Den Haag

Bollard wurde von lautem Klopfen geweckt. Wer machte um diese Zeit einen solchen Lärm? Hoffentlich waren keine Vandalen unterwegs. »Was ist das?«, fragte Marie neben ihm schlaftrunken.

»Ich gehe nachsehen.«

Zum ersten Mal griff er nicht nur nach der Taschenlampe auf seinem Nachttisch, sondern nahm auch die Pistole mit hinunter.

Abermals trommelte jemand gegen seine Tür.

»Wer ist da?«

»Janis.«

Bollard versteckte die Waffe hinter seinem Rücken und öffnete die Tür.

»Hast du den Verstand verloren? Wie spät ist es?«

»Drei Uhr morgens.«

Von weit her hörte er Sirenen.

»Dann hast du jetzt besser eine sehr gute Nachricht für mich.«

Christopoulos wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht. Der Italiener hat angerufen.«

»Welcher Italiener?«

»Dieser Manzano. Er sagt, es geht um Leben und Tod. Dass er vielleicht einen Weg zu den Angreifern hat. Aber er will nur mit dir sprechen.«

Bollard musste erst richtig wach werden. Was bewog den Italiener, trotz Verhaftung und Flucht, sich wieder bei ihm zu melden? Wollte er ihn verhöhnen? Oder war es wirklich wichtig? So oder so musste er ihn zu fassen bekommen.

»Woher hat er angerufen?«

»Wollte er nicht verraten.«

»Warte hier. Ich muss mir etwas anziehen.«

Er lief hinauf zu seiner Frau. »Ich muss weg«, sagte er. Er drückte ihr die Pistole in die Hand. »Du weißt, wie man damit umgeht, falls es notwendig werden sollte.«

»Aber ich …«

Er zog sich an, gab ihr einen Kuss, dann war er draußen.

Als er neben Christopoulos auf dem Beifahrersitz saß, fragte er: »Und er hat nichts gesagt?«

»Nein. Er will nur mit dir reden.«

Durch die Lüftung drang der Geruch erkalteter Brände.

»Wie sieht es in der Stadt aus?«, erkundigte er sich.

»Der Binnenhof ist völlig abgebrannt. Die Massen sind weitergezogen zum Paleis Noordeinde und zum neuen Rathaus. Gerüchteweise wurden alle verfügbaren Polizeieinheiten zum Sitz der Königin geschickt.«

»Fahr hin.«

Die Strecke war kein großer Umweg. Schon von Weitem sahen sie den Nachthimmel orangefarben erhellt. Nach ein paar Minuten hatten sie die Gegend um den Palast erreicht. Immer mehr Menschen trieben sich trotz der Kälte auf den Straßen herum. An einer Straßensperre stoppte sie ein Kordon von Polizisten. Bollard wies sich aus.

»Hier ist die Lage ruhig«, erklärte ihm ein Offizier. »Beim Rathaus nicht.«

Sie fuhren weiter, der Himmel wurde immer feuriger. Bald kamen sie zwischen den Menschen nicht mehr weiter.

»Warte hier«, sagte Bollard. »Gib auf den Wagen acht. Ich bin gleich zurück.«

Er stieg aus, drängte zu Fuß weiter, bis er auf den Platz vor dem imposanten Neubau gelangte, auf dem insektengleich Menschen wimmelten. Aus zahlreichen Fenstern des einst weißen Gebäudes schlugen Flammen, verrußten die Fassade, aus anderen fielen Möbelstücke, schlugen krachend auf. Nahe dem Gebäude entdeckte Bollard Uniformierte mit Visierhelmen, hoffnungslos in der Unterzahl gegen den tobenden Mob. Pflastersteine prasselten auf sie nieder, wurden von ihnen zurück in die Menge geworfen. Schüsse fielen. Bollard verfolgte die Schlacht ein paar Sekunden lang, dann lief er zurück zum Auto.

Von Weitem hörte Marie Bollard Schüsse. Sie lag auf der Seite, starrte zum Fenster hinaus in die Dunkelheit mit ihrem seltsamen Rotstich, als flackerten irgendwo Nordlichter. Vor ihr auf der Matratze, neben François’ Kopfkissen, wusste sie die Pistole. Als hinter ihr der Holzboden knarrte und die Tür aufging, tastete sie panisch nach der Waffe. Umklammerte das kalte Eisen, wirbelte herum, erkannte in der Dunkelheit nichts.

»Maman, was ist da draußen für ein Lärm?«, greinte Bernadette verschlafen von der Tür. Mit rasendem Herzen schob Marie Bollard die Waffe unter ihr Kissen.

»Es ist nichts, Schatz«, sagte sie.

»Können wir bei euch schlafen?«, fragte Georges.

»Papa ist schon wieder zur Arbeit«, sagte Bollard. »Kommt her.«

Die Kinderfüße trampelten über das Parkett, ihre kleinen Körper sprangen aufs Bett, kuschelten sich an sie. Bollard rückte in die Mitte, umarmte sie, spürte die harte Waffe unter ihrem Kopf und betete, dass die Kinder sie dort nicht entdeckten.

»Wow«, war alles, was Bollard hervorbrachte.

Gebannt hockte er vor dem Computer und klickte sich durch die RESET-Seite, in die Manzano ihn vor wenigen Minuten eingeführt hatte. Über seine Schultern starrten neben Christopoulos noch zwei seiner Mitarbeiter.

»Sie müssen diese Daten so schnell wie möglich sichern«, forderte Manzanos Stimme am Telefon. »Bevor unser Eindringen entdeckt wird.«

Bollard nickte, in seinem Kopf rotierten die Gedanken. Christopoulos flüsterte er zu: »Informier die IT! Sie sollen sofort damit beginnen.«

Der Grieche klemmte sich hinter das Telefon am Nebenplatz.

»Woher soll ich wissen, dass die echt sind?«, fragte Bollard. Was, wenn der Italiener diese Seite fabriziert hatte, um sie auf eine falsche Spur zu locken? Währenddessen klickte er wahllos durch einige Gespräche. Zum Glück kannte er diese Hackersprache und war einigermaßen in der Lage, die Unterhaltungen zu entziffern.

»Hören Sie auf! Sie sehen doch selbst, welche Mengen das sind. So etwas fingiert man nicht.«

»Wie sind Sie darauf gekommen?«, fragte Bollard.

»Mit etwas Glück. Und Sie werden es kaum glauben, wegen schwerer Nachlässigkeit dieser Typen in puncto Sicherheit. Erkläre ich Ihnen bei Gelegenheit.«

Bollard hörte auf, sich nebenbei durch die Datenbank zu klicken. Er hatte genug gesehen. Wenn das keine Fälschung war, hatte dieser vermaledeite Italiener den Jackpot geknackt.

Bollard war noch immer nicht ganz überzeugt, aber er musste sich eingestehen, dass ihn der Eifer und die Hartnäckigkeit des Mannes beeindruckten. »Ich hörte, Sie wurden angeschossen. Wie geht es Ihnen?«

Kurze Stille am anderen Ende. Dann: »Danke. Es ging mir schon besser.«

Bollard kämpfte mit sich, bevor er herausbrachte: »Wenn diese Plattform hält, was sie verspricht … »

»Ich bin mir ziemlich sicher. Sie brauchen allerdings verdammte Ressourcen, um sie schnell genug zu analysieren. Wen können Sie aktivieren?«

»Alle.«

»Wer ist alle?«

»Von der NSA über die Police nationale bis zum BKA. Alle.« Bollard musste sich noch einmal überwinden, um zu fragen: »Und was ist mit Ihnen?«

Brüssel

»Was soll mit mir sein?«, fragte Manzano.

»Sie sollten dabei sein«, sagte Bollards Stimme aus der Freisprechanlage. Manzano hatte sie aktiviert, damit Angström und Shannon mithören konnten. Sie legten keinen Wert mehr darauf, unauffällig zu bleiben. »Immerhin haben Sie RESET gefunden. Ich schicke Ihnen einen Wagen. In ein paar Stunden sind Sie in Den Haag.«

Manzano glaubte nicht, was er da hörte.

»Ich wurde von der Polizei festgenommen, angeschossen, gejagt, wieder festgenommen, bin daraufhin heute Nacht im Gefängnis – wenn man diesen Ort so nennen kann – fast umgebracht worden und verbrannt. Wer sagt mir, dass Sie mich nicht direttamente den CIA-Schergen ausliefern? Verlangen Sie wirklich, dass ich Ihrem Verein noch traue?«

Stille.

»Versuchen Sie es«, bat Bollard.

McLean

»Woher haben Sie das?«, fragte Richard Price noch einmal ungläubig.

Elmer Shrentz war mit den Unterlagen direkt zum stellvertretenden Direktor des National Counterterrorism Centre gegangen. Seit dem Beginn der Stromausfälle in den USA hatten sie im Liberty Crossing, einem Komplex in McLean, nicht weit entfernt vom ungleich bekannteren Headquarter der CIA in Langley, kein Auge zugetan. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 im Jahr 2003 gegründet bündelte das NCTC Informationen verschiedenster Behörden, von der CIA über das Transportministerium bis zur Nuclear Regulatory Commission, um Terrorangriffe besser verhindern zu können.

Trotzdem hatte es sie wieder erwischt. Und sie hatten nicht die leiseste Ahnung gehabt.

»State Department, Defense Department, Weißes Haus.«

»Alle drei?«

»Die Europäer haben die verschiedensten Kanäle verwendet. Abhörgesichert. Sie wollten sichergehen, dass wir die Informationen erhalten. So schnell wie möglich.«

»Haben wir schon analysiert?«

»So weit, dass wir an die Authentizität glauben.«

»Und da steht alles drin?«

»Scheint so. Wir müssen es nur finden und zusammensetzen. Alle gemeinsam.«

Ratingen

»Deshalb hat Europol einen Plan vorgeschlagen, wer was analysieren soll«, erklärte der Leiter des Berliner Terrorismusabwehrzentrums Hartlandt über das Satellitentelefon persönlich. »Dazu brauchen wir jeden verfügbaren Mann. Und jede Frau. Legen Sie die SCADA-Sache bei Talaefer auf Eis. Wir schicken Ihnen ein Bündel Daten, das Sie sich sofort vornehmen müssen.«

»Woher hat Europol die Daten?«

»Dieser Italiener hat sie entdeckt, den Sie … na, ich will nicht in offenen Wunden bohren.«

Hartlandt stieß einen stummen Fluch aus. Er wusste nicht, worüber er sich mehr ärgerte. Dass dieser Manzano die Infos gefunden oder dass er selbst ihn vertrieben hatte, statt mit ihm zusammenzuarbeiten.

»Wir brauchen die Ergebnisse in zwei Stunden.«

Brüssel

So hat er mich noch nie umarmt, dachte Shannon, als sie beobachtete, wie Manzano sich von Angström verabschiedete. Sie spürte einen kleinen Stich Eifersucht, obwohl sie nicht sicher war, was sie von Manzano erwartete. Gemeinsam hatten sie so viel durchgemacht.

Manzano löste sich von der Schwedin. Ein Beamter erwartete ihn bei dem SUV, der direkt vor dem Kommissionsgebäude parkte.

»Ich brauche keinen Fahrer«, versuchte Manzano, die Kontrolle über die Fahrt zu übernehmen. Noch traute er Bollard nicht wirklich, wusste Shannon.

Der Mann war Mitte dreißig, gut trainiert. Er zeigte auf Manzanos Bein.

»Sie sind verletzt, heißt es. Ich soll auf Sie aufpassen …«

Warum sollte er auf ihn aufpassen? Damit er nicht wieder floh? Oder drohte ihm Gefahr?

»Von einem, der nicht verkehrstüchtig ist, lasse ich mich nicht fahren«, erklärte der Mann.

Shannon kletterte auf die Rückbank, Manzano setzte sich zu ihr. Sein Begleiter nahm auf dem Fahrersitz Platz. Aus einer Tasche zog er vier Sandwiches und zwei große Wasserflaschen und reichte ihnen die Pakete nach hinten.

»Mit besten Grüßen von Monsieur Bollard«, sagte er und forderte: »Anschnallen, bitte. Auch wenn auf den Straßen wenig los ist.«

Ein Beamter, der seine Pflicht tat, dachte Shannon. Egal, worin diese bestand. Soll mir recht sein. Sie riss die Verpackung der Sandwiches auf.

»In dieser Tasche hier vorn ist auch frische Kleidung für Sie«, sagte der Mann. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Sie können Sie gebrauchen.«

Manzano fragte sich, was frische Kleidung ohne Dusche nützen sollte. Sollte der Typ doch die Lüftung einschalten, wenn ihm die Luft nicht passte. Aufmerksam verfolgte er jede Bewegung des Fahrers, während der sie durch die Straßen der belgischen Hauptstadt kutschierte. Nach wie vor hockte tiefes Misstrauen in seinen Eingeweiden. Die Kindersicherung des Wagens war nicht aktiviert, wenn er an einer Kreuzung langsamer wurde, hätte er hinausspringen können, auch wenn er nicht weit gekommen wäre.

Sie passierten eine Straße, die von den Metallgerippen ausgebrannter Autos gesäumt war. Aus den verbliebenen Müllresten, die über die ganze Fahrbahn verstreut lagen, stiegen immer wieder schwarze Rauchwolken. Auch ein paar Häuser in der Straße waren den Flammen zum Opfer gefallen.

»Was ist hier passiert?«

»Es wird unruhiger«, erwiderte ihr Chauffeur lakonisch. Er versuchte, einen Radiosender einzufangen, erntete jedoch nur statisches Rauschen. Neben Polizeipatrouillen entdeckte Manzano auch welche, die wie Militär aussahen, zweimal kam ihnen ein Panzerwagen entgegen. Sehr unruhig, dachte Manzano. Er sah keine Straßenschilder, die den Weg nach Den Haag wiesen. Vielleicht nahm der Fahrer eine unübliche Route. Oder die Stadt war schlecht ausgeschildert. In seine Glieder kroch die Müdigkeit. Er legte den Kopf zurück, um sich kurz auszuruhen.

Den Haag

Marie Bollard schreckte hoch, als sie die Schüsse ganz nah hörte. Sie sah die fragenden Blicke der Kinder. Georges wollte zum Fenster.

»Bleib hier!«, rief sie, hörte die Panik in ihrer Stimme. »Geht da nach hinten, an die Wand!«, befahl sie. Von draußen klangen Rufe, Schreie, Trampeln. Sie hastete in den ersten Stock. In der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks hatte sie die Pistole vergraben. Vorsichtig näherte sie sich dem Fenster, wagte einen Blick hinaus. Vor dem Haus war niemand zu sehen außer einem Hund, der mit seiner Schnauze im Müll stöberte.

»Maman?«, hörte sie Bernadette von unten rufen.

»Bleibt, wo ihr seid!«

Sie schaute die Straße hinunter, links, rechts. Dort liefen ein paar Polizisten hinter einem Rudel anderer Personen her, verschwanden hinter der nächsten Ecke.

Bollards Puls beruhigte sich nur langsam. Sie ließ die Waffe, wo sie war, und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ich darf mich nicht verrückt machen, dachte sie dabei ein ums andere Mal, ich darf mich jetzt nicht verrückt machen.

In einigen Straßen Den Haags bot sich Manzano dasselbe Bild wie bei der Abfahrt aus Brüssel. Verbrannte Autos und Häuser, rauchender Müll.

»Wohin fahren wir?«, fragte er ihren Chauffeur.

»Das Hotel wurde inzwischen besetzt«, antwortete der. »Sie werden in einem provisorischen Quartier bei Europol untergebracht.«

Auf den Straßen um das Gelände patrouillierten Panzerwagen.

»Sind das Schüsse?«, fragte Shannon, als es in der Ferne knallte.

»Gut möglich«, entgegnete der Fahrer.

Um zum Gebäude vorzudringen, mussten sie eine Sperre passieren, die von schwer bewaffneten Militärs bewacht wurde.

»Das sieht hier ja aus wie im Krieg«, bemerkte Shannon.

»So ähnlich ist es ja auch«, betonte der Fahrer.

Am Gebäudeeingang wurden sie von Polizisten mit schusssicheren Westen und Visierhelmen kontrolliert. Der Chauffeur führte sie auf die dritte Etage in ein verwaistes Büro. Acht Klappbetten wiesen es als das angekündigte provisorische Quartier aus. Auf sechs davon waren die Decken und Schlafsäcke notdürftig gerichtet. Zwei wirkten unberührt. Darauf lagen auf einem Stapel sorgfältig zusammengelegt je zwei Hosen, zwei Hemden, zwei Pullover und eine Daunenjacke.

»Für Sie.«

Shannon strich mit der Hand über die Decke, legte sich dann eine Hose an, um zu sehen, ob sie passte.

»Duschen können Sie in den Waschräumen am Ende des Flurs«, erklärte der Fahrer. »Herr Bollard erwartet Sie dann im Einsatzzentrum. Wo das ist, wissen Sie ja noch«, sagte er zu Manzano. »Bis später.«

Kommandozentrale

Die Algorithmen selektierten die überwachte Kommunikation zwar bereits nach Stichwörtern, doch obwohl der Umfang in den vergangenen Tagen zurückgegangen war, konnten sie nur einen Bruchteil davon wirklich genauer prüfen. Deshalb hatten sie die E-Mail erst jetzt entdeckt. Sie war schon vier Tage alt. Verschickt hatte sie das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Berlin bereits am vergangenen Samstag zumindest an Europol und Interpol. Es forderte die Behörden auf, die Identität eines Mannes herauszufinden, der möglicherweise in Verbindung mit Hermann Dragenau gestanden hatte. Im Anhang fand sich ein Gruppenfoto von der Konferenz 2005 in Schanghai. Sein Gesicht am Rand des Bilds war mit einem Stift markiert worden.

Wenn ihnen die Identifikation gelang, hätten sie einen ersten Anhaltspunkt, nach wem sie suchen mussten. Er konnte sich vorstellen, wie überall auf der Welt die Maschinerien der Nachrichtendienste auf Hochtouren zu arbeiten begonnen hatten.

Fieberhaft hatten sie die überwachte Korrespondenz der Folgetage mit den passenden Stichwörtern durchsucht. Nach ein paar bangen Stunden des Wartens gab Birabi Entwarnung. Sie hatten überhaupt nur eine Handvoll weitere Mails zu dem Thema gefunden, wovon die meisten lediglich den Empfang der Anfrage bestätigten, nicht jedoch ein Ergebnis. Trotzdem würden sie ab jetzt aufmerksamer sein müssen. Sie waren noch lange nicht am Ziel.

Den Haag

»Was macht sie hier?«, fragte der Europol-Mann und zeigte auf Shannon.

Statt einer Antwort ging Manzano zum Fenster und sah über die Stadt. An mehreren Stellen stiegen dicke Rauchsäulen hoch. Aus der Ferne hörte er die Sirenen von Einsatzfahrzeugen, das Knattern der Hubschrauber, die das Bild kreuzten.

»Ohne sie hätten wir meinen Laptop nicht bekommen und RESET nie gefunden«, antwortete er endlich.

Bollard kniff die Augen zusammen, mahlte mit den Kiefern.

»Aber keine Berichte«, forderte er.

»Ehrenwort«, schwor Shannon. »Nicht bevor Sie es gestatten.«

Sie flüsterte Manzano zu: »Aber ich bräuchte dringend eine Ausrüstung. Kameras, einen Laptop.«

»Wir brauchen Laptops«, forderte Manzano von Bollard. »Und sie bekommt eine Kamera.«

Er merkte, dass Bollard knapp davor war zu explodieren, aber er fand, dass sie solche Ansprüche stellen durften.

Bollard warf ihnen einen verärgerten Blick zu, dann fauchte er: »In Ordnung, ich lasse Ihnen die Geräte zukommen. Aber es bleibt dabei, keine Berichte.«

Shannon nickte eifrig, bestätigte: »Erst wenn Sie Ihre großartige Arbeit in der Öffentlichkeit dokumentiert sehen wollen.«

»Verarschen Sie wen anderen«, entgegnete Bollard.

»Wie weit sind Sie mit RESET?«, wechselte Manzano das Thema.

»Die Daten sind mittlerweile bei Interpol, der NATO, dem Secret Service, der NCTC und einigen anderen«, erklärte Bollard. »Wir haben die Analyse aufgeteilt.«

In dem Besprechungsraum saßen zwei Dutzend Männer vor Computern. Hinter einen stellten sich Bollard, Manzano und Shannon.

»Nach welchen Parametern?«, fragte Manzano.

»Verschiedene. Zum Beispiel Suchbegriffe. Wir fanden Chats, in denen es offensichtlich um Zero-Days ging.«

»Was ist denn das schon wieder?«, fragte Shannon.

»Das sind Verwundbarkeiten in Systemen und Programmen, von denen der Hersteller selbst nichts weiß und gegen die deshalb auch kein Schutz existiert«, erläuterte Manzano.

»Außerdem suchen wir nach den verschiedenen Benutzern«, fuhr Bollard fort. »Deren Gespräche filtern wir wiederum nach bestimmten Begriffen. Und so weiter.«

»Begriffe«, sagte Manzano. »Haben Sie nach mir auch schon gesucht?«

»Klar«, sagte Bollard, »als einer der Ersten. Und haben Sie etwas gefunden?«

Der Mann an der Tastatur klapperte darauf herum, und auf dem Bildschirm erschien ein Text.

6, 11:24 GMT

tancr: Sieht aus, als wäre der Italiener den Deutschen entwischt.

b.tuck: Aber er steht noch unter Verdacht?

tancr: weiß nicht, denke ja.

b.tuck: hat uns genug geärgert.

tancr: na ja. Irgendwann musste ja jemand dahinterkommen. In I, in D.

»Der Italiener«, sagte Manzano, »das bin ich. Und die Deutschen, das ist dieser Hartlandt.«

»Es gibt noch mehr«, sagte Bollard.

4, 9:47 GMT

b.tuck: Wer ist der Typ?

tancr: keine ahnung. ich recherchier mal.

»Und, was hat er herausgefunden? Das würde mich jetzt doch interessieren«, meinte Manzano.

Bollard nickte, und sein Mitarbeiter rief ein anderes Gespräch auf.

5, 10:11 GMT

b.tuck: Habe jetzt mehr über den Italiener.

Piero Manzano, seit Ewigkeiten Hacker. Nach dem Record könnt es ›towind‹ sein.

Manzano wurde mulmig. Die Typen waren gut informiert über die Szene. Mit seiner Vermutung hatte dieser B.tuck recht. »Towind« war eines von Manzanos Pseudonymen gewesen, das er allerdings seit einigen Jahren nicht mehr verwendete.

Teilgenommen an Mani-pulite-Demos in den 90ern. War 2001 auch in Genua. Hey, der könnte einer von uns sein. Kennt ihn wer?

tancr: Nein

Der könnte einer von uns sein? Manzano spürte, wie er rot anlief. Am Ende dachte Bollard doch noch, er gehörte zu diesen Verrückten.

»Da ist noch eines«, sagte Bollards Mann.

5, 13:32

tancr: der Italiener nervt. Tippt auf Talaefer. Würde ihm gern ein Ei legen.

b.tuck: welches?

tancr: fake mail

b.tuck: ok

»Danke!«, rief Manzano erleichtert und blickte Bollard triumphierend an. »Ich hoffe, das überzeugt Sie endgültig von meiner Unschuld.«

»Wenn Sie dazugehören«, erwiderte Bollard, ohne das Gesicht zu verziehen, »können Sie das von Ihren Kumpanen inszeniert haben lassen.«

Manzano stöhnte auf. »Glauben Sie denn noch irgendjemandem?«

»Nein.«

Paris

»Macht schon«, rief Blanchard verärgert. Auf der Übersichtstafel im Centre National d’Exploitation Système bildeten zwar mehr grüne Linien Inseln im roten Netz Frankreichs, aber nicht so viele, wie er gehofft hatte.

»Wir haben schon fast vierzig Prozent des Versorgungsgebiets wieder am Netz«, berichtete er Tollé. »Bei ersten kleineren Inseln sind uns bereits Synchronisationen geglückt. Wenn das so weitergeht, haben wir bis morgen fast das ganze Land unter Strom.«

»Haben Sie das nicht schon gestern für heute angekündigt? Was ist mit Cattenom und Tricastin?«, fragte der Sekretär des Präsidenten.

»Hm, na ja …«

»Soll das heißen …?«

»Die beiden Anlagen stehen für eines der größten Probleme«, sprang ihm Proctet bei. »In insgesamt zwölf der achtundfünfzig französischen Reaktoren kam es zu leichteren oder schwereren Zwischenfällen. Noch nicht mitgezählt dabei ist Saint-Laurent Block 1.«

Für einen Moment herrschte Stille.

»Das heißt, wir müssen in den kommenden Tagen zum Teil noch mit instabilen Netzsituationen rechnen. Vielleicht kommt es in manchen Regionen zeitweise erneut zu Ausfällen. Die sollten dann aber höchstens ein paar Stunden andauern.«

»In Cattenom und Tricastin droht der GAU, und Sie reden hier nur dumm herum!«, explodierte Tollé. »Dort bleiben vielleicht noch vierundzwanzig Stunden bis zur endgültigen Katastrophe!«

Den Haag

»Was mich interessieren würde«, sagte Manzano, »ist, wie die Typen überhaupt auf die Idee kamen, die E-Mails auf meinem Laptop zu platzieren, und woher sie wussten, dass ich zu Talaefer unterwegs war.«

Bollard musterte ihn. »Nachdem Sie bei Hartlandt darauf bestanden, dass die Informationen aus unserem Haus kommen mussten, überprüften unsere IT-Leute sicherheitshalber unser System.«

»Ihre IT-Leute haben etwas in den Europol-Systemen gefunden?«

Bollard war es sichtlich peinlich zuzugeben: »Sie fanden Programme, die auf den meisten unserer Computer den E-Mail-Verkehr mitlesen, aber auch Kameras und Mikrofone aktivieren konnten.«

»Na, Ihr Sicherheitsbeauftragter möchte ich nicht sein …«

»Ich auch nicht. Und auch nicht jener der deutschen, französischen, britischen und anderer Regierungen beziehungsweise Krisenstäbe. Wie es scheint, sind die Typen überall eingedrungen und lasen, sahen und hörten alles mit.«

»Sahen, hörten, lasen – tun sie jetzt nicht mehr?«

Sie schraken hoch, als sie von draußen Schüsse hörten. Liefen zum Fenster.

»Kommen die jetzt auch hierher?«, murmelte Shannon. Auf der Straße war niemand zu sehen.

»Die Verantwortlichen in den Staats- und Organisationsspitzen beschlossen, vorerst nichts gegen die Infiltration zu unternehmen«, fuhr Bollard fort. »Allerdings wird nun doppelt kommuniziert. Wichtiges und Geheimes läuft ausschließlich über spezielle Kanäle und wird nicht mehr in der Nähe angezapfter Computer besprochen.«

»Na, ob das durchgehalten werden kann …«

»Über die abgehörten Medien dagegen können wir Falschmeldungen verbreiten, die die Angreifer in die Irre führen könnten.«

»Social Engineering auf breiter Basis. Hm …«

»Sozusagen.«

»Zu aufwendig. Wenn die Typen clever sind, bemerken sie irgendwann die Änderungen in den Kommunikationsmustern. Hängt von der Analysesoftware ab, die sie wahrscheinlich dahintergehängt haben. Wenn die so viele Systeme angezapft haben, wie Sie sagen, können sie die verschiedenen Kommunikationen, die noch dazu teilweise in verschiedenen Sprachen laufen, nicht mehr von Menschen verfolgen lassen. Dazu bräuchten sie viel zu viel Personal.«

»Das nehmen wir auch an«, sagte Bollard. »Vermutlich scannen Softwareprogramme die Gespräche im Hintergrund auf vordefinierte Stichwörter und Formulierungen. Wenn sie welche davon aufspüren, spucken sie selbstständig Warnungen aus.«

»Das ist nicht einmal so aufwendig«, meinte Manzano. »Die NSA und andere machen das seit Jahren weltweit. Der einzige Vorteil ist, dass solche Algorithmen eher dafür geschrieben sind, etwas Bestimmtes zu suchen als etwas zu vermissen.«

Paris

Die Direction centrale du renseignement intérieur, der französische Inlandsgeheimdienst, hatte ihr Hauptquartier in der Pariser Vorstadt Levallois-Perret. Direktor Jacques Servé persönlich hatte die Koordination der Datenanalyse übernommen. Er hatte François Bollard bei ein paar formellen Anlässen getroffen, ohne ihn näher kennengelernt zu haben. Als Mitarbeiter von Europol in Den Haag hatte er sich für eine weitere Karriere in Paris eigentlich ins Abseits geschossen, auch wenn er das Gegenteil dachte. Mit dieser Aktion allerdings hatte er seinen Namen womöglich ganz oben auf die Liste zurückkatapultiert. Zum Glück hatte sich Servés Behörde in den vergangenen Jahren umfangreiches Wissen zu Cyberwar, Cyberkriminalität und -terrorismus angeeignet. Als die Daten aus Den Haag aufgetaucht waren, konnten sie sofort mit einer umfassenden Analyse beginnen.

Louis Peterevsky präsentierte gerade erste Erkenntnisse, warf Screenshots von Chat-Dialogen aus RESET an die Wand.

»Diese Unterhaltung etwa ist gut drei Jahre alt«, erklärte Peterevsky. »Einer der drei Teilnehmer taucht sehr häufig auf. Die beiden anderen Namen seltener. Wir vermuten, dass sie nicht direkt zum inneren Kreis der Angreifer gehören, sondern externe Zulieferer sind. Es geht dabei um Teile einer Software, die vermutlich die Zentralen einiger Netzbetreiber manipuliert. In der Folge haben wir RESET nach diesen neuen Nicknames gescannt und zahlreiche weitere Unterhaltungen gefunden. Sie bestärken die Annahme, dass es sich bei den beiden um kriminelle Hacker handeln dürfte, die man für derlei Aufträge anheuern kann.«

»Kommen wir an die dran?«, fragte Servé.

»Wahrscheinlich nicht, zumindest nicht so schnell. Aber allein der Inhalt der Gespräche ist äußerst aufschlussreich. Vor allem führt er uns zu weiteren« – Peterevsky spielte neue Screenshots ein –, »und gemeinsam beginnen sie ein Bild zu formen. Was wann wo in die verschiedenen Systeme eingeschleust wurde. Hier zum Beispiel diskutieren sie die verschiedensten Methoden dafür, etwa die, in der eine E-Mail an Angestellte eines Netzbetreibers geschickt wird, die so aussieht, als sei sie versehentlich an den Adressaten gelangt. Absender ist die gekaperte E-Mail-Adresse einer Mitarbeiterin aus der Personalabteilung. Bei einigen Mails fand sich im Anhang etwa ein Dokument mit der Bezeichnung ›personell_cut‹. Oh, denkt sich der ahnungslose Empfänger, ist das womöglich die Liste mit den nächsten Kündigungen? Natürlich will er sehen, ob er draufsteht. Er öffnet das Dokument, und – schwups – installiert sich die im Hintergrund eingebaute Schadsoftware auf seinem Desktop.«

»Wieso hat das Virenschutzsystem nicht Alarm geschlagen?«

»Der Virenschutz entdeckt nur, was er bereits kennt. Wahrscheinlich haben die Angreifer Zero-Day-Verwundbarkeiten genutzt. Davor waren wir nicht geschützt.«

»Die längst bekannten und doch immer noch wirkungsvollen Methoden«, stellte Servé fest.

»Ja. Im Detail müssen wir uns das noch ansehen, aber praktisch alle Angriffsschritte wurden über diese Plattform diskutiert und geplant. Sicherheitstechnisch eine schwache Leistung, muss man sagen. Diese Leute müssen sich unangreifbar fühlen.«

»Oder es ist ihnen gleichgültig«, warf ein Kollege ein.

»Kann auch Größenwahn sein«, vermutete Peterevsky. »Kennst doch unsere Kollegen von der dunklen Seite, die haben eine Tendenz dazu.«

»Nicht nur die«, antwortete der Angesprochene.

Den Haag

Manzano sah keinen Sinn darin, noch selbst in die Analyse von RESET einzusteigen. Tausende hochqualifizierte Spezialisten auf der halben Welt kümmerten sich darum. Irritiert hatte ihn Bollards Bemerkung, dass Talaefer in seinen SCADA-Systemen nichts gefunden haben wollte. Deshalb hatte er sich in einen ruhigeren Raum zurückgezogen und studierte die Fehlerberichte der Kraftwerke, die bei Talaefer mittlerweile eingetroffen waren.

Trotz seiner lückenhaften Kenntnisse und ohne sich in die Fachanhänge vertieft zu haben, hatte Manzano nach einer Stunde grundsätzlich verstanden, was geschehen war. In praktisch allen betroffenen Kraftwerken war es zu zahlreichen Fehlermeldungen gekommen. Und noch eine Parallele fiel ihm auf: In vielen Fällen wollte jemand im Generatorraum etwas anderes beobachtet haben als die Personen in der Leitstelle.

Das konnte immer noch viele Gründe haben.

»Wirst du nie müde?«, fragte Shannon.

Den ganzen Tag hatte er sie beobachtet, wie sie den Männern über die Schultern schaute, die Übersichtswand studierte, filmte und fotografierte. Bollard hatte seinen Segen erteilt, nachdem Manzano ihm noch einmal eindringlich Shannons Rolle bei der Entdeckung von RESET verdeutlicht hatte. »Vielleicht sogar eine ganz gute Idee«, hatte der Franzose gemeint, »wenn jemand dokumentiert, wie wir arbeiten.«

Manzano streckte sich, spürte, wie seine Gelenke knackten. Sie hatte recht, er brauchte eine Pause.

»Kaffee?«, fragte Shannon.

Gemeinsam gingen sie in die kleine Küche ein paar Türen weiter. An den Tischen saßen zwei Europol-Männer mit müden Gesichtern, vor sich dampfende Tassen.

Manzano holte sich eine Kaffeekapsel und steckte sie in das Gerät. Er pries das Notstromsystem, das Europol diesen Luxus auch weiterhin erlaubte. Er mochte zwar diese neumodischen Maschinen nicht, in die man den Kaffee schon in handlich verpackte Kapseln steckte, aber besser als nichts waren sie allemal. Und praktisch auch, das konnte er nicht leugnen. Kapsel rein, Knopf drücken, fertiger Kaffee kam raus. Eigentlich ein Computer, der Kaffee kochen kann, dachte er und steckte eine Kapsel für Shannon ins Gerät.

»Klein, aber stark«, bat sie.

Er drückte erneut, wartete, reichte ihr die Tasse. Ein rotes Licht zeigte, dass der Behälter für gebrauchte Kapseln voll war und geleert werden musste. Manzano zog das Fach heraus und stellte fest, dass nur ihre zwei Kapseln darin lagen. Trotzdem nahm er sie heraus, schob den Behälter zurück, nahm seinen Kaffee, und sie setzten sich an den Tisch zu den beiden Männern.

Manzano saß kaum, da stand er wieder auf und nahm die Kaffeemaschine noch einmal in Augenschein. Das rote Lämpchen leuchtete weiterhin, obwohl er den Behälter doch geleert hatte. Manzano zog ihn erneut heraus und schob ihn noch einmal hinein. Das rote Lämpchen blinkte nach wie vor. »Die Anzeigen«, flüsterte er. »Womöglich sind es die Anzeigen.«

»Was murmelst du da?«, fragte Shannon.

Manzano kippte seinen Kaffee mit einem Schluck hinunter: »An den Fehlermeldungen sind vielleicht nur die Anzeigen schuld!«

»Welche Anzeigen?«

»In der SCADA-Software.«

»Und das hat dir die Kaffeemaschine gesagt?«

»Genau.«

Madrid

blond

tancr

sanskrit

zap

erzwo

cuhao

proud

baku

tzsche

b.tuck

sarowi

simon

»Diese zwölf Nicknames führen mit Abstand die meisten Unterhaltungen miteinander«, erklärte Hernandez Durán, stellvertretender Leiter der Abteilung für Cyberkriminalität und -terrorismus in der Brigada de Investigación Tecnológica in Madrid, den Anwesenden. »Einige sind eindeutig wie Blond oder Erzwo. Der ist wohl ein Star-Wars-Fan. Interessant finden wir Proud, Zap, Baku, Tzsche, B.tuck und Sarowi.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause, bevor er fortfuhr. »Der Kollege Belguer hat eine interessante These dazu, die vor allem über das Motiv Auskunft geben könnte. Proud, Zap, Baku, Tzsche, B.tuck könnten – mit Betonung auf dem Konjunktiv – Abkürzungen von Namen sein. Und zwar Proudhon, Zapata, Bakunin, Nietzsche und Benjamin Tucker.«

Die Machtübernahme durch das Militär hatte ihre Arbeit bislang zum Glück nicht behindert. Auch wenn jeder im Raum Angst vor den Konsequenzen hatte. Immerhin bestand zum ersten Mal eine leise Hoffnung, dass sie den Urhebern der Katastrophe auf die Spur kamen.

»Zapata und Nietzsche sagen mir etwas«, warf einer der Zuhörer ein. »Von den anderen habe ich zwar schon gehört, aber …«

Zu Beginn hatten nur IT-Forensiker die Daten analysiert. Sehr bald hatten sie andere Fachleute hinzugezogen. Bis der Soziologe Belguer mit seiner These gekommen war.

»Pierre-Joseph Proudhon«, erklärte Durán, »war ein Franzose aus dem neunzehnten Jahrhundert und gilt als der erste Anarchist. Zum geflügelten Wort wurde sein Satz ›La propriété c’est le vol‹ – ›Eigentum ist Diebstahl‹. Michail Bakunin, ein russischer Adliger, war ebenfalls ein einflussreicher Anarchist im neunzehnten Jahrhundert. Benjamin Tucker gehörte schon zur nächsten Generation. Der Amerikaner übersetzte und verlegte die Schriften Proudhons und Bakunins. Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war er eine der wichtigsten Persönlichkeiten der anarchistischen Szene in den USA

»Revolutionäre, Anarchisten«, stellte ein anderer fest. »Wenn die These stimmt. Was mir nicht ganz abwegig erscheint, wenn ich mir ansehe, was sie angerichtet haben.«

Berlin

»Endlich gute Nachrichten.«

Michelsen fragte sich, ob sie ebenfalls in den vergangenen zehn Tagen um zehn Jahre gealtert war wie ihr Gegenüber.

»Nur teilweise«, korrigierte die Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und zeigte auf den Monitor mit den grünen und roten Linien. »Erste Netzbetreiber haben zwar ihre Leitzentralen und Server wieder im Griff. Leider nicht jene, in deren Gebiet die Kernkraftwerke Philippsburg, Brokdorf, Gundremmingen und Grohnde stehen. Der Zustand in Philippsburg ist unbekannt, vermutlich ist eine größere Anzahl von Brennelementen im Abkühlbecken geschmolzen. Die Evakuierung im Umkreis von fünf Kilometern wurde eingeleitet, auch wenn noch keine gesundheitsschädlich hohen Strahlungswerte gemessen wurden. Der Betreiber von Brokdorf gibt an, dass sich die Lage verbessert hat, nachdem die notwendigen Ersatzteile für die Notdieselaggregate eingeflogen wurden. In Gundremmingen konnte bislang mittels improvisierter Notkühlsysteme eine Kernschmelze wahrscheinlich verhindert werden.«

»Aber Sie wissen es nicht«, bemerkte Rhess.

Die Ministerin schüttelte den Kopf.

»Außer bei Brokdorf wurde keine erhöhte Radioaktivität in der Umgebung gemessen.«

»Und Grohnde?«

»Macht uns am meisten Sorgen. Das einzige noch halbwegs funktionstüchtige Notstromsystem fällt immer wieder aus. Welche Folgen das für den Reaktor hatte, weiß man nicht. Anzunehmen ist, dass er sich in einer kritischen Situation befindet. Wenn das letzte Notstromsystem endgültig ausfällt …«

»Wie lange können sie die Reaktoren noch kontrollieren?«, fragte Michelsen.

»Die Betreiber behaupten, die Lage im Griff zu haben«, sagte die Ministerin. »Einige Experten bei uns im Haus glauben dagegen, dass es vielleicht nur noch ein, zwei Tage gut gehen kann. Bei Grohnde im schlimmsten Fall sogar nur noch ein paar Stunden.«

»Was wissen wir von den Vorfällen in den Justizvollzugsanstalten?«, fragte der Bundeskanzler.

»Die rheinland-pfälzische Regierung hat seit gestern keinen Kontakt zur JVA in Trier«, gestand der Justizminister. »Sie wissen nicht, ob der Massenausbruch gestoppt werden konnte. Definitiv den Ausbruch so gut wie aller Häftlinge melden die JVAs Waldheim, Schwerte, Fuhlsbüttel, Neuburg-Herrenwörth und Rottweil.«

»Wie viele Kriminelle sind das?«

»Kann ich nicht genau sagen«, musste der Minister zugeben.

»Aus Dresden kommt die Nachricht, dass aufgebrachte Bürger das sächsische Landtagsgebäude gestürmt und versucht haben, den Krisenstab abzusetzen. Es kam wohl zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, der mehrere Menschen zum Opfer fielen. Die Anzahl der Toten ist noch nicht bekannt.«

Sein Blick erstarrte. Dann, ohne ihn von dem zu nehmen, was er gesehen hatte, stand er auf, ging zum Fenster, das direkt über der Spree lag. Neugierig folgten ihm die anderen.

Michelsen traute ihren Augen nicht. Am gegenüberliegenden Holsteiner Ufer wanderte hinter den blattlosen Bäumen eine Giraffe mit zwei Jungtieren. Der Anblick der würdevoll schreitenden Tiere versetzte sie alle in einen überraschenden Moment der Besinnung. Schweigend verfolgten sie den Weg des eigenartigen Trios, bis es verschwand.

»Was war das jetzt?«, fragte der Innenminister.

»Die Tiere aus dem Zoo«, entgegnete Staatssekretär Rhess. »Der ist ja nur zweieinhalb Kilometer entfernt. Und kaum einer passt noch auf sie auf.«

»Alle Tiere?«, fragte jemand. »Löwen, Tiger?«

»Ich fürchte«, murmelte Rhess.

Ratingen

»Da«, sagte Dienhof. »Keine Ahnung, wie die Typen von Europol darauf gekommen sind, aber sie haben recht. Nach einer Widget-Datei in Standardbibliotheken sollten wir suchen, haben sie gemeint …«

Wickley wusste nicht, ob er dieses Gefühl schon einmal erlebt hatte. Er kam sich vor, als würde er in einen Abgrund starren, hinter ihm ein Rudel Kampfhunde im Blutrausch.

»Wir haben den Code vor einer halben Stunde entdeckt. Der Einfachheit halber haben wir ihn in Pseudocode übersetzt. Damit jeder versteht, was gemeint ist.«

»Sehr zuvorkommend«, bemerkte Wickley in einem Ton, der Dienhof zu verstehen gab, dass er auch den Originalcode verstanden hätte. Was nicht der Fall war. Aber den Kompetenzanschein musste er als Vorstandsvorsitzender wahren.

Er musste sich ein wenig nach vorne beugen, um die besagten Zeilen lesen zu können.

nach dem Stichtag und in allen Zeitzonen

wenn Uhrzeit = 19:23 + (Zufallszahl zwischen 1 und 40)

für 2 % aller Objekte,

ändere Objektstatus auf anderen Wert,

zeige die entsprechende andere Farbe an,

kommuniziere die Statusänderung an das aufrufende Programm zurück.

»Das heißt«, erklärte Dienhof, »dass …«

»… mittels Zufallsprinzip immer wieder Anzeigen in der Leitstelle einen Fehler melden, der gar nicht vorhanden ist«, vollendete Wickley die Erklärung. »Das«, flüsterte er weiter, »ist perfide.«

In seinem Kopf rasten die Überlegungen, wie er weiter vorgehen sollte. Wenn das stimmte, was Dienhof ihm zu erklären versuchte, war Talaefer einer der Hauptverantwortlichen für die Katastrophe da draußen.

»Das ist es tatsächlich«, bestätigte Dienhof. »Die falschen Anzeigen stören die Maschinen nämlich an sich nicht. Denn die funktionieren ja korrekt weiter. Die Kraftwerke könnten also problemlos in Betrieb gehalten werden. Wer das implementiert hat, spekuliert auf die kritischste Schwachstelle des Systems …«

»… den Menschen.«

Insgeheim zollte Wickley dem Urheber dieser winzigen Änderung seinen Respekt. Hier hatte jemand verstanden, worum es ging. Ein richtig kluger Kopf. Diabolisch klug.

»Das heißt, das Kraftwerk läuft einwandfrei, aber …«

»… das Personal in der Leitstelle bekommt eine Fehlermeldung«, sagte Dienhof.

»Zum Beispiel, dass die Drehzahl der Generatoren zu niedrig ist. Obwohl sie es nicht ist. Daraufhin ergreifen sie Maßnahmen, um die Drehzahl zu erhöhen.«

Dienhof nickte.

»Nun laufen die Generatoren schneller, als sie sollten«, fuhr Wickley fort, »im schlimmsten Fall zerstören sie sich selbst, es kommt zu Spannungsschwankungen bis hin zum Stromausfall.«

Dienhof ergänzte: »Aber es genügt natürlich bereits, die Anzeige von ein paar Ventilen zu manipulieren, um das Personal in Verwirrung zu stürzen und sie das Falsche machen zu lassen.«

Je länger Wickley darüber nachdachte, desto beeindruckter war er. Wer immer diesen Schadcode eingebracht hatte, erzielte mit minimalem Aufwand maximale Wirkung. Und konnte sich dabei sogar noch einreden, dass er eigentlich gar nichts wirklich Schlimmes machte. Nur ein paar Lämpchen verkehrt aufleuchten ließ. Den tatsächlichen Schaden richteten erst die Kraftwerksfahrer an, die aufgrund der fehlerhaften Anzeige das Gegenteil von dem unternahmen, was richtig war.

»Wissen die Leute vom BKA schon darüber Bescheid?«

»Ich sollte zuerst Sie informieren.«

»Das war richtig. Ist dieser Programmteil bei allen Kraftwerken, von denen wir Meldungen bekommen haben, die Ursache der Probleme?«

»Bis jetzt haben wir die modifizierte Unterroutine in fünf unserer SCADA-Systeme gecheckt. Wir haben sie in jedem gefunden. Würde mich nicht wundern, wenn wir den Bug in den anderen auch entdecken.«

»Aber wie kommt der da überhaupt hin? Und durch wen?«

»Das sollten die Logs unserer Quellcode-Verwaltung beantworten können. Falls es nicht schon zu lange her ist.«

»Und wie konnte er sich durch die Sicherheitschecks schummeln? Und warum wurde er erst jetzt aktiv?«

»Viele Fragen«, seufzte Dienhof. »Auf die meisten haben wir noch keine Antwort.«

»Auf welche schon?«

»Der Zeitpunkt der Aktivierung. Wahrscheinlich war der Code als Zeitbombe eingebaut. Die kann man vor Tests der Qualitätssicherung gut verstecken. Scharf gemacht werden kann so eine Bombe auf verschiedene Weise. Das kann das Eingeben eines simplen Befehls sein, ein bestimmtes Datum, das Setzen einer globalen Konstante irgendwo an ganz anderer Stelle oder anderes. Das werden wir erst in ein paar Tagen wissen.«

»Was noch? Wie ist es möglich, dass so viele Kraftwerke betroffen sind? Die SCADA-Systeme sind doch maßgeschneidert.«

»Schon. Aber für gewisse Standardfunktionen, die jedes Kraftwerk braucht, verwenden wir seit der zweiten SCADA-Generation in allen Steuerungssystemen die gleichen Standardbibliotheken.«

»Die Zeitbombe schlummerte also in so einer Standardbibliothek?«

»In einer Widget-Library für die Darstellung häufig verwendeter grafischer Darstellungen.«

»Die ist für alle Kraftwerkssteuerungen gleich?«

»Zu kontrollierendes Element funktioniert: Licht grün. Funktioniert nicht: Licht rot. Ist bei einigen Bestandteilen aller Kraftwerke, die wir ausgerüstet haben, immer so. Es wäre ja Irrsinn, solche Basisbestandteile einer Steuerung, die in jedem Kraftwerk die gleiche Aufgabe haben, jedes Mal komplett neu zu schreiben. Kostet mehr, ist komplizierter in der Wartung und beim Aktualisieren der Software.«

»Kam Dragenau an so eine Standardbibliothek ran?«

»Ja. Aber die zwei anderen auch.«

Letztlich kümmerte Wickley in diesem Moment nicht, wer die Software wann unterminiert hatte. Wichtig war jetzt, den Schaden für Talaefer so gering wie möglich zu halten.

»Wie lösen wir das Problem?«

»Wir schreiben eine neue Version der Bibliothek ohne Schadcode und spielen sie bei den Kraftwerken ein. Mit funktionierenden Internetverbindungen auf beiden Seiten ist das eine Sache von wenigen Stunden.«

Wickley musterte ihn scharf. »Die haben noch nicht wieder alle.«

»Wir können Boten mit den aktualisierten Daten schicken.«

»Die Kraftwerke sind über ganz Europa verteilt.«

»Ich schätze, unter den gegebenen Umständen wird das BKA dafür sorgen, ausreichend Leute und Transportmittel zur Verfügung zu stellen.«

»Können wir das BKA nicht aus der Sache heraushalten?«

»Wenn wir selbst Boten stellen …«, antwortete Dienhof.

»Aber es wird sich trotzdem herumsprechen, dass Talaefer Leute geschickt hat und die Probleme danach verschwunden waren. Man wird nachfragen. Wir müssen einen weniger verdächtigen Weg finden. Gibt es keine routinemäßigen Updates, in deren Zuge wir die Daten korrigieren können?«

»Natürlich. Aber nicht bei allen Kraftwerken gleichzeitig. Außerdem würde auch dann früher oder später auffallen, dass mit den Updates die Probleme verschwanden, davor also Talaefers Systeme schuld an den Schwierigkeiten waren.«

Wickley unterdrückte einen Fluch. »Kümmern Sie sich um die fehlerfreie Software«, wies er Dienhof an.

»Ist schon in Arbeit.«

»Wie wir sie bei den Kraftwerken implementiert bekommen, überlegen wir währenddessen.«

Er bemerkte Dienhofs irritierten Blick.

»Bis dahin bleibt die Sache intern«, fügte Wickley hinzu. »Dem BKA, Europol und den übrigen Behörden, wollen Sie doch keine Probleme präsentieren, sondern fertige Lösungen.«

London

»Struck the motherlode«, sang Phil McCaff tief in den Eingeweiden der Zentrale des Secret Intelligence Service, in der Öffentlichkeit gern MI6 genannt. Seit einer Woche hatte er das Gebäude in Vauxhall Cross nicht verlassen. Seine Nachbarn an den Computern sahen auf.

»Seht her!«, rief er. Per Beamer projizierte er seinen Bildschirm auf die große Wand. Zwei Zeilen eines Gesprächs hatte er markiert.

erzwo: ok, got it.

tzsche: almost midnight. time to go to bed. Enjoy your breakfast.

»Der Satz stammt aus einer Unterhaltung, die ein paar Wochen alt ist«, erklärte er. »Tzsche und Erzwo kennen wir, sie gehören zum inneren Kern. Bei Tzsche ist es fast Mitternacht, dagegen soll Erzwo sein Frühstück genießen. Was sagt uns das?«

»Dass die beiden an sehr unterschiedlichen Enden der Welt sitzen«, stellte Emily Aldridge fest.

»Exakt. Hier habe ich eine andere, ältere.«

Fry, -97, 6.36 GMT

baku: Raining cats and dogs. Thought this was a sunny country.

zap: full moon here. No clouds.

»Haben die nichts Besseres zu tun, als über das Wetter zu tratschen?«, fragte Donald Kean.

»Diese Zeilen sind genial«, meinte Aldridge nachdenklich. »Gibt es mehr von dieser Art?«

»Eine ganze Menge«, erwiderte McCaff. »Habe unter anderem nach Wetter- und Tageszeitbegriffen gesucht.«

Er blendete eine Weltkarte ein.

»Auf diese Karte kann ich mir den Sonnenstand, die Mondphasen, Wetterberichte und anderes aus verschiedenen Datenbanken laden. Habe ich also getan. Zusammen mit dem Datum und der Uhrzeit, als die Unterhaltung stattfand, kann ich den Standort von Zap relativ genau auf die Zeitzonen plus sieben bis plus neun Stunden zu Greenwich Mean Time herstellen.«

»Irgendwo in Amerika«, stellte Aldridge fest.

»Und beim anderen regnet es gerade, weshalb er die Sonne vermisst.«

»Dort ist es demnach noch Tag«, schloss Kean. »Oder schon wieder.«

»Nach der Auswertung weiterer derartiger Bemerkungen komme ich zu dem Schluss, dass es mindestens zwei Gruppen gibt.«

Er blickte in die Runde, ließ die Neuigkeit sickern.

»Ihr solltet das jetzt noch einmal gegenchecken, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die eine Gruppe in Zentralamerika sitzt, die andere am östlichen Mittelmeer.«

Den Haag

»Das hilft uns weiter!«, rief Bollard. Er riss das Papier aus dem Drucker, überflog es. »Bien«, murmelte er. »Très bien

Die Ausdrucke, Bilder, Notizen mit den wichtigsten Erkenntnissen bedeckten mittlerweile drei Wände der Ermittlungszentrale. Eine der letzten Erweiterungen, die eine ganze Schmalseite einnahm, war den Verdächtigen vorbehalten. Noch immer wussten sie nicht sicher, ob jener Jorge Pucao und seine in der Folge aufgetauchten Kontakte tatsächlich etwas mit den Stromausfällen zu tun hatten. Doch der Verdacht, dass sie in irgendetwas verwickelt waren, hatte sich gerade wieder erhärtet.

Mehr als drei Dutzend Porträts hingen über die Wand verteilt. Besonders um ein Foto hatten sich während der vergangenen vierundzwanzig Stunden die Notizen gehäuft. Es zeigte das Gesicht eines schlanken Mittdreißigers. Er trug einen Dreitagebart und eine modische, eckige Brille, die halblangen Haare mit sorgfältig gezogenem Linksscheitel. Oberhalb hatte jemand mit Blockbuchstaben »Balduin von Ansen« geschrieben, so wie auf allen anderen Porträts ebenfalls Namen notiert waren. Darunter hingen sechs DIN-A4-Blätter über- und nebeneinander, darauf eine umständliche Grafik. Dutzende Linien verbanden ebenso viele Kästchen, in denen Namen, Buchstaben- und Zahlenkombinationen notiert waren.

»Wir hatten bereits die Bestätigung«, erklärte Bollard den Umstehenden, »dass die zwei Millionen vom Konto der Karyon Ltd. auf Guernsey mittels sieben Tranchen innerhalb von sechs Monaten auf ein Konto der Utopia Enterprises auf den Caymans sowie der Hundsrock Company in der Schweiz flossen. Von dort gingen sie weiter auf ein Konto der Bugfix in Liechtenstein und ein Nummernkonto in der Schweiz. Teilhaber der Bugfix, laut Handelsregister eine Software-Beratungsfirma mit Sitz in Tallahassee, USA, ist Siti Jusuf. Ein weiterer ist John Bannock, einer der beiden US-Amerikaner, die Kontakt mit Jorge Pucao hatten und der seit Herbst 2011 verschwunden ist.«

Auf der Grafik mit den zahlreichen Kästchen und Linien fügte er die entsprechenden Einträge hinzu.

»Von diesen Konten ging das Geld aber unmittelbar weiter auf andere, in die wir Einsicht beantragt haben. Mit den Informationen dazu dürfen wir in den nächsten Stunden rechnen. Die Geldinstitute sind alle sehr kooperativ. Auch für weitere vierzehn Millionen von Ansens kommen wir gut voran. So schnell geht das, wenn es den Herrschaften ans Eingemachte geht«, bemerkte er. »Sogar trotz Stromausfall in einigen Ländern. Oder deshalb.«

Die Unterlagen hatte er sich über eine gesicherte Leitung senden lassen. Die Angreifer mussten nicht wissen, dass Europol und einige andere ihnen auf der Spur waren.

»Und soeben erhalte ich von den Londoner Analysten die Information, dass die Angreifer ihrer Meinung nach in zwei Quartieren arbeiten, eines davon in Mexiko, das andere am östlichen Mittelmeer oder im Nahen Osten. Das heißt, wir werden bevorzugt Geldtransfers in diese Gegenden analysieren.«

Follow the money. Bei den Söldnern waren sie damit nicht weit gekommen. Bei diesem deutschen Erben sah es deutlich besser aus. Offensichtlich hatte er von seinem Vater, dem Bankier, nicht zu viel gelernt, wenn es darum ging, Geldflüsse diskret zu halten.

»Das war doch …«, hörte er Manzano murmeln. Der Italiener stützte sich neben einem der Analysten auf den Tisch.

»Suchen Sie nach … nein, es war nicht … Stanbul! Geben Sie Stanbul ein. Und … welche Namen waren es? Ich glaube b.tuck. Versuchen Sie es einmal!«

Der Mann tippte, mehrere Dutzend Unterhaltungen erschienen.

»Sie war alt«, dachte Manzano laut. »Das war uns aufgefallen … mindestens drei Jahre. Geben Sie noch 1.20 als Suchbegriff ein.«

Auf dem Bildschirm erschien eine einzelne Meldung.

date: thu, -1.203, 14:35 GMT

»Kensaro: B.tuck hat Stanbul unterschrieben«, las Manzano die Unterhaltung vor, die er bereits in Brüssel gesehen hatte. »Transaktion sollte bis Monatsende erledigt sein. Simon: ok. Schicke per Costa Ltd. und Esmeralda halbe halbe.«

»Stanbul«, sagte Manzano. »Kann das Istanbul sein? Östliches Mittelmeer. Würde passen.«

»Costa Ltd. und Esmeralda«, sagte Bollard, der sich dazugestellt hatte. »Das sind Firmennamen.« Er überflog die Ausdrucke an der Wand.

»Da«, sagte er schließlich. »Esmeralda haben wir schon. Liechtenstein. Transaktionen sind angefordert. Dann werden wir da doch gleich noch einmal Druck machen.«

»Okay, und wir hier prüfen alle Unterhaltungen, die mit Stanbul, Istanbul und der Türkei zu tun haben.«

Durch die düsteren Flure wanderten Shannon und Manzano zu dem Zimmer mit ihren Betten.

»Glaubst du, dass sie die Kerle kriegen?«, fragte Shannon.

»Früher oder später«, antwortete er müde. Sie erreichten das Zimmer. Außer ihnen war niemand da. Sie traten ans Fenster. Über der Stadt lag ein rötlicher Schein, an manchen Stellen stärker, an anderen schwächer. »Hauptsache, sie stoppen das da draußen.«

Sie schwiegen. Hingen ihren Gedanken nach, den Ereignissen der letzten Tage. Shannon hatte neue Grenzen bei sich selbst kennengelernt, von denen sie nie geahnt hätte, sie überwinden zu können. Für Manzano war es noch schlimmer gewesen. Seit er angeschossen worden war, hatte er sich verändert. Stiller war er geworden. Er hatte nicht erzählt, was in der Nacht im Krankenhaus geschehen war, als Hartlandt Shannon gefunden hatte, aber nicht Manzano. Wie er den Hunden entkommen war. »Glück gehabt«, war alles gewesen, was er dazu gesagt hatte. Sie musste an die letzte Nacht denken. Den Morgen, an dem sie in Manzanos Armen aufgewacht war. Kein schlechtes Gefühl.

»Danke«, sagte er unvermittelt in die Stille.

»Wofür?«

»Dass du mich durchgeschleppt hast.«

Sie merkte, dass ihr die Situation peinlich war. »Hatte ich eine Wahl?«, fragte sie. »Wer außer dir hätte RESET gefunden?«

Er setzte sich auf sein Bett, zog die Schuhe aus und legte sich hin.

Shannon fühlte sich zwar etwas unwohl bei dem Gedanken, dass Fremde in dem Raum ein- und ausgehen konnten. Andererseits hatte sie während des Tages viele aus dem Team wenigstens flüchtig kennengelernt. Außerdem hatte sie in den vergangenen Nächten an ganz anderen Orten übernachtet. Wenn ich mich in einer internationalen Polizeistation nicht sicher fühle, wo soll ich es dann?, fragte sie sich und ließ sich ebenfalls auf ihrem Bett nieder.

Sie hörte Manzanos tiefen, regelmäßigen Atem. Er musste binnen Sekunden eingeschlafen sein. Sie breitete eine Decke über ihn, dann schaltete sie das Licht aus und schlüpfte ebenfalls unter ihre kratzige Wolldecke. Ihr Körper fühlte sich unendlich schwer an. Sie lag im Dunklen, lauschte auf Manzanos Atem, die Geräusche von draußen, manche klangen wieder wie Schüsse. Feldlager, dachte sie. Als wäre sie beim Militär. Sie sollte schlafen, vielleicht waren die Träume besser als die Wirklichkeit.