizinische Versorgung
Konzentration auf Schwerpunktkrankenhäuser und Verlegungen in Durchführung; Medikamentenmangel in Krankenhäusern, Notquartieren und Apotheken; Dialyse und Pflegeheime dramatisch > Verlegungen forcieren!
Unterkunft
187 Notquartiere etabliert; 156 in Arbeit
Kommunikation
Notstrom für BOS-Funk für Kommunikation zwischen Bund, Ländern und Zentralen der Hilfsorganisationen teilweise wieder aufgebaut; Kommunikation mit regionalen Einheiten schwierig bis unmöglich; Informationsfluss stark verzögert. Feldnetz Bundeswehr wird etabliert.
»Ende der Debatte«, bestimmte der Bundeskanzler mit einer harschen Handbewegung. »Wir besuchen das Notquartier und ein Krankenhaus.« An seinen Sprecher gewandt: »Arrangieren Sie für morgen einen Termin. Die wichtigsten Verantwortlichen möchte ich dabeihaben, damit auch sie sich ein Bild machen können.«
Sie gingen über zum nächsten Thema. In den folgenden dreißig Minuten konnte Michelsen ihre Liste für den Tag vervollständigen.
Öffentliche Ordnung
Vereinzelte Plünderungen, vermehrt Einbruchsdelikte, soweit bekannt; Informationslage unbefriedigend; JVAs keine Ausbrüche gemeldet, versuchte Häftlingsaufstände in JVAs Kassel 1, Fuhlsbüttel, für Frauen Berlin, Mannheim, Regensburg unter Kontrolle.
Doch die Lage in den Justizvollzugsanstalten wurde zunehmend gefährlich, hatte der verantwortliche Ressortleiter erklärt. Wie überall fehlte es in den Gefängnissen mittlerweile an Personal. Die verbliebenen Belegschaften arbeiteten unter körperlichem und seelischem Hochdruck. Den Häftlingen waren Hof- und Freigang verboten worden, Wasser- und Lebensmittelversorgung zum Teil reduziert, die hygienischen Verhältnisse oftmals katastrophal. Der Aggressionspegel der Insassen stieg, wandte sich zunächst gegen die schwächeren Gefangenen und schließlich gegen die Wärter. Bald würden sich die Beamten auf das Verhindern von Ausbrüchen konzentrieren oder Häftlinge in größere Anstalten verlegen müssen, um Personal einsparen zu können. Michelsen mochte nicht an den logistischen Aufwand denken, an das Fluchtrisiko während der Verlegung und die Zustände in den danach noch überfüllteren Sammelanstalten.
Transport
Bahnlinien weitestgehend frei; Gütertransporte aufgenommen; Versorgungs- und Transportachsen in Zusammenarbeit mit Ländern ausarbeiten.
Geld/Finanz
Bank-Run?
Andere Infrastrukturen
Keine Vorkommnisse bekannt, aus einigen Regionen fehlen allerdings Informationen
Versorger
Ausfall-Ende nicht absehbar; Strominsel Schleswig-Holstein-Süd verloren; Dt. AKWs: zwei Diesel ausgefallen (Brokdorf, Gundremmingen C), Ersatz funktioniert; Dieselnachschub unterwegs
International
AKW Saint-Laurent Evakuierung; Temelín kritisch; Brände in Industrieanlagen mit Schadstoffaustritt sieben, keiner grenznah.
Noch immer lieferten TV-Stationen ihre Bilder an jene wenigen, die sie sehen konnten. Michelsen und ihre Kollegen im Innenministerium gehörten dazu. Die Nachrichten des Vorabends hatten sich schnell herumgesprochen. Die Folgen waren wie vorhergesehen. Die wenigen geöffneten Supermärkte waren gestürmt worden.
Dagegen hatte niemand mit einer anderen Reaktion gerechnet, über die am Monitor der ARD gerade ein Bericht lief. Im Nachrichtenstudio erklärte eine blonde Sprecherin: »… habe ich jetzt Doktor Cornelius Ydén von der Bundesbank bei uns im Studio zu Gast. Herr Doktor Ydén, zunächst danke ich für Ihr Kommen, was angesichts der Umstände keine so einfache Sache ist.«
»Danke für die Einladung.«
»Herr Doktor Ydén, erleben wir einen Bank-Run?«
Ydén, ein Mittfünfziger mit grauem Haar und scharfen Gesichtszügen, erwiderte: »Nein. Es handelt sich hier um Einzelfälle.«
Die bisherigen Meldungen, die Michelsen und ihre Kollegen erhalten hatten, zeigten ein anderes Bild. Mindestens zweihundert Bankfilialen im ganzen Land hatten bis spätestens mittags schließen müssen. Dabei besaßen sie nur die Zahlen der sieben größten Institute und des Sparkassenverbandes.
»… Bargeldversorgung in Deutschland ist gesichert«, versicherte Ydén. »Vor Beginn des Stromausfalls waren in Deutschland geschätzte vierzig Milliarden Euro Bargeld im Umlauf, doppelt soviel wurden gehortet. Wir dürfen davon ausgehen, dass, selbst wenn der Ausfall noch ein paar Tage anhalten sollte, die Menschen nicht sehr viel Geld für den täglichen Bedarf brauchen. Viele Geschäfte haben geschlossen, Wasser- und Lebensmittel werden von den Behörden umsonst ausgegeben. Die Angst, zu wenig Geld zur Verfügung zu haben, ist völlig unbegründet. Die Bundesbank rät den Menschen daher, wenn überhaupt vorerst nur das Notwendigste an Barbeträgen abzuheben.«
»Für rund vierzig Millionen Haushalte in Deutschland stehen also etwa hundertzwanzig Milliarden Euro zur Verfügung. Wenn dieses Geld gleichmäßig verteilt wäre, wären das drei Tausend Euro pro Haushalt. Viele haben aber deutlich weniger in der Tasche. Ist die Sorge der Bürgerinnen und Bürger da nicht berechtigt, dass ihnen das Geld ausgeht?«
Michelsen war froh, dass kaum jemand diese Gespräche sehen oder hören konnte. Es gab bereits erste Schwarzmärkte für verschiedene Güter, vor allem Wasser, Lebensmittel und Medikamente. Sollten die Behörden die Versorgung nicht mehr sichern können, würden sie überhandnehmen und damit nicht nur das Vertrauen in den Staat untergraben, sondern den Menschen tatsächlich das Geld aus der Tasche ziehen. Trotzdem hatte Ydén recht. Das Gebot der Stunde hieß Vernunft.
»Das sind irrationale Ängste, die allerdings, das gebe ich zu, selbsterfüllende Prophezeiungen werden können. Das ist das Wesen des von Ihnen angesprochenen Bank-Runs. Die Menschen sehen andere vor der Bank stehen und fürchten, dass sie kein Geld mehr bekommen, die Menge wird immer größer und dadurch die Angst. Irgendwann geht den Banken tatsächlich das Geld aus. Deshalb setzen sie auf einfache Gegenmittel wie die Beschränkung der Bargeldausgabe. Die Menschen müssen eines berücksichtigen: Sie brauchen keine Angst davor zu haben, dass, wie bei einer Bankenkrise, die Geldinstitute morgen bankrott sind und das Geld verloren ist.«
Da macht er es sich jetzt ganz schön einfach, dachte Michelsen und hoffte, dass die Sprecherin es ihm durchgehen ließ. Selbstverständlich konnten die Banken in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, schon kurzfristig, aber auch mittel- und langfristig, weil viele Unternehmen die Folgen des Stromausfalls nicht überleben und die Institute damit auf Milliardenkrediten sitzen bleiben würden. Vorerst ging es aber tatsächlich darum, einen klassischen Bank-Run zu verhindern.
»Um das Geld müssen wir uns also keine Sorgen machen«, schloss die Sprecherin mit ernstem Gesicht. »Danke, Herr Doktor Ydén von der Bundesbank.«
Was der Finanzkrise nicht gelungen war, schaffte das nun ein Stromausfall?
Brüssel
»Die Hilfsgesuche halten sich in Grenzen«, fasste Zoltán Nagy, der ungarische Leiter des MIC, die Sitzung zusammen. »Um Saint-Laurent und Temelín kümmert sich die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien. Sie entsandte Experten und hält uns auf dem Laufenden.«
Dreißig Minuten lang hatten sie die aktuellsten Entwicklungen besprochen. Sie waren weit schlimmer, als Angström und irgendjemand anderer im EUMIC befürchtet hatte. Offen war nur noch der aktuelle Stand der technischen Unfälle.
»Eine Anfrage kommt aus Spanien wegen der Explosion im Chemiewerk Abracel bei Toledo. Dort traten giftige Gase aus. Genaue Zahlen über Opfer haben die Behörden noch immer nicht, sie gehen von mindestens einigen Dutzend aus. Mehrere Tausend mussten evakuiert werden, zum Teil auch aus den bereits eingerichteten Notquartieren. Die USA und Russland wollen technische Teams schicken, die helfen sollen, die Lecks abzudichten. Unfälle mit Austritten von Schadstoffen und Todesopfern wurden uns außerdem gemeldet aus dem britischen Sheffield, dem norwegischen Bergen, der Schweiz nahe Bern und dem bulgarischen Pleven. Keiner der Staaten hat jedoch internationale Hilfe angefordert, die Opferzahlen liegen angeblich jeweils im niedrigen einstelligen Bereich. Es handelt sich durchwegs um Beschäftigte der betroffenen Fabriken. Wir müssen uns jedoch darauf einstellen, dass von der einen oder anderen Stelle noch Hilfsanfragen kommen werden. Außerdem umfasst diese Liste nur die bisher offiziell an uns gemeldeten Fälle. Wir können nicht ausschließen, dass es weitere gibt, die womöglich selbst den nationalen Behörden noch nicht bekannt sind. Die Kommunikation ist in allen Staaten noch immer äußerst lückenhaft. So viel erst einmal zur aktuellen Lage. Die nächste Statussitzung findet in drei Stunden statt.«
Nagy wollte schon aufstehen, da fiel ihm offensichtlich noch etwas ein.
»Ach, und bevor ich es vergesse, wir haben eine Information der Brüsseler Verkehrsbetriebe erhalten. Zur Aufrechterhaltung eines Mindestbetriebs öffentlicher Einrichtungen haben sie Shuttledienste mit Bussen eingerichtet, die sechs Linien in einem Radius von vierzig Kilometern rund um die Stadt bedienen. Die Busse fahren zwei Mal täglich exklusiv für Mitarbeiter bestimmter Behörden wie Polizei, Ministerien und auch elementarer Abteilungen der Europäischen Kommission. Dazu gehören wir. An vereinbarten Sammelpunkten können Sie morgens zusteigen und werden abends zurückgebracht. Als Legitimierung dient Ihr Mitarbeiterausweis. Die Routen und Sammelstellen finden Sie am Schwarzen Brett.«
Berlin
Hartlandt schreckte hoch, als jemand hinter ihm klatschte.
»Aufwachen!«, rief der Kollege.
Verlegen sah sich Hartlandt um. Nur einen Moment lang hatte er sich ausruhen wollen, das Kinn war ihm auf die Brust gesunken.
»Ich habe Nachrichten, die dich hellwach machen werden«, erklärte er. »Sie kommen von der Feuerwehr, die den Brand in der Schaltanlage Osterrönfeld gelöscht hat. Sie sind sicher, dass der Brand gelegt wurde.«
»Sch…«, hielt sich Hartlandt gerade noch zurück. »Und warum erfahren wir das erst jetzt?«
»Weil die da draußen alle Hände voll zu tun haben. Da kommt die Ursachenforschung zu kurz.«
Hartlandt sprang auf, stellte sich vor die Wand mit der riesigen Deutschlandkarte, auf der sie alle bislang bekannten Defekte in verschiedenen Farben markiert hatten. Unter den farbigen Nadelköpfen war stellenweise kaum mehr Land zu erkennen.
»Dann … ist das vielleicht kein Zufall«, murmelte er. »Seit Beginn des Ausfalls wurden uns Brände aus acht Schaltanlagen gemeldet. Das sind diese rosa Kügelchen. Die ersten aus Schleswig Holstein und Niedersachsen, also ganz im Norden. Nach und nach kamen die anderen hinzu. Bis jetzt war man von Kurzschlüssen als Ursache ausgegangen.«
Er lief zu seinem Arbeitsplatz, kramte in den Unterlagen.
»Hier«, er reichte seinem Kollegen ein Blatt. »Das ist die Liste der betroffenen Schaltanlagen. Funk alle örtlichen Feuerwehrstationen an. Sie sollen sofort die Brandursache überprüfen. Außerdem brauche ich die exakten Zeitangaben, wann die Brände jeweils ausgebrochen sind. Außerdem kontaktierst du alle Netzbetreiber, ob es weitere beschädigte Schaltanlagen gibt, von denen wir bis jetzt nichts wissen. Und ab, los!«
Den Haag
Manzano hörte der Berichterstattung nur mit einem Ohr zu. Seit Stunden war er damit beschäftigt, Bollards Unterlagen zu den Herstellern von Kraftwerkssteuerungssystemen auszuwerten. Je mehr er sich vertiefte, desto stärker wurde sein Verdacht.
»Vielleicht sollten wir nicht alle Geräte gleichzeitig laufen lassen«, meinte er abwesend. »Das Hotel wird nicht unbegrenzt Notdiesel zur Verfügung haben.«
»Auf die paar Minuten oder Stunden kommt es dann auch nicht mehr an«, erwiderte Shannon, die auf dem Bett lag, ohne den Blick vom TV-Gerät zu nehmen.
»… aus Kreisen der europäischen Netzbetreiber heute bekannt wurde«, berichtete die Sprecherin gerade, »wird die Wiederherstellung der attackierten Computersysteme zum Betrieb zahlreicher Stromnetze bis zu zehn Tage dauern.«
»Du liebe Güte«, murmelte Shannon.
»Eine Bestätigung dafür von offizieller Seite blieb bislang jedoch aus. Neuigkeiten gibt es auch aus dem angeschlagenen Kernkraftwerk Saint-Laurent in Zentralfrankreich. Von dort live unser Korrespondent James Turner.«
»Schau dir den Kerl an«, ärgerte sich Shannon. »Hoffentlich klingen seine Nachrichten nicht so schlecht, wie er aussieht.«
Widerwillig blickte Manzano hoch. Auf dem Bildschirm hielt Shannons ungeliebter Kollege sein Gesicht in die Kamera. Dick vermummt stand er im Scheinwerferlicht, Wind zerrte an seiner Kapuze und rauschte im Mikrofon.
»Die Internationale Atomenergie-Organisation hat die Situation in Saint-Laurent mittlerweile mit INES 4 eingestuft«, brüllte er gegen den Wind an, »und somit offiziell vom Störfall zum Unfall erklärt! Damit geben auch Regierung und Betreiber zu, dass die Bevölkerung in der näheren Umgebung einer geringen Strahlenbelastung ausgesetzt war, die die natürliche Strahlenbelastung aber noch nicht wesentlich übersteigt! Beunruhigender dabei ist die Tatsache, dass es laut dieser Einstufung zu Schäden am Reaktorkern oder an den Schutzhüllen gekommen ist! Wie gravierend diese aber sind, wurde nicht bekannt gegeben! Außerdem kam es beim Personal zu so schwerer Kontamination, dass diese Auswirkungen auf die Gesundheit haben kann! In der Geschichte der Kernkraft gab es bislang elf Unfälle dieser oder höherer Stufen! Die Kühlsysteme von Block 1 sind nach wie vor defekt, die Ursache dafür ist weiterhin unbekannt! Auch über die Ursache der Explosion herrscht Unklarheit!«
»Ja, ja«, meckerte Shannon. »Keine Ahnung haben, dafür umso mehr berichten.«
»Umweltorganisationen dagegen erklären, dass sie einen Kilometer vom Kraftwerk entfernt massiv erhöhte Strahlenbelastung festgestellt haben! Nach ihren Angaben betrugen die Messungen bis zu zweihundert Millisievert pro Stunde! Zum Vergleich: 0,01 Millisievert pro Stunde gelten als Richtwert für eine langfristige Evakuierung der Bevölkerung! Wenn diese Messungen stimmen und solche Werte anhalten, ist das Kraftwerk wesentlich schwerer beschädigt als bisher bekannt oder zugegeben!«
»Binnen weniger Tage auf INES 4 hochgestuft«, bemerkte Manzano und senkte den Blick wieder auf seinen Computer. »Erinnert verflixt an Tschernobyl und Fukushima.«
»Tschernobyl habe ich noch nicht mitbekommen«, sagte Shannon. »Aber mit Fukushima hast du recht. Hoffentlich geht das in Saint-Laurent nicht auch so weiter. Sieh her«, sie zeigte auf eine Landkarte auf dem Bildschirm ihres Laptops. »Stell dir vor, sie müssten wie in Fukushima im Umkreis von dreißig oder mehr Kilometern eine Sperrzone einrichten. Da stehen die Juwelen der Loire-Schlösser! Ganz zu schweigen von einer wie in Tschernobyl. Da kannst du halb Zentralfrankreich abschreiben!«
»… belastet weiterhin die internationalen Börsen«, verkündete die Nachrichtensprecherin. »Die europäischen blieben geschlossen. Wenige Stunden vor Handelsschluss kämpfen die amerikanischen Handelsplätze mit bis zu zwanzigprozentigen Verlusten. An der New York Stock Exchange wurde der Handel mehrmals ausgesetzt, nachdem der Dow Jones binnen kürzester Zeit mehr als zehn Prozent an Wert verloren hatte. Über einen früheren Handelsschluss wird bereits diskutiert, ebenso wie über das vorläufige Verbot von Leerverkäufen bestimmter Papiere. Besonders litten Anteilscheine europäischer Unternehmen. Volkswagen etwa verlor seit Beginn des Stromausfalls in nur zwei Handelstagen fast siebzig Prozent seines Wertes, nicht besser ergeht es den anderen europäischen Autobauern. Europäische Banken und Versicherungen büßten sogar bis zu neunzig Prozent Börsenkapitalisierung ein. Schon werden – vor allem aus den Unternehmen selbst – Stimmen laut, die Papiere ebenfalls vorübergehend aus dem Handel zu nehmen, da sie zu den gegenwärtigen Preisen wehrlose Opfer von feindlichen Übernahmen durch Konkurrenten wären.«
»Wer soll die in dieser Situation denn kaufen?«, fragte Shannon.
»Ich nicht«, erwiderte Manzano.
»Deshalb musst du wahrscheinlich immer noch arbeiten«, antwortete Shannon schnippisch. »Ich habe Hunger.«
»Ich auch.«
Seine Analysen konnte Manzano später fortführen.
»Dann lass uns auf dem Vulkan tanzen und speisen, solange wir das noch können.«
Zevenhuizen
Fast wäre François Bollard in das Auto gefahren, das auf der Zufahrt des Gutshofs stand. Im Licht seiner Scheinwerfer erkannte er, dass die ganze Strecke bis zum Gebäude zugeparkt war. Er lenkte seinen Wagen in die Wiese und arbeitete sich so bis zum Haus vor. In manchen Fahrzeugen sah er Menschen liegen, in warme Kleidung und Decken gewickelt. Was machten sie alle hier? Auch der Vorplatz war voll mit Fahrzeugen. Dazwischen standen ein paar Menschen, die sich Bollard zuwandten, als er den Wagen abstellte und ausstieg. Er ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken und ging durch die Versammlung auf das Haus zu.
»Die lassen dich da nicht mehr rein«, rief ihm jemand zu.
»Außer er gehört zu den Guten«, rief ein anderer spöttisch. Einige Männer folgten ihm bis zur Tür. Bollard sperrte auf, da packte ihn eine Hand, und bevor er sich wehren konnte, zog sie ihn hinein und schlug die Tür zu. Von draußen hörte Bollard zornige Rufe. Vor ihm stand Jacub Haarleven. Er wirkte verstört. Erst jetzt nahm Bollard das Stimmengewirr im Haus wahr.
»Wir können nicht alle aufnehmen«, erklärte Haarleven und ging voran. Als sie am Frühstücksraum vorbeikamen, verstand Bollard, was er meinte. Die Tische waren beiseitegeschoben, auf dem Boden lagen mindestens vierzig Personen dicht an dicht. Bollard stieg der Geruch ungewaschener Menschen in die Nase, jemand schnarchte, ein anderer wimmerte im Schlaf.
»Ich habe ihnen gesagt, dass wir sie nicht auch noch verpflegen können«, fuhr Haarleven fort. »Aber was sollte ich tun? Es sind Kinder dabei, Kranke und Alte. Ich kann sie doch nicht draußen erfrieren lassen! In zwei anderen Räumen sieht es genauso aus.«
»Und die vor der Tür?«
Haarleven sah ihn ratlos an. »Ich hoffe, sie bleiben vernünftig.«
»Was wollen Sie morgen früh machen, wenn die Leute hungrig aufwachen?«
Haarleven zuckte mit den Schultern. »Das überlege ich mir morgen. Wir können nur noch improvisieren. Wenn der Strom nicht bald zurückkommt, stehen wir vor einem gewaltigen Problem.«
Bollard bewunderte die Haltung des Mannes. Oder war er bloß naiv?
»Sie sind doch bei der EU …«
»Europol«, korrigierte Bollard.
»Können Sie nicht etwas für diese Menschen tun?«
»Was ist mit den niederländischen Behörden? Es gibt Notquartiere.«
»Nicht genug, sagen die Leute.«
»Heute nicht mehr«, erwiderte Bollard. »Morgen werde ich sehen, was ich tun kann.«
Was nicht viel mehr war, als bei der Stadt anzurufen und zu fragen, warum für die Menschen keine Quartiere bereitstanden. Und zur Not bei der Polizei, um Haarlevens Besitz und die Menschen darin zu schützen. Die Antworten auf beide Fragen konnte er sich jetzt schon ausmalen.
Bollard stieg die Treppe zu den Zimmern seiner Familie hoch. Er hatte kaum die Tür geöffnet, als seine Frau auf ihn zustürzte.
»Hast du etwas von unseren Eltern gehört?«
Auf diesen Moment hatte er sich nicht gefreut.
»Noch nicht. Es geht ihnen sicher gut.«
»Gut?« In ihrer Stimme schwang ein hysterischer Unterton mit, der Bollard nicht gefiel. »Zwanzig Kilometer entfernt passiert ein GAU, und du bist sicher, dass es ihnen gutgeht?«
»Wo sind die Kinder?«
»Schlafen schon. Lenk nicht ab.«
»Das ist kein GAU. Die Regierung sagt …«
»Was soll sie denn sonst sagen?«, rief sie, den Tränen nahe.
»Du weckst die Kinder auf.«
Sie begann zu schluchzen, mit den Fäusten gegen seine Brust zu trommeln.
»Du hast sie dort hingeschickt!«
Er versuchte, sie zu beruhigen, zu umarmen, sie entwand sich, schlug weiter auf ihn ein.
»Du hast sie dort hingeschickt!«
In Bollard flammte Zorn auf und Hilflosigkeit. Er drückte sie so fest an sich, dass ihre Arme blockiert waren. Zuerst wehrte sie sich noch, doch er hielt sie, bis er spürte, wie sie sich ergab und hemmungslos schluchzend an seiner Schulter lag.
Vier Tage erst, dachte er, und unsere Nerven liegen bereits blank. Er schloss die Augen, und zum ersten Mal seit seiner Kindheit betete er. Bitte, wenn es dich gibt, mach, dass es unseren Eltern gutgeht!
Den Haag
»Wir haben es gut«, stellte Shannon fest. Genussvoll wickelte sie ihre Nudeln auf die Gabel. »Das wurde mir nach dem Tag wieder klar.«
»Du sowieso«, antwortete Manzano. »Darfst mit dem Porsche zu Katastrophenfällen fahren.«
»Glaub mir, lieber würde ich ohne Porsche darüber berichten, dass alles wieder in Ordnung ist. Kommt ihr denn nicht weiter?«
»Meine Liebe«, sagte Manzano und grinste. »Ich verstehe, dass du eine Fortsetzung für deinen gestrigen Coup suchst, umso mehr, als der Herr Kollege in Frankreich jetzt volle Aufmerksamkeit genießt. Aber du brauchst es gar nicht zu versuchen. Meine Arbeit hier, du weißt ja …«
»… ist geheim. Habe ich schon verstanden.«
»Erzähl mir lieber etwas von dir.«
»Das Wichtige weißt du. Ich bin in einem Kaff in Vermont aufgewachsen, in New York begann ich zu studieren, dann ging ich auf die verhängnisvolle Weltreise, die mich schließlich in Paris stranden ließ.«
»Nicht der schlechteste Platz für einen Schiffbruch.«
»Zugegeben.«
»Das war das Wichtige. Und das Unwichtige? Ist meistens viel interessanter.«
»In meinem Fall nicht.«
»Schwache Geschichte, Frau Journalistin.«
»Ist deine besser?«
»Hast du noch nicht recherchiert?«
Jetzt grinste Shannon.
»Natürlich. Aber viel gibt es über dich nicht. Scheinst kein aufregendes Leben zu führen.«
»Da halte ich es mit den Chinesen, die nur ihren Feinden ein aufregendes Leben wünschen. Aber wie es scheint, hat das in meinem Fall kürzlich jemand getan.«
»Konntest du einfach so aus Mailand weg? Keine Frau, Kinder?«
»Weder noch.«
»Warum?«
»Ist das wichtig?«
»Reine Neugier. Berufskrankheit. Und über irgendetwas müssen wir uns ja unterhalten.«
»Hat sich bis jetzt nicht ergeben.«
»Oh! Auf der Suche nach Miss Right? Ich dachte, das tun nur Frauen.«
»Du zum Beispiel?«
Sie lachte. Ihm gefiel ihr Lachen.
»Was ist mit deinen Eltern? Sind sie in Italien?«
»Sie sind tot.«
»Das tut mir leid.«
»Autounfall. Ist schon zwölf Jahre her.«
Er erinnerte sich an den Tag, als er die Nachricht erhalten hatte. An die eigenartige Taubheit seiner Gefühle.
»Vermisst du sie?«
»Nicht … wirklich.« Er bemerkte, dass er schon lange nicht mehr an sie gedacht hatte. »Vielleicht hätten wir noch etwas zu besprechen gehabt. Für manches wird man ja erst später im Leben reif. Aber vielleicht spricht man dann ja trotzdem nicht darüber. Wer weiß das schon. Und deine?«
»Haben sich getrennt, als ich neun Jahre alt war. Ich blieb bei meiner Mutter. Mein Vater zog nach Chicago, später nach Seattle. Ich habe ihn nicht oft gesehen.«
»Und seit du in Europa bist?«
»Ich skype mit Mom. Manchmal mit Dad. Sie sagen immer, dass sie mich einmal besuchen kommen müssen. Sie waren noch nie in Paris. Aber bis jetzt ist keiner der beiden gekommen.«
»Geschwister?«
»Eine Halbschwester und einen Halbbruder, die Kinder aus Dads zweiter Ehe. Kenne ich kaum.«
»Also ein Einzelkind.«
»So gut wie«, erwiderte sie, verzog ihr Gesicht zu einer finsteren Grimasse und erklärte in theatralischem Tonfall: »Eigensinnig. Egoistisch. Rücksichtslos.«
»Sagen meine Freundinnen auch immer.«
»Auch die aktuelle?«
Manzanos Miene ließ die Antwort offen.
»Was wird sie sagen, wenn sie erfährt, dass du mit mir das Bett teilst?«, fragte Shannon.
»Von mir erfährt sie nichts.«
Er verwendete die Einzahl. Er hatte keine Lust, seine losen Verhältnisse mit Julia und Carla zu erklären oder sich gar dafür rechtfertigen zu müssen. Sonja Angström schoss ihm durch den Kopf. »Und was ist mit Mister Right?«, fragte er.
»Wird schon noch auftauchen«, erwiderte sie, nahm einen Schluck Wein. Über den Glasrand blitzten ihre Augen ihn frech an.
»Meine sehr geehrten Damen und Herren, als größter öffentlich-rechtlicher Sender der Niederlande hatten wir bislang das Privileg ausreichender Notstromversorgung und konnten Sie so laufend über die Entwicklungen auf dem neuesten Stand halten. Nun werden die Brennstoffe für andere Zwecke dringender benötigt, etwa für Notquartiere, in denen europaweit mittlerweile geschätzte einhundertfünfzig Millionen Menschen leben, für Hilfsdienste und Krankenhäuser.
Aufgrund dieser Versorgungslage sind wir dazu gezwungen, unseren Sendebetrieb bis auf Weiteres zu reduzieren. Informationen über die aktuelle Lage erhalten Sie ab sofort von sechs Uhr morgens bis Mitternacht jede volle Stunde in einer fünfminütigen Nachrichtensendung. Andere Programme werden vorerst eingestellt. Wir bitten um Ihr Verständnis. Gute Nacht.«
Ybbs-Persenbeug
Oberstätter lief durch die menschenleeren Flure des Kraftwerks. Anwesend waren nur ein paar Techniker, die Mindestbesetzung, um das Werk wieder zum Laufen zu bringen – wenn sie denn dahinterkamen, wie.
Oberstätter fragte sich, wie es weitergehen sollte. Bereits jetzt waren die Schäden verheerend. Die Bauern in ihrer Nachbarschaft hatten große Teile ihres Viehs verloren. Die Tiere waren erfroren oder verhungert, viele Milchkühe unter erbärmlichen Qualen an überfüllten Eutern krepiert. Tagelang war das Schmerzgebrüll kilometerweit zu hören gewesen. Der Vater eines Bekannten war an einem Schlaganfall gestorben, weil die Ambulanz zu spät gekommen war.
Einige waren einfach abgehauen, was Oberstätter ihnen nicht einmal verübelte. Seit die Nachricht durchgesickert war, dass einzelne Gemeinden in Österreich eine rudimentäre Versorgung aufrechterhalten konnten, versuchten immer mehr Menschen dorthin zu gelangen.
Er selbst lebte hier noch in einem kleinen Paradies. Wie seine Kollegen auch brachte er ab und zu seine Familie her, damit sie sich aufwärmen und wenigstens für ein paar Stunden den Hauch von Normalität genießen konnte.
Oberstätter betrat den südlichen Generatorraum.
»Seid ihr so weit?«, fragte er über das Funkgerät. In der Leitstelle beobachteten jetzt fünf Ingenieure gespannt die Armaturen. Seit einer Stunde gingen sie die Schritte durch, um den Kraftwerksbetrieb wieder aufzunehmen. Bis jetzt hatten die Anzeigen keine Probleme gemeldet. Ein Knopf noch, und die Generatoren würden wieder beginnen, Strom zu produzieren.
»Und los«, hörte er es durch den Lautsprecher krachen.
Vor ihm sprangen mit einem tiefen Brummen die roten Riesen an.
»Läuft!«, rief Oberstätter in das Mikro.
»Na also, geht doch!«, rief der Kollege zurück.
Oberstätter fühlte dieselbe Erleichterung. Vier Tage lang hatten sie in den verschiedensten Phasen der Aktivierung Fehlermeldungen bekommen, Teile kontrolliert oder gar ausgetauscht.
»Scheiße«, hörte Oberstätter aus dem Funkgerät.
»Was ist?«
»Sie überdrehen!«
»Tun sie nicht, das würde ich hören«, rief Oberstätter.
»Bekommen wir hier aber angezeigt.«
»Kann nicht sein.«
»Ist zu riskant. Wir schalten ab.«
»Lass laufen!«, forderte Oberstätter. »Im Ernstfall schalten sie sich selbst ab.«
»Und wenn nicht?«
»Hier klingt alles normal«, sagte Oberstätter.
»Von den Anzeigen bekommen wir Befehl zum Abschalten!«, krächzte es durch das Funkgerät. »Wir müssen. Wir können die Generatoren nicht riskieren!«
Das leise Dröhnen in der Halle wurde schwächer und tiefer, bis es ganz verklang.
»Verflucht«, flüsterte Oberstätter.
Er ging hinauf in den Leitstand.
»Es sind nicht die Geräte«, erklärte Oberstätter. »Die Generatoren schnurrten wie die Katzen. Irgendetwas stimmt nicht mit der Steuerungssoftware.«
»Das SCADA-System?«, fragte der IT-Mann skeptisch. »Das ist auf Herz und Nieren geprüft.«
»Denk an Stuxnet.«
»Das war ein hochkomplexes Programm. Glaubst du, jemand hat ausgerechnet für uns ein solches geschrieben? Da gäbe es doch interessantere Ziele.«
»Überprüf die Logs. So viel anderes hast du gerade ohnehin nicht zu tun.«
Brummend wandte sich der Mann seinem Bildschirm zu. Seine vier Kollegen hatten zugehört und versammelten sich um seinen Platz. Zuerst gingen sie die Logs der Messgeräte durch.
»Die Messwerte liegen alle im grünen Bereich, oder?«
»Ja.«
Dann verglichen sie diese Messungen mit den Logs der Steuersoftware für den gleichen Zeitpunkt.
»Siehst du«, stellte Oberstätter fest. »Die Logs der Messgeräte unterscheiden sich von denen der Steuerungssoftware. Zwei verschiedene Systeme zeigen für dasselbe Ereignis unterschiedliche Ergebnisse an. Das ist genau, was wir in den letzten Tagen andauernd feststellen. Wir bekommen Fehlermeldungen, tauschen das Bauteil aus, die Fehlermeldung verschwindet zwar, aber irgendeine andere taucht auf. So viele Teile können gar nicht kaputt sein, wie wir schon gewechselt haben. Ich schwöre dir, die Maschinen funktionieren einwandfrei. Es ist nur die Software, die uns die ganze Zeit linkt.«
»Wenn dem so wäre, hätten wir ein Problem.«
»Welches?«
»Ein Fehler, wie du ihn beschreibst, muss im Quellcode der SCADA-Software stecken. Und der ist Geheimnis des Unternehmens, das SCADA programmiert.«
»Dann müssen die danach suchen.«
»Auf Verdacht hin? Die Fehleranzeigen können verschiedenste andere Gründe haben.«
»Vorschlag?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Warum sollte dieser Fehler gerade jetzt auftauchen? Und wie soll er überhaupt hineingekommen sein? Die SCADA-Anbieter sind Riesenunternehmen mit gigantischen Qualitätsprüfmechanismen und Sicherheitsvorkehrungen.«
»Ich finde die These nicht so abwegig«, widersprach einer seiner Kollegen. »Wir können es ja einmal an die Zentrale in Wien melden. Mal sehen, was sie sagen.«