Den Haag
Bollard stand in der Küche, über dem Anzug bereits den Mantel, und schnitt sich eine Scheibe von dem halben Brotlaib ab. Er wickelte das Brot wieder in das Papier und legte es zurück in den Schrank neben die zwei Konservendosen mit Karotten und Erbsen. Vor dem Fenster herrschte noch Dunkelheit.
Sein Blick blieb an den Lebensmitteln hängen. Sie hatten nur wenige Vorräte. Und da er Marie mit den Kindern auf den Bauernhof geschickt hatte, auch keine angelegt. Nach ihrer Rückkehr waren die Supermärkte bereits geplündert gewesen.
Wie jeden Morgen war er möglichst früh aufgestanden, hatte sich lautlos aus dem Schlafzimmer entfernt, damit er Marie nicht aufweckte. Sie und die Kinder würden erst in einer Stunde oder noch später aufstehen.
»Ich glaube, ich habe Fieber«, stöhnte seine Frau von der Tür her.
Mit eingezogenen Schultern, die Arme um den Oberkörper geschlungen, den Rollkragen bis über das Kinn gezogen, lehnte sie am Rahmen. Trotz der Kälte im Haus überzog ein dünner Schweißfilm ihr bleiches Gesicht. Ihre Augen waren gerötet. »Ich schaffe es heute nicht zur Lebensmittelausgabe.«
Bollard legte seine Hand auf ihre Stirn. Zu heiß. In Gedanken war er schon bei den Aufgaben, die bei Europol auf ihn warteten. »Geh wieder ins Bett. Haben wir Grippemittel?«
»Ja. Ich nehme eines. Man muss früh dort sein, sonst bekommt man nichts mehr.«
»Wohin muss ich?«
Düsseldorf
Manzano erwachte von der Stille. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das zuletzt erlebt hatte. Sein Kopf lag tief in zwei Kissen vergraben, über ihm türmten sich mehrere Decken. Oder war es doch sein Oberschenkel gewesen, der ihn aus einem tiefen, aber unruhigen Schlaf gerissen hatte? Die Verletzung brannte. Manzano blieb liegen, sah zum Fenster hinaus, vor dem ein grauer Tag dämmerte, und überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Am liebsten wäre er einfach liegengeblieben. Doch das würde wenig helfen.
Er musste an die vergangene Nacht und an die Toten ein paar Stockwerke weiter oben denken, und da erschien ihm das Bett kein besonders gemütlicher Platz mehr. Zumal sein Magen ihm ins Gedächtnis rief, dass er seit gestern Morgen nichts gegessen hatte.
Er krabbelte unter seinem Deckenberg hervor, auf seinem Verband sah er verschiedene Flecken, von seinem eigenen Blut und fremden Körperflüssigkeiten. Er stank. Er musste eine anständige Hose finden. Wenigstens hatte er noch seine warme Jacke.
Als Erstes brauchte er etwas zu essen. In diesem Krankenhaus waren bis gestern Patienten verpflegt worden, hoffte er zumindest. Er stellte fest, dass er zwar auch ohne Krücken leidlich gehen konnte, aber mit ihnen fiel es ihm leichter. Also nahm er sie mit.
Durch die düsteren Flure im Erdgeschoss schien ein Wirbelsturm gefegt zu sein. Am Rand der Empfangshalle entdeckte Manzano eine Cafeteria, aber sie war mit einem massiven Rollladen verschlossen. Wo wohl die Krankenhausküche war? Auf der Suche nach ihr begleitete ihn stets die Furcht, so wie am Vorabend unerwartete und unerfreuliche Entdeckungen zu machen. Eine Viertelstunde später stieß er endlich auf eine Tür mit der Aufschrift »Küche«.
Dahinter sah es ähnlich aus wie im restlichen Haus. Schränke standen offen, Schubladen waren herausgezogen, Geschirr, Besteck, Aufbewahrungsbehälter bedeckten den Boden. Der Inhalt einer aufgerissenen Zuckerpackung hatte sich über eine Anrichte und den Boden verteilt.
In einem Regal fand Manzano ein Stück hartes Weißbrot, in einem anderen einen offenen Plastiksack mit Resten aufgetauter Tiefkühlerbsen. Manzano drehte an allen Wasserhähnen, kein einziger wollte einen Tropfen spenden.
Ein weiteres Mal begriff er, wie komfortabel er in den letzten Tagen gelebt hatte. Langsam kaute er das Brot, schob dann die Handvoll Erbsen nach. Er musste dringend etwas trinken.
Den Haag
Bollard kettete das Fahrrad an ein Verkehrsschild an. Weiter würde er damit nicht kommen. Auf dem kleinen Platz, den alte Häuser umrahmten, drängten sich Hunderte Menschen, dazwischen konnte er ein paar Pferdewagen ausmachen, umringt von kräftigen Burschen mit Knüppeln und Mistgabeln. Aus einiger Entfernung ertönte das schwere Grollen eines Lkw-Motors, der sich langsam näherte. In der Masse entstand Bewegung. Aus einer Straße auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes drang ein schwacher Lichtschein, wurde heller, dann schob sich ein Lkw in das Menschenmeer. Sofort kletterten einige der Wartenden über die Trittbretter und Stoßstangen am Wagen hoch. Bollard drängte in die Platzmitte, doch er war nicht der Einzige. Eingeklemmt zwischen den anderen kam er bald weder vor noch zurück, musste sich mit den anderen treiben lassen. Die Menschen schimpften, fluchten, schrien. So musste es sich anfühlen, wenn man in eine Meeresströmung geriet, gegen die man nicht anschwimmen konnte, dachte er. Trotz seiner Gegenwehr wurde er seitlich abgedrängt, statt auf den Lastkraftwagen zu, an dem die Menschen mittlerweile hingen wie Bienen an einem Imker.
Der Transporter hielt in der Mitte des Platzes, und zunächst geschah eine Minute lang nichts. Dann gelang es dem Personal endlich, die von Menschen blockierten Türen zu öffnen. Weitere Minuten benötigten sie, in Begleitung von zwei Polizisten, für die wenigen Meter bis an die Rückseite des Laderaums. Sie öffneten die großen Flügeltüren, kletterten auf die Plattform, während links und rechts von ihnen je ein Polizist die allzu Aufdringlichen mit Schlagstöcken daran hinderte, den Laderaum zu entern.
Die Menschen drängelten, schrien durcheinander, reckten ihre Hände. Bollard sah zwei Kleinkinder über der Menge schaukeln, wohl als Hilferuf der Eltern, dass hier jemand besondere Versorgung benötigte. Weiter hinten kam es zu ersten Handgreiflichkeiten.
Stoisch gaben die Männer Pakete an jene ab, die es bis zur Kante der Laderampe geschafft hatten. Im Laderaum hinter ihnen stapelten sich ähnliche Bündel bis unter die Decke. Bollard selbst war viel zu weit weg, um auch nur den Hauch einer Chance auf ein Paket zu haben.
In dem Menschenknäuel kam es zu Schlägereien. Andere nutzten die Situation aus und schoben sich an den Streithähnen vorbei. Fassungslos fragte sich Bollard, wie Marie hier am Vortag an Lebensmittel gelangt war.
Die Polizisten hatten trotz der heftigen Prügel, die sie austeilten, zunehmend Schwierigkeiten, die Ladung zu verteidigen. Einer von ihnen rief den Menschen etwas zu, dann zog er seine Dienstwaffe, und als das nichts half, schoss er in die Luft.
Für einen Augenblick gefror die Masse, die Verteiler nutzten den Moment, um schnell die Flügeltüren zu schließen, jedem Polizisten noch ein Paket unter den Arm zu drücken und vom Wagen zu springen. Von den Polizisten mit gezogenen Waffen eskortiert drängten sie zurück zum Führerhaus und sprangen hinein.
Binnen Sekunden war der Wagen überzogen von Menschen.
Bollard hörte das tiefe Gurgeln des Motors und musste hilflos mitverfolgen, wie sich der Lkw langsam durch die Massen der Enttäuschten davonschob. Wer sich dem Wagen in den Weg stellte, musste damit rechnen, überrollt zu werden.
Trotz der tobenden Menge hörte Bollard das hässliche Krachen, als ein Pflasterstein gegen die Windschutzscheibe schlug. Der Wagen beschleunigte ohne Rücksicht auf die Menschen vor ihm. Bollard hörte unschöne, dumpfe Geräusche, das Auto erreichte die Straße, fuhr schneller. Ein Freiluftpassagier nach dem anderen musste loslassen oder stürzte ab. Manche rappelten sich mit schmerzverzerrten Gesichtern auf, tasteten ihre Körper ab, andere blieben liegen.
Düsseldorf
Manzano wusste nicht, wo sich in dieser Stadt die offiziellen Lebensmittelausgabestellen befanden, wagte sich aber sowieso nicht dorthin. Womöglich besaß man dort seine Beschreibung. Nachdem er die Küche noch einmal durchsucht hatte, kehrte er in die Eingangshalle zurück. Unterwegs blickte er in jeden Raum und hielt Ausschau nach Kleidung. Er fand Wundpflaster, Verbände, Klebebänder und Desinfektionsmittel, die er in die Taschen seiner Jacke stopfte. Auch eine Schere und zwei Skalpelle steckte er ein. Endlich entdeckte er eine Wäschekammer, voll mit weißen Hosen und Hemden. Sie waren alle gebraucht. Nirgendwo sah er Waschmaschinen. Vermutlich erledigte das Krankenhaus die Wäsche nicht selbst, sondern ließ sie von einem Miettextilservice durchführen. Er stieg zurück in die zweite Etage, wo sich neben der Entbindungsstation auch die Gynäkologie und die Abteilung für Innere Medizin befanden. Dort stöberte er in einem Schrank tatsächlich zwei Hosen auf, die jemand vergessen oder zurückgelassen hatte. Die eine war zu klein, die andere ausreichend sauber und schien von der Größe passend.
Manzano setzte sich auf ein Bett, wechselte seinen Verband und schlüpfte in die Hose, die tatsächlich einigermaßen saß. Jetzt konnte er sich wenigstens auf die Straße wagen, ohne sofort aufzufallen. Aber wo sollte er hin?
»Piero?«
Manzano fuhr zusammen. Panisch sah er sich um.
»Hallo, Piero.«
In der Tür stand Lauren Shannon.
»Was … machst du hier?«, stammelte er.
»Ich habe im Krankenhaus übernachtet.«
»Aber wie kommst du überhaupt hierher?«
»Ich bin dir aus Den Haag gefolgt. Ich habe ein schnelles Auto, wie du weißt.«
»Aber …«
»Ich bin dir bis zu Talaefer nachgefahren. Ich habe alles mitbekommen: wie sie dich weggebracht haben, deinen Fluchtversuch, deine Verletzung. Erst hier im Krankenhaus habe ich dich gestern Abend verloren, als du deinen Bewacher überwältigt hast. Was hat das alles zu bedeuten?«
»Das wüsste ich auch gern.«
Er setzte sich zurück aufs Bett.
»Bist du allein?«, erkundigte er sich vorsichtig.
»Keine Sorge, deine gestrigen Begleiter habe ich nicht dabei.«
Manzano fragte sich, ob er ihr trauen konnte. Wenn sie ihm gefolgt war, hatte sie vielleicht doch vorab gewusst, wohin er unterwegs war. Hatte sie die E-Mail von seinem Computer geschickt und das Sendedatum manipuliert? Wann hätte sie die Gelegenheit dazu gehabt? Und was hätte es ihr gebracht?
Blitzschnell rief er sich die letzten Tage ins Gedächtnis. Angeblich hatte Shannon Bollard gesucht und war schließlich bei ihm, Manzano, gelandet. Wer sagte, dass sie es nicht von Beginn an auf ihn abgesehen hatte? Aber weshalb? Sie hatte ihm Informationen entlockt, die sie über Nacht zur Starreporterin gemacht hatten. Ihre Berichte hatte er im Internet und im TV gesehen. Er hatte keinen Grund zu zweifeln, dass sie tatsächlich Journalistin war. Aber vielleicht war sie mehr? Sie wäre nicht die erste Berichterstatterin, die für einen Geheimdienst arbeitete. Was erneut die Frage aufwarf, warum sie die E-Mail in seinem Laptop hätte platzieren sollen. Interesse daran konnten eigentlich nur diejenigen haben, die den Strom abgedreht hatten. Gehörte sie zu ihnen? Aber würde sie in diesem Fall als Erste über die Manipulationen berichten? Warum nicht.
»Was ist?«, fragte sie. »Du schaust mich so komisch an.«
»Woher wusstest du, wohin ich von Den Haag aus fahre?«
»Von niemandem. Ich bekam mit, dass du deine Sachen packst, da habe ich dasselbe getan und bin dir hinterher.«
Er saß da, musterte sie, spürte die Wunde an seinem Oberschenkel pulsieren. Er konnte sich nur auf sein Gefühl verlassen.
Schließlich begann er zu erzählen.
Den Haag
Das Gedränge auf dem Platz hatte nachgelassen. Nur um die Bauern auf ihren Pferdewagen sammelten sich noch Trauben von Menschen, überboten sich, um ein paar Kartoffeln, Rüben, Karotten, Kohlköpfe oder verschrumpelte Winteräpfel zu ergattern. Die Bewacher mussten zu vorwitzige Kunden immer wieder mit Mistgabeln oder Flinten zurückdrängen. Bollard zog sein Portemonnaie hervor und prüfte den Inhalt. Dreißig Euro. Wie viel er damit wohl kaufen konnte?.
Er musste es versuchen. Er drängte sich zwischen die anderen, streckte seine Scheine in die Luft, rief: »Hier! Hier!«
Der Bauer auf dem Wagen beachtete ihn nicht einmal. In den anderen hochgereckten Händen sah Bollard deutlich höhere Summen. Er fragte sich, warum die Polizei diesem Treiben keinen Einhalt gebot. Er selbst hatte keine Exekutivgewalt in einem fremden Land, durfte nichts tun. Ohne Waffe würde er hier ohnehin nichts ausrichten, einen simplen Polizeiausweis würden die Anwesenden auslachen. Erschöpft ließ er sich zur Seite drängen.
Für das Mittagessen von Marie und den Kindern würden die Konserven ausreichen, überlegte er auf dem Weg zurück zum Fahrrad. Aber was sollten sie heute Abend essen?
Düsseldorf
»Und nun?«, fragte Shannon.
»Keine Ahnung«, erwiderte Manzano.
»Du bist doch das Computergenie. Wenn es wirklich stimmt, was du glaubst – dass ein Fremder die E-Mails von deinem Computer geschickt hat –, könntest du herausfinden, wie es durchgeführt wurde, oder noch besser, wer es gewesen ist?«
»Vielleicht. Hängt davon ab, wie professionell dieser Jemand vorgegangen ist. Wenn er gut ist, hat er keine brauchbaren Spuren hinterlassen. Aber dazu müsste ich an meinen Computer.«
Sein verletzter Oberschenkel pochte.
»Die zweite Frage ist, woher kannten die Leute deine Pläne?«
»Habe ich mir auch schon gestellt«, bemerkte Manzano. »Kann eigentlich nur jemand bei Europol sein. Oder jemand, der die Pläne von Europol kennt.«
»Oder diese Polizisten hier in Deutschland, denen dein Besuch angekündigt war.«
»Welchen Grund sollte einer von ihnen haben, mich in so einen Schlamassel hineinzureiten?«
»Sie brauchen einen Verdächtigen, weil sie die echten Täter nicht finden.«
»Das würde doch das Problem nicht lösen.«
»Wer weiß, wozu verzweifelte Menschen in der Lage sind?«
»Ich«, flüsterte Manzano und musste an die letzte Nacht denken.
»Gehen wir einmal davon aus, dass unsere lieben Behördenmitarbeiter korrekte Beamte sind und nur ihren Job machen. Wie haben die Angreifer dann von deiner Reise erfahren?«
»Ich kann mir nur eine Möglichkeit vorstellen. Sie belauschen Europol irgendwie.«
»Wie sollte das gehen?«
»Einfach. Dass sie in supergeschützte Systeme eindringen können, haben sie schon bei den Energiekonzernen bewiesen. Warum sollten sie also nicht das Europol-System infiltriert haben? Und andere wahrscheinlich auch. Wenn du einmal drin bist, kannst du allerhand anstellen. Ich habe selbst gesehen, wie Bollard per Computer mit dem Direktor von Europol telefoniert hat. Diese Gespräche kannst du dann in Echtzeit mithören und -sehen.«
»Aber wie kommen sie auf deinen Computer, um die E-Mails von dort abzuschicken?«
»Bollard ließ meinen Laptop überwachen. Damit könnte er den Angreifern ein Einfallstor geöffnet haben.«
»Sollten wir ihm das nicht sagen? Ich könnte das tun.«
»Dann wissen sie erstens sofort, dass du Kontakt mit mir hattest. Und es geht dir genauso wie mir. Außerdem kommst du telefonisch gar nicht mehr nach Den Haag durch.«
»Glaubst du, die denken von allein auch darüber nach?«
»Hartlandt gegenüber habe ich diese Vermutungen bereits geäußert. Ich weiß nicht, wie gut zugehört oder ernst genommen er sie hat.«
»Ist das der Typ, der dich gestern verhaften wollte?«
»Ja. Eigentlich ist er Chef einer deutschen Polizeispezialeinheit, die bei Talaefer nach möglichen Schadcodes suchen soll.«
»Sollte tatsächlich jemand das Europol-System infiltriert haben, würde man das Eindringen entdecken?«
»Wenn man genau und lang genug sucht, höchstwahrscheinlich. Deren Softwarespezialisten haben leider gerade Wichtigeres zu tun.«
»Okay. Bleib hier. Währenddessen versuche ich noch etwas.«
»Was soll ich denn hier noch?«
»Dich ausruhen. Glaub mir, einen besseren Platz findest du zurzeit schwer. Ich hole dich in ein paar Stunden ab.«
Den Haag
Bollard musste nicht absteigen, um zu erkennen, dass die Bankfiliale geschlossen war. Er radelte weiter. An der übernächsten Straßenecke fand er eine andere. Auch hinter ihrer Tür hing ein handgeschriebenes Schild, dass die Filiale bis auf Weiteres nicht öffnen würde. Zunehmend entnervt strampelte er Richtung Europol. Er war schon viel zu spät dran! Unterwegs passierte er drei weitere Banken. In keiner entdeckte er Licht oder Personal. Eine Möglichkeit fiel ihm noch ein. Auf seinem Weg lag das Hotel Gloria, in dem er den Italiener einquartiert hatte. Extra für Europol-Gäste eingerichtet war es besser versorgt als die meisten anderen Gästehäuser der Stadt.
In der Eingangshalle leuchteten nur wenige Lampen. Bollard zeigte dem Portier seinen Ausweis. Der Mann nickte und fragte nicht weiter. Bollard ging durch das Restaurant, das dünn besetzt war, in die Küche.
Ein Koch kam ihm entgegen.
»Zutritt nur für Mitarbeiter«, erklärte er.
Bollard präsentierte auch ihm seinen Ausweis. »Ich brauche ein paar Mahlzeiten. Was haben Sie?«
»Sind Sie Gast?«
»Wollen Sie Ihren Job behalten?«
»Kartoffelgemüse oder Gemüsekartoffeln, Sie haben die Wahl«, erwiderte der Mann trocken.
»Dann nehme ich von beidem. Ich muss es mitnehmen.«
»Transportbehälter habe ich nicht da.«
»Dann komme ich später mit welchen vorbei. Heben Sie die Portionen auf jeden Fall auf, wenn Ihnen Ihr Job lieb ist.«
Düsseldorf
Ein paar Gummischläuche, Skalpelle, Trichter und einen Kübel fand Shannon im Krankenhaus. In der Garage standen verstreut ein paar verlassene Autos. Die Taschenlampe zwischen den Zähnen, maß Shannon die Tanköffnung von ihrem Porsche, dann ging sie zum nächsten Wagen. Der Tankdeckel war verschlossen. Sie kehrte zurück zu ihrem Auto, fand im Pannenwerkzeug einen Schraubenschlüssel und ein zweites Gerät, das sie als Hebel benutzen konnte. Damit brach sie den Tankdeckel des anderen Wagens auf. Der Verschluss darunter ließ sich ohne Schlüssel öffnen. Dieselben Maße, also auch ein Benziner. Sie führte den Schlauch ein, hockte sich neben den Wagen und begann zu saugen. Sie spürte den Widerstand der Flüssigkeit. Ein paar Mal musste sie absetzen und die Schlauchöffnung mit einem Finger verschließen, immer besorgt, dass sie den widerlichen Geschmack jeden Moment auf der Zunge spüren würde. Nach dem fünften Mal war es so weit. Angeekelt spuckte sie aus und hielt den Schlauch über den Kübel. Leise plätscherte die Flüssigkeit hinein und verbreitete ihren Gestank.
Die treibende Kraft unserer Zivilisation, dachte sie. Wie lange noch?
Schließlich versiegte das Rinnsal. Sie zog den Schlauch heraus. Der Kübel war fast voll. Sie trug ihn zum Porsche und leerte den Inhalt vorsichtig durch den Trichter in den Tank.
Dann brach sie den Deckel des nächsten Wagens auf. Der Tankstutzen war größer als jener des Porsche. Diesel. Damit würde sie den Motor ihres Autos umbringen. Außerdem nur mit dem Wagenschlüssel zu öffnen. Der Nachbarwagen war wieder ein Benziner.
Nach zwei weiteren Zapfaktionen hatte Shannon ihren Porsche wieder randvoll befüllt. Ihre Tankutensilien und das Aufbruchswerkzeug warf sie in den Kofferraum, möglich, dass sie die noch einmal benötigte. Die Skalpelle versenkte sie in der Fahrertürtasche. In den Hallen der Tiefgarage röhrte der Angeberauspuff ihres Wagens doppelt so laut wie auf der Straße.
Ratingen
»Nein, wir haben noch keine Spur von dem Italiener«, gestand Hartlandt. Die Verbindung zu dem Franzosen in Den Haag über das Satellitentelefon wurde von Unterbrechungen geplagt. Zu viele wollten auf diesem Weg kommunizieren. »Was haben Sie gesagt?«
Er musste eine Weile auf Bollards Antwort warten.
»… gewundert, dass Berlin die Meldungen über Sabotageakte korrigiert hat.«
»Ja, die Nachricht habe ich auch erhalten. Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, mit den Kollegen darüber zu sprechen. Wollte ich gerade tun. Über Manzano halte ich Sie auf dem Laufenden. Haben Sie Ihre IT schon überprüft?«
»Dasselbe Problem wie bei Ihnen. Noch nicht dazu gekommen. Wir bräuchten gerade alle zehn Gehirne, zwanzig Arme.«
»Wie diese indische Göttin.«
»Und einhundert Stunden Zeit pro Tag.«
»Ohne Schlaf.«
»Wir hören voneinander.«
Auf dem Computer rief Hartlandt die Meldung auf, die gestern in Lauf des Tages eingetroffen war.
»KORREKTUR« prangte in der Überschrift, damit auch jeder sofort begriff. Zugegeben, die Neuigkeit war nicht unwichtig, zerschlug sie doch die einzige mögliche Spur zu den Angreifern.
Darin revidierte Berlin die Angaben zu den Brandlegungen in Schaltanlagen und den gesprengten Hochspannungsmasten vom Tag davor. Plötzlich waren die meisten Fälle doch keine Sabotageakte, sondern auf andere Ursachen zurückzuführen. Das Feuer in Lübeck war durch einen Kurzschluss entstanden, zwei der Masten im Norden waren unter der Last von Blitzeis und Schnee auf den Leitungen zusammengebrochen. Dafür war im südlichen Bayern ein verdächtig geknickter Mast gefunden worden, und ein Feuer in einem Umspannwerk in Sachsen-Anhalt schien ebenfalls auffällig. Abschließende Untersuchungen standen noch aus. Aber der Franzose hatte recht, wenn man diese Daten miteinander verband, blieb von einer geplanten Routen-Theorie wenig. Wenn hier überhaupt jemand sabotierte, handelte es sich eher um verstreute Trittbrettfahrer.
Über das BOS-Funkgerät rief er den Verantwortlichen in der Zentrale in Berlin an.
»Sie sind jetzt der Dritte, der mich damit nervt«, antwortete der Mann auf Hartlandts Fragen. »Ich habe diese Daten nicht verschickt. Ich wüsste auch niemanden, der es sonst getan haben sollte. Außerdem haben wir auch keinerlei derartige Informationen von den Versorgern bekommen.«
»Aber ich habe die Meldung doch empfangen«, widersprach Hartlandt.
»Ich weiß«, sagte der andere. »Sie ging auch von meinem Gerät raus. Aber noch einmal …«
Hartlandt schoss sofort ein Gedanke durch den Kopf. »Sie wollen mir also damit sagen, dass jemand von Ihrem Gerät aus Daten versendet, aber weder Sie noch die Kollegen sollen es gewesen sein?«
»Das …«
»Soll das heißen, dass die ursprünglichen Informationen nach wie vor gültig sind?«
»Eigentlich schon«, antwortete der andere zögerlich. »Außer dieser letzten stimmen sie alle, und irgendwer hat eben mein Gerät …«
»Dann verifizieren Sie das stante pede!«, rief Hartlandt wütend, beherrschte sich aber gleich wieder und fragte ruhig: »Andere neue Erkenntnisse zum Thema haben Sie aber auch noch nicht erhalten und weitergesendet?«
»Vor ein paar Minuten kam etwas, das wollte ich dann weiterleiten«, gab sein Gesprächspartner schroff zurück.
»Dann machen Sie mal«, befahl Hartlandt und legte auf. Sie arbeiteten alle am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Noch einmal rief er Bollard an.
»Sie werden nicht glauben, was ich eben gehört habe«, sagte er und erzählte ihm von seinem Gespräch. »Das sind schon wieder Daten, die niemand verschickt haben will. Wie bei dem Italiener.«
Auf dem Talaefer-Parkplatz standen weniger Autos als am Vortag. Shannon parkte den Porsche hinter einigen davon, damit er wenigstens vom Eingang her nicht sofort auffiel. Manzanos Wagen wartete nach wie vor da, wo der Italiener ihn abgestellt hatte. Shannon hängte sich die Tasche mit der Kamera und dem Laptop um.
Am Empfang saß dieselbe Frau wie gestern, als Shannon die Verirrte gegeben hatte.
»Haben Sie sich schon wieder verfahren?«, fragte sie in schlechtem Englisch.
»Ich möchte zu Herrn Hartlandt«, erklärte Shannon.
»Wer ist das?«
»Einer der Polizisten, die seit gestern hier sind.« Hoffentlich verstand die Trutsche, was sie sagte.
»Ich weiß nichts.«
Hatte sie Anweisungen, die Gegenwart der Ermittler zu leugnen, oder wirklich keine Ahnung?
»Aber ich. Und ich werde so lange hierbleiben, bis ich zu ihm darf oder er das Haus verlässt. Irgendwann muss er das ja.«
Am verwirrten Blick der Frau erkannte Shannon, dass das zu viel Englisch gewesen war. Also noch einmal, langsamer.
Zur Antwort bekam sie: »Wenn Sie nicht gehen, rufe ich unseren Sicherheitsdienst.«
»Tun Sie das. Ich bin Journalistin und werde darüber berichten.«
Die Empfangsdame seufzte, dann griff sie zum Telefon. Shannon verstand nicht, was sie auf Deutsch in den Hörer nuschelte. Die Miene der Frau wechselte von sauer zu ernst zu gleichgültig. Sie legte auf und lächelte Shannon spöttisch an.
Sollte Shannon verschwinden, bevor sie sich von der Security hinauswerfen lassen musste? Zeit zum Überlegen blieb ihr nicht. Zwei groß gewachsene Männer erschienen hinter dem Tresen. Shannon wandte sich um, als aus einem Flur drei weitere Personen eintraten. Einen davon erkannte Shannon sofort.
»Sie habe ich gesucht«, rief sie Hartlandt auf Englisch entgegen.
Hartlandt und seine Leute, ein Mann und eine Frau, blieben stehen. Unter seinem Blick fühlte sich Shannon unwohl. Erkannte er sie wieder als die Frau aus dem Krankenhaus gestern Nacht?
»Was wollen Sie?«, fragte er grußlos auf Englisch.
Hinter ihr kamen die Sicherheitsleute näher.
»Ich bin Journalistin von CNN. Mich interessiert, was deutsche Ermittler bei einem der wichtigsten Produzenten von Kraftwerkssteuerungssystemen weltweit suchen.«
Er fixierte sie und sagte: »Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
Shannon schickte ein dreifaches Stoßgebet zum Himmel, dass er in den letzten Tagen nicht zu viel ferngesehen und damit Shannons »fifteen minutes of fame« versäumt hatte, dass Bollard nichts von ihrer Verbindung zu Manzano und ihrem Verschwinden aus Den Haag durchgegeben hatte und dass sie irgendwie aus der Nummer wieder herauskam, in die sie sich so blauäugig begeben hatte.
»Sandra Brown.«
»Sie berichten ohne Kameras, Sandra Brown?«
Sie klopfte auf die Tasche.
»Die Akkus sind leer. Und schwer zu laden, wie Sie sich vorstellen können.«
Die Security Guides gesellten sich an ihre Seite und schoben Shannon sacht Richtung Ausgang.
»Wir kümmern uns schon darum«, erklärte einer.
Auf Hartlandts Gesicht flackerte einen Moment so etwas wie ein Grinsen auf.
»Nicht so schnell, meine Herren. Was kann ich für Sie tun, Sandra Brown?«
Shannon warf den beiden Männern, die sie mittlerweile an den Oberarmen gepackt hatten, triumphierende Blicke zu. Zögerlich lockerten sie ihren Griff, ohne ganz loszulassen.
»Mir erzählen, worum es hier geht. Mittlerweile ist ja bekannt, dass die Stromausfälle bewusst herbeigeführt wurden. Spielt Talaefer dabei eine Rolle?«
»Folgen Sie mir.«
Mit einem bedauernden Schulterzucken ließ sie die Muskelprotze von der Sicherheit stehen.
Hartlandt brachte sie in ein kleines Büro im Erdgeschoss. Der Raum war voll mit Kisten und Computern.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Einen Snack?«
Ja, ja, ja!, hätte sie am liebsten laut gerufen, hielt sich aber zurück. »Gern, danke.«
Er verschwand. Shannon sah sich um. Es sah aus wie ein improvisierter Arbeitsraum. Auf einem Aktenkästchen an der Wand stapelten sich Festplatten und Laptops. Der oberste sah aus wie das Modell, auf dem Manzano in Den Haag immer herumgetippt hatte. Sie sprang hoch, eilte die wenigen Schritte hinüber. Derselbe grüne Aufkleber wie auf Manzanos Gerät.
Das war fast zu viel Glück.
Sie setzte sich an ihren Platz zurück, gerade rechtzeitig, bevor Hartlandt wieder eintrat. Als er den Kaffee, eine Flasche mit Wasser und ein Sandwich vor ihr abstellte, musste sie sich sehr zusammenreißen, um nicht alles sofort zu verschlingen.
»Also«, sagte er mit einem Lächeln. »Dann fragen Sie. Da Sie keine Aufnahmegeräte dabeihaben, können wir ja offen reden.«
»Vielleicht dürfte ich meine Kamera bei Ihnen aufladen.«
»Tut mir leid, aber Energie ist gerade sehr wertvoll. Den Strom brauchen wir für Wichtigeres«, sagte Hartlandt.
»Und was ist das genau?«, fragte Shannon.
Shannon grub ihre Zähne in das Sandwich. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas Köstlicheres gegessen zu haben! Sie kaute langsam und mit Bedacht.
»Was Sie schon vermutet haben«, erwiderte Hartlandt.
»Sie bestätigen demnach, dass Sie bei Talaefer nach möglichen Ursachen für den Ausfall forschen?«
Noch ein Bissen. Dazu ein Schluck heißen Milchkaffee! Es machte ihr nichts aus, dass er völlig verzuckert war, im Gegenteil.
»Im Moment tut das jeder vergleichbare Produzent«, erklärte Hartlandt. »Talaefer ist keine Ausnahme.«
»Und jedem hilft die Polizei?«
Hartlandt zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.«
»Haben Sie schon etwas gefunden?«
»Bislang nicht.«
Shannon stellte keine weitere Frage, stattdessen aß sie ihr Sandwich. Sollte Hartlandt erzählen. Dabei überlegte sie, wie sie unbemerkt an Manzanos Laptop gelangen könnte.
»Schmeckt es?«
Shannon nickte nur.
»Möchte Sie noch etwas?«
»Noch ein Kaffee wäre toll.«
Kaum war er draußen, schnappte sie Manzanos Laptop von dem Stapel und stopfte ihn in die Tasche zu ihren Geräten. Sie setzte sich nicht mehr hin. Als Hartlandt ein paar Minuten später zurückkehrte, nahm sie ihm den Kaffee ab, stürzte ihn mit einem Schluck hinunter und meinte: »Ich glaube, sehr viel mehr wollen Sie mir nicht erzählen, oder? Danke für Ihre Zeit.«
»Können Sie Ihren Sender denn überhaupt noch erreichen?«, fragte Hartlandt beim Hinausgehen.
»Nicht so einfach, aber es geht.«
»Aber wird er denn noch etwas senden?«
»Weshalb sollte er nicht?«
Hatte sie etwas verpasst in ihrer Nachrichtenabstinenz?
»Wo waren Sie denn in den letzten vierundzwanzig Stunden?«
Hoffentlich lief sie jetzt nicht rot an!
»Unterwegs, recherchieren.«
»Keinen Kontakt mit Ihren Leuten gehabt?«
»Ist nicht so einfach.«
Sie hatten die Eingangshalle erreicht.
»Wissen Sie etwa nicht, dass gestern auch die USA angegriffen wurde?«
Shannon erstarrte. »Wie bitte?« Sie schrie fast.
»Ich dachte, es würde Sie interessieren. Die Story ist allerdings schon draußen. Wenn auch nicht mehr viele davon erfahren, wie man sieht …«
Bevor sie antworten konnte, schob er sie hinaus.
»Ich wusste gar nicht, dass CNN in Düsseldorf ein Büro hat«, erklärte er zum Abschied.
»Haben wir auch nicht«, antwortete sie geistesabwesend, bevor sie ihre Fassung zurückgewann. »Ich bin extra angereist. Ein wenig Benzin hatte ich noch im Tank.«
»Dann wünsche ich Ihnen eine gute Rückfahrt.«
Hartlandt blieb vor dem Eingang stehen und sah der Frau nach. Als sie in ihrem bunten Porsche davonfuhr, nickte er ihr noch einmal zu. Sobald sie den Parkplatz verlassen hatte, startete der graue Audi A6 mit Pohlen am Steuer und folgte ihr mit einigem Abstand. Hartlandt zog aus seiner Tasche den Ausdruck hervor, der Lauren Shannon auf dem Bildschirm zeigte, als sie den Angriff auf die Stromnetze enthüllte, und auf dem Bild einer Überwachungskamera im Den Haager Hotel Gloria mit Piero Manzano.
»Hältst du uns für blöd, Mädchen?«
Zum wiederholten Mal sah Shannon in den Rückspiegel. Jetzt war der graue Audi wieder da. Die Straßen waren so leer, dass fast jeder Wagen Aufmerksamkeit erregte, gleich, ob er Shannon entgegenkam oder in ihrem Rückspiegel auftauchte. Minutenlang hatte sie versucht, einen Radiosender einzustellen, doch in den Lautsprechern krachte es nur. Sie konnte sich kaum auf die Straße konzentrieren, ihre Gedanken flogen von ihren Eltern zu ihren noch lebenden Großeltern, die über die gesamten Vereinigten Staaten verstreut waren. Freunde fielen ihr ein, Studienkollegen, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Boston, New York, wo sie vor ihrer Reise eine Weile gelebt hatte. Drohte ihnen jetzt dasselbe Schicksal, wie die Menschen es hier bereits seit einer Woche erlebten? Dieser graue Audi war immer noch da. Zufall?
Ein paar Minuten lang wurde sie von einem kilometerlangen Militärkonvoi auf der Gegenfahrbahn abgelenkt. An der Stadtgrenze von Düsseldorf erschien der Audi wieder. Shannon musste an Manzanos Laptop in ihrer Tasche denken. Wenn der Italiener mit seinen Geschichten recht hatte, durfte sie kein Risiko eingehen. Mit dem Diebstahl des Computers hatte sie sich zu Manzanos Komplizin gemacht.
Den Standort des Krankenhauses hatte sie bei ihrer Abfahrt ins Navigationssystem gespeichert. Sie konnte ein paar Umwege wählen, und es würde sie trotzdem zurückführen. Kurz entschlossen bog sie von der angesagten Route ab, während ihr Blick zwischen Straße und Rückspiegel hin- und hersprang.
Der Audi folgte ihr.
Noch ein Test.
Ihr Verdacht wurde bestätigt.
Wer saß in dem Auto hinter ihr? Es konnte sich nur um Hartlandts Männer handeln. Deren Methoden hatte sie schon kennengelernt. Manzano hatten sie kaltblütig angeschossen, als er zu flüchten versuchte. In Filmen gaben die Fahrer an dieser Stelle Gas und hängten ihre Verfolger in waghalsigen Verfolgungsjagden ab. Ein Wettrennen mit mehr als zweihundert Pferdestärken unter dem Hintern und Polizeiprofis im Nacken würde höchstwahrscheinlich schnell an einer Düsseldorfer Hauswand enden. Hatte sie eine Wahl?
Shannon beschleunigte. Spürte, wie sie in den Sitz gedrückt wurde. Test mit dem Pedal, kurzer Blick in den Spiegel. Der Audi blieb zurück. Der Motor röhrte, der Tachometer wanderte auf hundertdreißig Stundenkilometer. Hoffentlich lief jetzt niemand vor ihr auf die Straße oder bog aus einer Seitenstraße ein. Bei der nächsten Kreuzung bremste Shannon scharf, bog nach rechts ab und beschleunigte erneut. Ohne einen Blick zurück wiederholte sie das Manöver bei der nächsten Kreuzung. Shannon hatte keinen Schimmer, wo sie sich befand. Sie schien sich in einem Industriegebiet verloren zu haben. Nach der siebten oder achten Abzweigung wagte sie zum ersten Mal einen Blick nach hinten. Der Audi war weg. Sie drosselte ihr Tempo und atmete durch.
Die Frauenstimme des Navigationsgeräts gab ihr die neue Route an. Shannon folgte.
Ihr Magen verkrampfte sich, als sie den Audi abermals in den Spiegeln entdeckte. Resigniert ließ sie sich vom Navi zurück auf die Einfallsstraße führen. Spätestens nach diesem missglückten Fluchtversuch musste ihren Verfolgern klar sein, dass Shannon sie bemerkt hatte. Nun würden sie noch aufmerksamer sein, aber nicht mehr unauffällig. Sie verringerten ihren Abstand und fuhren unverhohlen hinter ihr her.
Shannon nestelte den Laptop auf dem Beifahrersitz aus der Tasche, dann die Kameras und den restlichen Kram. Aus dem Handschuhfach zog sie die Bedienungsanleitung heraus, die so dick war wie ein Telefonbuch, und steckte sie in die Tasche. Mit einem Knopfdruck öffnete sie ihre Scheibe und warf das Bündel hinaus. Im Seitenspiegel verfolgte sie, wie die Tasche sich mehrmals überschlug. Der Audi wurde langsamer. Jemand sprang aus dem Auto, hob die Tasche auf. Shannon trat das Gaspedal durch. Schnell wurde das Auto im Rückspiegel kleiner. Bei der nächsten Kreuzung bog sie in eine Nebenstraße und tauchte in das Gewirr kleinerer Straßen eines Wohngebiets ab.
Diesmal erschien der Audi nicht mehr in ihren Rückspiegeln.
Shannon lächelte mit schmalen Lippen, ohne sich zu freuen. Nach weiteren zehn Minuten wagte sie, den Anweisungen des Navigationssystems zu folgen. Die Raserei hatte die Treibstoffanzeige um ein Viertel sinken lassen. Musste sie im Krankenhaus eben noch einmal »tanken«.
Ratingen
Ihr verdammten Schwachköpfe!, hätte Hartlandt am liebsten in das Funkgerät gebrüllt. Lasst euch von einem Mädchen abhängen! Zum Glück hatte er genug Motivations- und Führungstrainingsstunden hinter sich und noch schwierigere Fälle, um zu wissen, dass Beleidigungen und Demütigungen ihnen nicht weiterhalfen. Nicht zuletzt durch seinen gefassten Charakter hatte er seine Position erreicht.
»Gestern Nacht war sie im Krankenhaus. Im Licht der Taschenlampen und ihrem erschrockenen Zustand haben wir sie bloß nicht gleich erkannt. Das war sicher kein Zufall, dass sie am selben Ort war, an dem wir den Italiener verloren haben. Fahrt noch einmal hin und seht nach, ob sie dort auftaucht.«
Auf den Einwand seiner beiden Mitarbeiter konnte er nur mit einer Gegenfrage antworten: »Wo soll ich Verstärkung hernehmen? Ihr seid Spitzenkräfte. Ihr schafft das schon.«
Woran er langsam zweifelte. Sie waren zu wenige und zu müde. So wie alle anderen.
Nanteuil
Annette Doreuil fand die zwei Menschen in den Schutzanzügen vor der Tür furchterregend. Dabei kamen sie, um den Bollards und Doreuils zu helfen.
»Ein Gepäckstück pro Person«, erklärte die scheppernde Stimme hinter der Maske des einen.
Im Laderaum des Lastwagens hinter ihnen drängten sich verängstigt dreinblickende Menschen.
»Ein Gepäckstück pro Person« hatte schon der Lautsprecher des Wagens gefordert, der vor zwei Stunden mehrmals durch die Straßen Nanteuils gefahren war.
»Danach dürfen wir aber hierher zurück, oder?«, fragte Celeste Bollard.
»Darüber besitzen wir keine Informationen«, erwiderte der Mann im Schutzanzug. »Unsere Aufgabe ist die Evakuierung.«
Annette Doreuil musste an die Berichte aus Tschernobyl und Fukushima denken. Jedes Mal hatte sie sich gefragt, wie es für die Menschen gewesen war, ihr Heim überstürzt zu verlassen, in der Angst nie wieder zurückkehren zu dürfen. Alles zurückzulassen, was einem lieb war. In der Panik, womöglich bereits von der Strahlung schwer, gar tödlich getroffen worden zu sein. Mit der Aussicht, ihren Lebensabend statt in der vertrauten Umgebung beschließen zu dürfen, in der Fremde von vorne beginnen zu müssen. Womöglich schwer krank. Diese Angst hörte sie nun in der Stimme Celeste Bollards. Seit elf Generationen, über dreihundert Jahre, hatte die Familie auf dem Hof gelebt, die Stürme der Französischen Revolution ebenso überstanden wie zwei Weltkriege.
Vor sich sah Annette Doreuil die Bilder anderer Flüchtlingsströme, wie man sie aus dem Fernsehen kannte. Nie hatte sie gedacht, einmal selbst in so einem Konvoi mitziehen zu müssen.
Annette Doreuil wusste nicht, was sie fühlte. Als sie mit Bertrand Paris verlassen hatte, konnte sie sich noch einreden, dass sie auf einen Kurzurlaub fuhren. Spätestens, seit sie die Hühner und Konserven der Bollards aufbrauchten und das Haus nicht mehr verlassen durften, gestand sie sich ein, dass sie ein Flüchtling war.
Nur ein Stück pro Person. Sie nahm einen Haltegriff der großen Tasche, Bertrand den anderen. In der anderen trug er einen schweren Koffer.
Sie hatten nicht so genau überlegen müssen, was sie einpackten. Im Gegensatz zu den Bollards. Annette Doreuil wusste nicht, was ihre Gastgeber in die Koffer gestopft hatten. Hatten sie jetzt schon entscheiden müssen, was sie retten wollten?
Sie horchte in ihren Körper. Fühlte sich etwas seltsam an? Ungewöhnlich? Irgendeine Empfindung, die darauf hinwies, dass die Radioaktivität bereits an ihren Zellen nagte?
Während die zwei Schutzanzugträger ihre Gepäckstücke in einen dafür vorgesehenen Lagerraum unterhalb des Laderaums packten, half ihr Bertrand hinauf. Die Menschen rückten auf den Holzbänken zusammen, um ihnen Platz zu machen. Neben sie setzte sich Celeste Bollard, vorsichtig, als wäre die Bank nass, ohne den Blick von ihrem Gutshof zu wenden.
Mit einem Ruck nahm der Wagen Fahrt auf. Von Celeste und Vincent Bollard sah Annette Doreuil nur die Hinterköpfe, während die beiden das kleiner werdende Haus nicht aus den Augen ließen, bis es verschwunden war und sie es in der Ungewissheit zurücklassen mussten, ob sie es jemals wiedersehen würden.
Düsseldorf
Shannon stellte den Porsche in der Garage direkt vor der Tür zum Treppenhaus ab. Ein paar Sekunden lang musste sie sich gegen das Lenkrad stemmen und durchatmen. In ihrem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Hartlandt hatte Verdacht geschöpft. Vielleicht hatte er sie sogar erkannt. Womöglich hatte er sie mit Absicht an Manzanos Computer herangelassen, damit sie ihn zu dem Italiener führte. Und sie war in die Falle getappt wie ein kleines Kind.
Oder sie bildete sich das alles nur ein?
Wenn Hartlandt sie erkannt hatte, hatte er das auch vergangene Nacht getan? Oder später begriffen, wen er da vor sich gehabt hatte? Wusste er vielleicht von Bollard, dass sie in Den Haag in Kontakt zu Manzano getreten war? Musste sie befürchten, dass er seine Leute noch einmal hierherschickte?
Sie schnappte den Laptop, die Taschenlampe, sprang aus dem Wagen und lief zu Manzano in den zweiten Stock. Atemlos stolperte sie in das Zimmer, in dem sie ihn zurückgelassen hatte. Er lehnte in einem Bett, dick zugedeckt, der Kopf zur Seite gekippt.
»Piero?«, japste sie.
Als er sich nicht bewegte, rief sie lauter, stürzte auf das Bett zu.
»Piero!«
Seine Lider flatterten, schwerfällig hob er den Kopf.
»Wir müssen von hier weg!«, erklärte sie.
Sie schwenkte den Computer.
»Komm schon!«
»Wo … wo hast du den her?«
»Später!«
Sie zerrte die Decken von seinen Beinen. Auf dem rechten Schenkel prangte ein handtellergroßer dunkler, glänzender Fleck. Als sie erstarrte, meinte er nur: »Geht schon. Gib mir die Krücken.«
So schnell es Manzanos Verletzung zuließ, hinkte er hinter ihr her. Im Treppenhaus leuchtete Shannon den Weg aus. Vor der Tür zur Garage legte sie den Zeigefinger auf die Lippen und bedeutete ihm zu warten. Sie schaltete die Taschenlampe ab, öffnete die Tür einen Spalt und lugte hindurch. In der Düsternis erkannte sie kaum etwas, auch keinen Audi.
»Der Porsche steht vor dieser Tür«, flüsterte sie. »Ich werde ihn jetzt mit der Fernbedienung öffnen, du kommst heraus und steigst ein.«
Shannon stieß die Tür auf, gleichzeitig blinkten die Lichter des Porsche, als sie die Schlösser entriegelte.
Manzano humpelte los, da sah er den Schatten, der über Shannon herfiel. Ein anderer stand im Türrahmen und blockierte seinen Weg. Manzano erkannte Pohlens mächtige Statur. Mit aller Kraft rammte ihm Manzano seine Krücke in den Bauch. Pohlen knickte ein, Manzano hieb die Krücke so fest wie möglich auf seinen Kopf, einmal, zweimal, dreimal. Pohlen fiel, hob abwehrend den Arm. Manzano trat ihm mit seinem gesunden Fuß gegen den Rumpf, knickte auf dem verletzten fast ein, hörte ein pfeifendes Geräusch, trat noch einmal zu. Pohlen wand sich, wehrte sich aber nicht mehr. Hinter dem Porsche kniete der zweite Mann über Shannon, von der Manzano nur den Hinterkopf ahnte. Bevor er sich wehren konnte, hatte ihm Manzano bereits zweimal mit voller Wucht die Krücken über den Schädel gezogen. Ohne weitere Gegenwehr kippte er zur Seite.
Shannon rappelte sich hoch, sah sich panisch um, schrie: »Der Schlüssel! Der Laptop!«
Auf allen vieren tappte sie durch die Finsternis, zur Taschenlampe, deren einsamer Strahl unter dem Wagenboden hindurchleuchtete.
Manzano bemerkte, dass Pohlen auf die Beine kam. Er hinkte zu ihm und schlug abermals mit der Krücke auf ihn ein.
»Hab ihn!«, rief Shannon.
Manzano wandte sich zum Wagen, während Pohlen nach ihm griff. Die Beifahrertür stand schon offen, Shannon startete den Motor. Manzano warf sich in den Sitz. Shannon schoss mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen davon, neben Manzano fiel die Tür von allein ins Schloss.
»Alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie hastig.
»Keine Ahnung. Und mit dir?«
»Geht schon.«
Sie schleuderte um eine Kurve, bremste so heftig, dass Manzano fast auf dem Armaturenbrett aufschlug, hielt neben einem grauen Auto an. Riss die Tür auf, eine Hand in deren Seitentasche.
»Autsch! Verdammt!« Kniete neben dem Wagen nieder, hieb mit etwas auf den Vorderreifen ein. Als sie zum Hinterreifen lief, erkannte er in ihrer Hand eine kleine Klinge. Sie durchlöcherte auch den hinteren Reifen, ließ das Skalpell fallen und saß schon wieder im Wagen, bevor das Klirren der Klinge auf dem Asphalt verklungen war.
Manzano wurde in seinen Sitz gedrückt, als sie auf das helle Loch der Ausfahrt zuflitzten. Vorsichtig lenkte sie auf die Straße. Manzano bemerkte, dass ihre rechte Hand blutete.
»Wohin fahren wir?«, fragte er.
»Weg«, antwortete Shannon.
Berlin
»Rüber in den Besprechungsraum«, flüsterte der Sekretär des Bundeskanzlers Michelsen zu. Er eilte weiter, gefolgt von Michelsen. Vor den Bildschirmen, über die sie die Konferenzschaltungen mit den anderen Krisenzentren hielten, warteten bereits die Kabinettsmitglieder und andere Teilnehmer des Krisenstabs. Nur der Bundeskanzler fehlte. Von den Monitoren blickten einige europäische Regierungschefs, Minister oder Spitzenbeamte.
»Dringend einberufene Krisensitzung«, erklärte der Verteidigungsminister.
Raunen, Getuschel.
»Worum geht es?«, rief der Bundeskanzler, als er in den Raum stürmte.
Der Verteidigungsminister zuckte mit den Achseln.
Der Bundeskanzler ließ sich auf dem Platz nieder, wo ihn die Kamera erfassen würde, drückte den Knopf, mit dem er das Mikro öffnete, und bellte seine Frage in die virtuelle Runde, die sich auf den Bildschirmen mittlerweile komplettiert hatte. Nicht jeder Staat schickte zu jedem Meeting dieselbe Person, aber alle beschränkten sich auf maximal drei verschiedene Vertreter.
Die Gesichter hatte Michelsen während der vergangenen Tage alle kennengelernt. Nur auf dem spanischen Fenster entdeckte sie ein neues. Auf den zweiten Blick erkannte sie, dass der Mann Uniform trug. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie.
Der Spanier, ein bulliger Mann mit Schnurrbart und dicken Tränensäcken unter den Augen, antwortete: »Wir wollten unsere Bündnispartner in dieser Situation so schnell wie möglich darüber informieren, dass sich der Ministerpräsident unseres Landes außerstande sieht, weiterhin die Amtsgeschäfte zu führen. Dasselbe gilt für den Vizepräsidenten und die gesamte Regierung. Um die öffentliche Ordnung trotzdem weiterhin zu gewährleisten, die Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren und alles in unserer Macht Stehende zu unternehmen, um die Lage wieder zu normalisieren, hat sich die Spitze der Armee unter meiner Führung dazu bereit erklärt, die Staatsgeschäfte bis auf Weiteres zu führen.«
Michelsen fühlte sich, als wäre die Stierherde der alljährlichen Fiesta in Pamplona über sie hinweggetrampelt. In Spanien hatte sich das Militär an die Macht geputscht, nichts anderes hatte ihnen der Mann auf dem Bildschirm eben verdeutlicht.
»Diese Entwicklung wird an der internationalen Zusammenarbeit Spaniens nichts ändern. Unsere Freunde in Europa und Amerika können hundertprozentig auf uns zählen.«
Michelsen bemerkte, dass sie zu zittern begonnen hatte. Unauffällig beobachtete sie, ob ihre Reaktion ihren Sitznachbarn aufgefallen war. Doch sie sah nur fassungslose und bleiche Gesichter.
»Wir gehen davon aus«, ergriff der Bundeskanzler als Erster das Wort, »dass es sich dabei um einen kurzfristigen Zustand handelt und die Zuständigen baldmöglichst wieder ihre Funktionen übernehmen.«
»Selbstverständlich«, erwiderte der spanische General. »Sobald die Lage es erlaubt, beziehungsweise die entsprechenden Personen es wünschen, werden wir die Amtsgeschäfte umgehend wieder in die dafür vorgesehenen Hände legen. Bis dahin haben wir zur Sicherheit der Bevölkerung das Kriegsrecht ausgerufen.«
Und noch einmal unter die Hufe der Stiere, dachte Michelsen. Sie wusste nicht, ob die Europäische Union ein Prozedere für solche Ereignisse in Mitgliedsstaaten vorsah.
»Wo hält sich der Ministerpräsident auf?«, fragte der italienische Präsident, sichtbar blass. »Können wir mit ihm sprechen?«
»Das ist zurzeit leider nicht möglich«, antwortete der Spanier. »Er hat sich zurückgezogen und mich gebeten, die Nachricht mitzuteilen.«
»Richten Sie ihm bitte unsere Grüße aus«, sagte der englische Premier schmallippig. »Und dass wir uns sehr freuen würden, möglichst bald mit ihm zu sprechen.«
»Das werde ich«, entgegnete der General.
Kommandozentrale
Er war zufrieden. Der Anfang war gemacht. In einigen Ländern hatten sie Militärputschs erwartet. In anderen existierte keine solche Tradition. Dort würde die Bevölkerung die angeknacksten Strukturen hinwegfegen, früher oder später. Die Lage verschärfte sich, trieb schon jetzt immer mehr Menschen dazu, ihr Leben an den herkömmlichen Systemen vorbei zu organisieren. Oder neue zu etablieren. Die staatlich organisierten Kommunen hatten ihre Daseinsberechtigung schon vor langer Zeit selbst zerstört, neue, selbstbestimmte, lebendige würden sich bilden, mehren, teilen, vergehen und auferstehen. Auch die Militärs würden das bald zu spüren bekommen. Ihre Machtübernahme war nur ein Zwischenschritt. Diese sprachlose Gesellschaft, die keine mehr war, weil ihr die Gemeinsamkeiten abhandengekommen waren, in ihrer verzweifelten Sucht nach Betäubung durch immer mehr, durch ewiges Wachstum, war am Ende ihres Weges angelangt.
Den Haag
»Ich hatte Wichtiges zu tun«, sagte Bollard missmutig. Er hatte keine Lust, sich dafür zu rechtfertigen, dass er für seine Familie Nahrung finden musste. Wie in einem Dritte-Welt-Land bei einer Hungerkrise, dachte er. Oder in der Steinzeit. »Wenn die Verantwortlichen nicht für ausreichende Lebensmittel sorgen, müssen wir das selbst tun.«
In eine dicke Jacke gewickelt saß Bollard mit dem Europol-Direktor und dem Rest der Führungsmannschaft zusammen. Seit dem Vorabend hatte das Gebäudemanagement die Energieversorgung auf das Notwendigste reduziert. Die Wärmeversorgung war auf achtzehn Grad gedrosselt. Die meisten Fahrstühle waren vorübergehend stillgelegt. Wer seinen Arbeitsplatz noch erreichte, lief vermummt herum.
»Wir sollten für Europol-Mitarbeiter und ihre Familien eine Sonderversorgung organisieren«, regte Bollard an. »Sonst können wir unseren Aufgaben bald nicht mehr nachgehen. Die Hälfte der Belegschaft bleibt ohnehin schon weg.«
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, sagte Direktor Ruiz reserviert.
Keinerlei Neuigkeiten lieferten die schwedischen und italienischen Ermittler. Ihre Suche nach den falschen Mitarbeitern der Elektrizitätsgesellschaften war ohne Spur geblieben. Teilerfolge verzeichneten immerhin die IT-Einsatzteams bei den betroffenen Netzbetreibern. Einige kamen schneller voran als erwartet. Manche rechneten bereits für die kommenden drei Tage mit der Einsatzfähigkeit ihrer Anlagen.
Bei seinen eigenen Kollegen aus der IT-Abteilung hatte Bollard seit gestern dreimal vorbeigesehen. Noch hatten sie nichts gefunden – aber auch nicht viel Zeit zum Suchen gehabt. Bollard hatte mit dem Belgier gestritten, musste sich aber dessen Argumenten beugen, dass für zu wenige Leute viel zu viel Arbeit vorlag.
»Wir haben da gerade etwas von Interpol bekommen«, rief einer seiner Kollegen durch den Raum. Bollard beobachtete, wie er seinen Bildschirm fixierte und vor sich hin murmelte, bevor er bemerkte: »Ich weiß nicht, ob das gute Nachrichten sind oder schlechte.«
Bollard ging zu ihm hinüber.
»Sprich nicht in Rätseln.«
Auf dem Monitor war ein Gesicht zu sehen, das Bollard sofort als das eines Toten identifizierte.
Sein Mitarbeiter rief ein paar weitere auf. Sie zeigten andere Details der Leiche. Der Mann war mit mehreren Schüssen in die Brust ermordet worden.
»Wer ist das?«
Sie überflogen den Bericht. Unbekannter Europäer, heute Morgen Ortszeit in einem Waldstück nahe des Dorfes Gegelang auf Bali von Bauern gefunden. Mögliche Identifizierung als der vermisste deutsche Staatsbürger Hermann Dragenau.
Bollard wiederholte den Namen, während er sein Gedächtnis durchforstete.
»Das ist der Chief-Architect, den die Deutschen bei Talaefer suchen!«
Sie verglichen ihre Bilder von Dragenau mit dem Porträt des Toten.
»Sehen sich wirklich ähnlich«, stellte Bollards Kollege fest.
»Steht da etwas über Täter oder Verdächtige?«, fragte Bollard.
»Nein. Man fand weder Geld noch Wertgegenstände oder Ausweise bei ihm. Kann sich um einen normalen Raubmord handeln.«
»Wissen sie schon, wo er gewohnt hat?«
»Offenbar nicht. Wird noch gesucht.«
»Sollen wir an einen Zufall glauben?«, fragte Bollard. »Eine der ganz wenigen Personen, die für einen möglichen Insiderjob bei einem der wichtigsten SCADA-Produzenten verantwortlich sein könnten, reist ein paar Tage vor dem verheerenden Stromausfall, an dem er Mitschuld tragen könnte, aus Europa ab und wird wenige Tage später tot aufgefunden. Was immer er gewusst haben könnte, weitersagen kann er es nicht mehr.«
Bollard richtete sich auf.
»An Zufall glaube ich nicht. Hartlandt muss das Leben dieses Dragenau auf den Kopf stellen und bis in den hintersten Winkel durchleuchten!«
Er griff zum nächsten Telefon und wählte Hartlandts Nummer bei Talaefer. Hoffentlich bekam er eine Verbindung.
Ratingen
Hermann Dragenaus Haus lag ein paar Kilometer südlich von Ratingen in der Nähe eines Dorfes. Der Bau musste aus den frühen Siebzigerjahren stammen, mit seinen geraden Linien, den großen Glastüren und der dunklen Holzverschalung unterhalb des Flachdachs. Den Eingang verdunkelten hohe Eichen. Dragenau hatte hier allein gewohnt. Seine Kollegen hatten erzählt, dass er sich vor sechs Jahren von seiner Frau getrennt hatte, die mit der gemeinsamen Tochter bei Stuttgart lebte. Die Einrichtung war modern-praktisch, ein paar Designermöbel verloren sich zwischen Möbelhausware. Dragenau schien eine ordentliche und saubere Person zu sein. Wahrscheinlich half ihm eine Zugehfrau, vermutete Hartlandt.
Dragenau hatte keine unmittelbaren Nachbarn, die sie befragen konnten. Um ihn genauer zu überprüfen, mussten sie wohl in den umliegenden Orten von Tür zu Tür gehen – ob ihn jemand gekannt hatte, in den Geschäften, Kneipen. Doch dazu fehlte ihnen das Personal. Außerdem waren viele Leute wahrscheinlich nicht mehr da, sondern in einem der Notquartiere. Viel schwieriger konnte Polizeiarbeit kaum sein.
»Ein Dutzend Leute bräuchten wir dafür«, stöhnte Pohlen. Abschürfungen und blaue Flecken zeichneten sein Gesicht.
»Bekommen wir nicht«, erwiderte Hartlandt. »Das müssen wir alleine schaffen.«
Nach einer Tour durch das Haus hatten sie im Arbeitszimmer des Toten begonnen. Systematisch räumten sie jeden Schrank, jede Kommode und den Schreibtisch aus. Sie fanden Steuererklärungen der vergangenen Jahre, Versicherungsunterlagen, Arbeitsverträge mit Talaefer, alte Schulzeugnisse, Studienbescheinigungen, mehrere Festplatten und zwei ältere Computer.
»Allein die durchzuackern kostet Wochen«, klagte Pohlen.
Westlich von Düsseldorf
»Ich habe Durst«, sagte Manzano.
»Ich auch«, antwortete Shannon.
Sie hatten Düsseldorf Richtung Südwesten verlassen, ohne Ziel. Shannon mied Autobahnen und hielt sich auf Landstraßen. Sie fuhr gemächlich, auch um Treibstoff zu sparen. Der Tank war noch mehr als halb voll. Aus dem grauen Himmel fielen einzelne Tropfen. Das Außenthermometer des Wagens zeigte ein Grad unter null.
Manzano hatte sich bis jetzt Zeit gelassen, seinen Laptop aufzuklappen.
»Dann wollen wir einmal schauen …«
Er fand die Botschaften, die Hartlandt ihm gezeigt hatte. Insgesamt waren es sieben Stück. Manzano überprüfte die Daten. Sie waren alle während seines Aufenthalts bei Europol von seinem Computer versandt worden.
»Aber nicht von mir«, flüsterte er.
»Und?«, fragte Shannon.
»Diese E-Mails sind leider wirklich da.«
»Aber wer hat sie dann verschickt?«
»Entweder jemand von Europol. Oder jemand von außerhalb. Im ersteren Fall werde ich nichts finden. Aber die zweite Variante kann ich eventuell überprüfen.«
»Wie das?«
»Erstens habe ich eine zusätzliche Firewall auf dem Laptop. Der Windows-Firewall allein traue ich nicht. Du weißt, was eine Firewall ist?«
»Weiß heute jedes Kind. Sichert deinen Computer gegen unerwünschte Eindringlinge.«
»Genau. Ich habe sie so eingestellt, dass sie sämtlichen Datenverkehr, der über sie durchgeführt wurde, protokolliert und dies in sogenannten Log-Dateien ablegt.«
Natürlich hatte er nicht nur bei der Firewall das Logging aufgedreht. Eine eigene Software überwachte die anderen Zugänge, etwa die USB-Ports und was sonst noch so auf seinem Rechner passierte.
»Ob also Daten raufgeladen wurden oder herunter.«
»Und diese Protokolle willst du dir jetzt ansehen. Sind die nicht ziemlich umfangreich?«
»Das sind Abertausende, wenn nicht Millionen Textzeilen. Aber ich muss sie nicht alle persönlich durchsehen. Dafür habe ich kleine Helferlein.«
Manzano begann zu tippen.
»Ich habe ein paar Programme auf dem Laptop. Zum Beispiel eine Datenbanksoftware, die jeder gratis im Internet bekommt. Damit kann ich auch große Datenmengen verwalten.«
Seine Finger flogen jetzt über die Tasten.
»Ich schreibe mir ein kleines Programm, mit der ich die Firewall-Daten in die Datenbank einspielen kann.«
Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass sie an einer Menschengruppe vorbeifuhren. Dick vermummt wanderten sie entlang des Straßenrands mit großen Bündeln von Ästen und Zweigen auf dem Kopf oder unter den Armen. Einer zog einen Leiterwagen voll mit Holz hinter sich her. Manzano fühlte sich an einen Urlaub in Indien erinnert und an die Bilder aus dem Europa unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Den bunten Porsche bestaunten sie wie ein außerirdisches Raumschiff.
Manzano programmierte weiter. Keine halbe Stunde später betrachtete er zufrieden sein Werk und gab den Befehl, die Firewall-Daten in die Datenbank zu laden.
»Und, was gefunden?«, fragte Shannon.
»So weit bin ich noch nicht. Jetzt lade ich die Daten, das dauert eine Weile. Sobald das vollendet ist, kann ich mithilfe meines kleinen Programms in diesen Daten nach Konkretem suchen.«
»Als da wäre?«
»Ungewöhnliche Befehle, auffällige Kommunikationsmuster …«
Vor ihnen tauchten Häuser auf. Manzano legte den Computer auf den Rücksitz. Er verspürte wieder Hunger. Ein paar Ortschaften hatten sie bereits passiert. Nirgends waren viele Menschen zu sehen gewesen. Auch hier begegneten sie nur vereinzelten Holzsammlern. Vor einem Gasthaus hielten sie an. Shannon stieg aus und klopfte an die Tür. Wartete. Klopfte noch einmal. Niemand öffnete. Sie stieg wieder in den Wagen.
»Wie überall«, stellte sie fest.
»Von irgendetwas müssen die Menschen hier doch leben«, wandte Manzano ein. »Was essen und trinken sie denn?«
Shannon zuckte mit den Schultern. »Vielleicht nichts mehr?«
Sie startete den Motor und fuhr im Schritttempo weiter. Dabei inspizierte sie die Fenster der Häuser auf beiden Straßenseiten.
»Kannst du vielleicht die Heizung etwas schwächer drehen?«, bat Manzano. Er schwitzte.
Shannon musterte ihn, legte ihre Hand auf seine Stirn.
»Du hast Fieber.«
Sie reduzierte die Temperatur im Wagen. Neben einem Passanten hielt Shannon mit blubberndem Motor an. Der unrasierte Mann musterte sie und den teuren Sportwagen argwöhnisch.
Manzano ließ die Scheibe herunter. »Entschuldigen Sie«, sagte er mit seinen bescheidenen Deutschkenntnissen. »Wo bekommt man hier Essen?«
»Unsere Haubenrestaurants haben heute leider geschlossen«, erwiderte der Gefragte mit rauer Stimme.
»Ich meine, gibt es …«, er suchte das Wort, »Stelle, wo Essen ausgegeben wird.«
»Aber Porsche fahren«, grummelte der Mann.
Manzano benötigte einen Augenblick, bevor er verstand.
»Einziger Leihwagen, den wir bekommen haben.«
»Schön für Sie. Ich habe gar keinen bekommen.«
»Essen? Trinken?«, fragte Manzano noch einmal geduldig und erschöpft.
Der Mann zeigte auf die Straße vor ihnen.
»Am Hauptplatz im Rathaus ist die Lebensmittelausgabe eingerichtet. Aber da werden Sie heute nichts mehr bekommen. Die Lieferungen kommen immer morgens, und dann sind sie auch schon gleich verteilt.«
Manzano hatte nur Bruchstücke des Gesagten verstanden.
»Danke«, erwiderte er und ließ die Scheibe wieder hochgleiten. Shannon folgte der Straße bis zu einem Platz mit einem Kreisverkehr in der Mitte. Sie konnte den Wagen getrost anhalten und sich umsehen. Verkehr behinderte sie dadurch keinen.
»Da drüben ist es«, bemerkte sie. Sie umrundete den halben Kreisverkehr und parkte vor einem großen Altbau aus rötlichen Steinen, auf dem groß die Buchstaben »Rathaus« prangten.
An der Tür hing ein handgeschriebenes Plakat.
»Warte hier«, befahl sie und stellte den Motor ab.
»Kann ich von hier aus lesen«, sagte Manzano. »Lebensmittelausgabe täglich sieben bis neun Uhr«, übersetzte er gleich ins Englische.
»Na toll. Und wenn man später Hunger hat?«
»Auf Reisende ist dieses System nicht eingestellt«, bemerkte Manzano. Er musste husten und kramte in seinen Taschen, bis er das Antibiotikum fand. Ohne zu wissen, ob es ihm wirklich helfen würde, schluckte er eine Tablette. Wie eine zu große Kartoffel blieb sie in seinem Hals stecken, er musste mehrmals würgen, um sie hinunterzubekommen.
Durch die autofreien Straßen lenkte Shannon den Wagen aus der Stadt hinaus. Unter dem grauen Himmel brach die Dämmerung noch früher herein. Die Landschaft wurde flacher.
Manzano fischte seinen Computer hervor.
»Was tust du jetzt?«
»Die Daten sind geladen. Jetzt stelle ich der Datenbank ein paar Fragen.«
Nachdem er fertig getippt hatte, fragte er: »Wo fahren wir jetzt hin?«
»Wo es ein Dach über dem Kopf und vor allem etwas zu essen und zu trinken gibt. Ein Bauernhof vielleicht.«
Er starrte aus dem Fenster, als ob er in der kahlen Winterlandschaft eine Antwort fände.
»Fahr da vorne rechts«, forderte er Shannon auf.
Shannon bog von der Landstraße ab auf einen schmalen Weg, der in ein Wäldchen führte. Davor erhoben sich links und rechts Geländer.
»Eine Brücke«, stellte sie fest und hielt an.
Darunter floss ein Bach.
Ratingen
Seine Leute waren in Dragenaus Haus und bei der Talaefer AG, Hartlandt selbst fuhr in Richtung der nächsten Siedlung. Unterwegs stoppte er bei den vier Häusern, die auf dem Weg lagen. Bei dreien reagierte niemand auf sein Klopfen und Rufen. Beim vierten öffnete ein Mann in seinem Alter.
»Polizei?«
Hartlandt präsentierte ihm Dragenaus Bild.
»Der wohnt da weiter vorn«, bestätigte der Mann.
»Kennen Sie ihn näher?«
»Nein. Ich glaube, ich habe in meinem Leben fünf Worte mit ihm gewechselt.«
»Wissen Sie, ob er Freunde in der Nachbarschaft hatte?«
»Ich glaube nicht. Die meisten hier in der Gegend kenne ich. Von Dragenau hat nie jemand was erzählt. Weder Gutes noch Schlechtes. Der hat zwar hier gewohnt, aber keinen Anschluss gesucht.«
»Haben Sie ihn in Gesellschaft anderer Leute gesehen, hatte er vielleicht Besuch?«
»Wäre mir nicht aufgefallen. Aber so genau habe ich das nicht verfolgt. Sagen Sie, wenn Sie von der Polizei sind: Wann hat der Mist denn ein Ende, haben Sie eine Ahnung?«
»Hoffentlich bald.«
Die Siedlung bestand hauptsächlich aus Wohnhäusern der Sechzigerjahre. In der örtlichen Bezirksdienststelle fand er einen einsamen Uniformierten. Hartlandt zeigte auch ihm das Bild Dragenaus.
»Kenne ich nicht«, verkündete der Mann. »Aber kommen Sie mit. Wir können ein paar Leute fragen gehen, die hier in der Umgebung wohnen.«
Hartlandt folgte ihm über die Straße in ein größeres Gebäude.
»Unser Spiel- und Sportverein«, erklärte der Beamte. »Jetzt ein Notlager. Vielleicht kennt ihn dort jemand.«
In der Halle reihte sich ein Feldbett an das nächste. Die Luft war stickig, einige Leute lagen auf den Betten und starrten an die Decke, andere lasen, Kinder tollten herum.
Der Polizist stellte ihm einen untersetzten Mann mit buschigem, grauem Schnurrbart vor. »Das ist einer unserer Gastwirte. Seine Wirtschaft ist abgebrannt.«
Der Polizist klopfte dem Grauhaarigen auf die Schulter. »Alles klar?« Und zu Hartlandt: »Er kennt eine ganze Menge Leute aus der Umgebung.«
Hartlandt zeigte dem Mann Dragenaus Porträt.
Der Wirt schüttelte den Kopf.
Der Uniformierte führte Hartlandt weiter zu einem improvisierten Abteil. Zwischen zwei Stangen spannte sich eine Decke als Abtrennung zum Nachbarbett.
Die vorgestellte Frau entpuppte sich als Vorsitzende eines örtlichen Kulturvereins.
»Nein«, sagte sie, nachdem Hartlandt ihr das Bild gezeigt hatte. »Wohnt der bei uns in der Siedlung?«
»In der Nähe.«
»Tut mir leid.«
»Wir haben noch zwei Ärzte, eine Apothekerin, zu denen kommen auch viele aus der Gegend. Dann können wir noch zum Pfarrer und zur Pastorin schauen. Wenn wir sie finden. Die sind alle nicht hier einquartiert.«
Draußen hatte die Dämmerung eingesetzt.
Zwischen Düsseldorf und Köln
Die Lichter des Porsche schnitten durch die Dämmerung.
»Mist«, fluchte Manzano.
»Was ist?«
Sie hörte ihn hektisch tippen. Seit einer halben Stunde saß Manzano nun schon konzentriert über seinen Laptop gebeugt. Murmelte unverständliches Zeug vor sich hin, unterbrochen von überraschten Ausrufen.
»Was ist denn nun?«
»Da ist eine IP-Adresse«, erzählte Manzano aufgeregt. »Wir brauchen Strom. Und einen Internetanschluss. Dringend.«
»Kein Problem«, erwiderte Shannon. »Gibt es überall in Hülle und Fülle.«
»Ich meine das ernst«, beharrte Manzano. »Jede Nacht um ein Uhr fünfundfünfzig sendete mein Computer Daten an eine bestimmte IP-Adresse. IP-Adresse sagt dir was?«
»IP wie Internetprotokoll. Ist so etwas wie die Adresse eines Computers innerhalb eines Netzwerks, auch im Internet.«
»Genau. Im Prinzip kann man damit jeden Computer lokalisieren. Und mein Laptop hat Daten an eine solche Adresse gesandt, die ich nicht kenne. Ohne dass ich es ihm befohlen habe oder davon wusste.«
»Das heißt, jemand anderes hat ihm den Auftrag gegeben. Europol?«
»Vielleicht.«
»Aber wie ist der auf deinen Computer gekommen?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat dieser Jemand die Mails im Zusammenhang mit meiner Arbeit bei Europol verschickt. Ich vermute also, dass er über das Europol-Netz eingedrungen ist.«
»Also doch die Europa-Polizisten?«
»Ich weiß es nicht. Ich bräuchte einen Internetzugang, um mehr zu erfahren.«
Er schlug sich mit der Hand auf die Stirn.
»Ich Idiot! Ich weiß, wohin wir müssen!«
Er beugte sich vor, inspizierte das Navigationssystem.
»Kennst du dich damit aus?«
»Wohin müssen wir denn?«
»Nach Brüssel.«
Shannon drückte ein paar Knöpfe, bis das Display eine Route und Distanz angab.
»Gut zweihundert Kilometer«, stellte sie fest. Warf einen Blick auf das Armaturenbrett. »Dafür reicht der Tank. Weshalb Brüssel?«
»Ich kenne dort jemanden.«
»Und der hat Strom und Internetzugang?«
»Wenn das Monitoring and Information Centre der Europäischen Kommission in so einer Situation keinen Strom und keinen Internetzugang mehr hat, sind wir wirklich am Arsch. Verzeih den Ausdruck.«
»Na, dann. Zwei Stunden sagt das Navi.«
»Aber vorher brauche ich etwas zu essen.«
»Woher nehmen?«
Brüssel
Hastig stopfte sich Angström ein Stück Brot in den Mund, während die anderen im Besprechungszimmer eintrudelten. Als Letzter kam der Leiter des EUMIC, Zoltán Nagy. Ohne lange Einleitungsworte kamen sie zur Sache.
»Hilfe aus den USA können wir vergessen«, stellte Nagy fest. »Und nicht nur das: Jene der Russen und Chinesen, der Türkei, Brasiliens und anderer Staaten müssen nun auf Europa und die Vereinigten Staaten aufgeteilt werden.«
Ein paar Sekunden lang herrschte ratloses Schweigen. Dann gingen sie zur Tagesordnung über und gemeinsam die neuesten Berichte durch.
»Das NATO-Oberkommando hat den Bündnisfall ausgerufen«, sagte Nagy mit düsterer Stimme. »Das Bündnis wird laut einer Erklärung mit aller Entschlossenheit gegen die Aggressoren vorgehen. Allerdings herrscht nach wie vor völlige Unklarheit, wer für den Angriff verantwortlich ist.«
Angström musste an Piero Manzano denken. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört. Ob er Europol in Den Haag helfen konnte?
Die Internationale Atomenergie-Organisation hatte den Unfall in Saint-Laurent auf 6 hochgestuft, nur eine Kategorie unter den Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima. »Die Evakuierungszone wurde auf dreißig Kilometer ausgeweitet«, berichtete der mit der Sache befasste Kollege. »Damit sind unter anderem Städte wie Blois und Viertel von Orléans betroffen. Das Gebiet rund um das Kraftwerk, darunter Teile des UNESCO-Welterbes Loiretal, sind womöglich auf Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte unbewohnbar. Frankreich hat uns offiziell um Hilfe gebeten. Japan hat angeboten, Experten zu schicken.«
»Die müssen sich da ja auskennen«, bemerkte jemand voller Sarkasmus.
Angström fragte sich, ob der Franzose, der sie in Den Haag am Flughafen abgeholt hatte, in der Gegend Freunde oder Verwandte hatte.
»Ein ähnliches Szenario drohte der Umgebung des tschechischen Temelín, das inzwischen auf INES 4 steht«, fuhr der Kollege fort. »Über den Zustand des Reaktors herrscht Unklarheit. Experten meinen, dass es bereits zu einer partiellen Kernschmelze gekommen sein könnte.«
Aus sieben weiteren AKWs in ganz Europa meldete die IAEA Zwischenfälle der Stufen 1 und 2.
»Es betrifft uns zwar nicht unmittelbar«, meinte der Kollege, »aber auch aus dem US-amerikanischen Atomkraftwerk Arkansas One wird ein schwerer Störfall gemeldet. Dort kam es ebenfalls zu einem Ausfall der Notstromversorgung.«
Wenig wussten sie über die europaweiten Bedingungen für die Zivilbevölkerung. Mit Sicherheit konnten sie nur von den Verhältnissen in Brüssel ausgehen, denen sie und ihre Familien ausgesetzt waren. Die allgemeine Solidarität hatte breite Risse bekommen. Hatte man vor wenigen Tagen noch Wildfremden geholfen, beschränkten sich gute Taten mittlerweile meist auf den engsten Freundes- oder Familienkreis.
»Unruhen und Plünderungen werden mittlerweile aus zahlreichen Städten gemeldet«, sagte eine Kollegin.
Keinerlei gute Nachrichten, dachte Angström bedrückt. Die Lage war so finster wie die Nacht vor den Fenstern.
Zwischen Düsseldorf und Köln
Vor ihnen tauchte aus dem Dunkel ein Haus auf.
»Da vorn ist Licht«, sagte Manzano.
Shannon steuerte den Wagen darauf zu. Von der Straße führte ein schmaler, asphaltierter Weg weg. Shannon folgte ihm, bis vor ihnen ein großes Bauernhaus auftauchte. In seinem Erdgeschoss leuchteten drei Fenster. Sie hielten an und stiegen aus. Die Bewohner mussten den Motor gehört haben, denn jemand öffnete die Tür. Gegen das Licht von drinnen erkannten sie zunächst nur einen Schemen.
»Was wollen Sie?«, fragte ein Mann, der ein Gewehr quer vor der Brust hielt.
»Wir suchen etwas zu essen, bitte«, antwortete Manzano radebrechend.
Ihr Gegenüber beäugte sie misstrauisch.
»Woher kommen Sie?«
»Ich bin Italiener, und sie ist eine amerikanische Journalistin.«
»Schicken Wagen haben Sie da.« Der Mann deutete mit der Waffe auf den Porsche. »Und fährt sogar noch. Darf ich mal sehen?« Er machte einen Schritt auf sie zu, ließ die Waffe sinken.
Shannon zögerte, dann begleitete sie ihn zum Auto.
»Habe noch nie in so etwas gesessen«, sagte er. »Darf ich mal?«
Shannon öffnete die Tür, er setzte sich auf den Fahrersitz. Manzano war neben sie getreten.
»Den Schlüssel«, bat der Mann und streckte seine Hand aus. Als Shannon nicht sofort reagierte, richtete er den Lauf der Flinte auf sie.
»Den Schlüssel«, wiederholte er.
Shannon reichte ihm das gewünschte Teil.
Der Mann nahm ihn entgegen, startete. Dabei ließ er die Tür offen stehen, die Waffe so über seine Schenkel gelegt, dass sie weiterhin auf Shannon gerichtet war.
»Klingt gut. Und sogar noch Benzin im Tank.«
Er schloss die Tür und fuhr in ein offen stehendes Scheunentor, bevor Shannon oder Manzano reagieren konnten.
Shannon und Manzano liefen ihm nach. Als sie das Tor erreichten, war er bereits ausgestiegen und richtete die Waffe auf sie.
»Verschwinden Sie!«
»Sie können doch nicht …!«, rief Shannon auf Englisch, doch Manzano hielt sie zurück.
»Sie sehen ja, dass ich kann.«
»Wir holen die Polizei.«
Der Mann lachte. »Wenn Sie die finden …«
Wieder machte er mit dem Gewehr eine Bewegung auf sie zu.
»Selbst wenn es dir gelingen sollte, Mädchen, sage ich einfach, ihr hättet mir den Wagen freiwillig gegeben. Als Gegenleistung für Essen. Und jetzt …«
Noch ein Wink mit der Waffe.
Manzano hörte Shannon schnauben.
»Unsere Sachen«, sagte Manzano. »Geben Sie uns wenigstens unsere Sachen aus dem Auto.«
Der Mann überlegte kurz, dann zog er Shannons Seesack von der Rückbank, warf ihn vor ihre Füße.
»Den Computer auch«, bat Manzano und beeilte sich hinzuzufügen: »Aber nicht werfen, bitte!«
Er ging ein paar Schritte auf den Wagen zu, der Mann hob den Gewehrlauf, Manzano blieb stehen.
»Wozu brauchen Sie einen Computer?«
»Sie können nichts damit anfangen«, erwiderte Manzano. Und wiederholte: »Bitte.«
»Holen Sie ihn sich«, sagte der Mann unwirsch. »Aber keine falsche Bewegung.«
Manzano gehorchte. Er hinkte zum Wagen.
»Was ist mit Ihrem Bein?«
»Verletzt.«
»Ihr Kopf auch.«
Manzano sagte nichts.
Er zog den Computer unter dem Beifahrersitz hervor, wohin er verrutscht war.
»Und jetzt verschwinden Sie!«
Er schloss das Tor von innen.
Manzano und Shannon sahen sich an, liefen ein paar vorsichtige Schritte hinüber zum Hauseingang, der immer noch offen stand und aus dem schwacher Lichtschein drang.
»Dieser Mistkerl«, zischte Shannon, da erschien ein Schatten in der Tür.
»Verschwinden Sie, sagte ich!«, rief er. Gleich darauf zerriss ein Knall die Stille. Auf dem Boden vor Manzano spritzten Erde und Steinchen hoch.
»Scheiße!«, fluchte Shannon und sprang zurück. Als der nächste Schuss knapp neben ihr einschlug, stützte sie Manzano am Ellenbogen und zog ihn weg.
»Und kommen Sie ja nicht zurück!«, brüllte ihnen der Mann hinterher. »Beim nächsten Mal ziele ich besser!«
Den Haag
»Das schmeckt nicht!«
Bernadette knallte den Löffel in den Gemüseeintopf, den Bollard aus dem Hotel Gloria mitgebracht hatte.
»Etwas anderes bekommst du nicht«, antwortete Bollard.
»Ich will Spaghetti!«
Marie verdrehte die Augen. Die Grippemittel hatten geholfen, ihr Fieber war gesunken.
»Du siehst doch, dass der Ofen nicht geht. Wie willst du denn das Wasser für die Nudeln kochen? Auf dem Wohnzimmerkamin?«
Eigentlich ging es den Kindern gar nicht so schlecht, fand Bollard. Sie mussten nicht in die Schule, durften den ganzen Tag spielen, wegen der ungewöhnlichen Situation waren er und seine Frau nachsichtiger als sonst.
»Mir egal! Und Fernsehen will ich auch!«
»Bernadette, es ist genug!«
»Nein! Nein, nein!«
Sie sprang von ihrem Stuhl und trampelte aus der Küche.
Seine Frau warf Bollard einen verzweifelten Blick zu. Er stand auf und folgte seiner Tochter. Sie saß im Wohnzimmer auf dem Boden vor dem Kamin, in dem die Flammen flackerten. Konzentriert kämmte sie die Haare einer Puppe. Nur ihre aufgeworfene Unterlippe verriet ihren anhaltenden Trotz.
Bollard setzte sich gegenüber auf den Boden.
»Hör mal, Schatz …«
Bernadette senkte den Kopf, zog die Augenbrauen grimmig zusammen, schob ihre Lippe noch weiter vor und kämmte das Puppenhaar doppelt so schnell.
»Ich weiß, das ist gerade nicht einfach, aber wir alle …«
Er hörte das leise Schluchzen seiner Tochter, sah, wie die kleinen Schultern bebten. Dieses Weinen kannte er nicht von ihr. Das waren nicht nur Zorn und Trotz. Die Kinder verstehen vielleicht nicht, was vor sich geht, dachte er, aber sie spüren es. Unsere Ratlosigkeit, unsere Anspannung, unsere Angst. Bollard strich ihr über das Haar, nahm sie in den Arm. Ihr zarter Körper wurde jetzt geschüttelt, die Tränen tropften auf Bollards Hemd, der sie umschlungen hielt und sanft wiegte.
So fühlen wir uns doch alle, Schatz, dachte er, so fühlen wir uns alle.
Zwischen Köln und Düren
Shannon hatte Manzano einen Pullover aus ihrem Seesack geliehen, trotzdem zitterte er. Sie musste ihn stützen, da er sein verletztes Bein kaum mehr belasten konnte. Sie waren auf die Straße zurückgekehrt, auf der sie hergefahren waren. Die letzte Ortschaft lag ein paar Kilometer zurück. So weit würden sie es heute Nacht nicht schaffen, schon gar nicht mit Manzanos verletztem Bein.
»Dreckskerl!«, fluchte Shannon.
»Es geht nicht mehr«, stöhnte Manzano.
»Was willst du machen?«, fragte Shannon. »Wir können nicht mitten auf der Straße stehen bleiben. Wir holen uns den Tod.«
Manzano atmete schwer, dann schleppte er sich weiter.
»Schau, da vorn!«
Im Mondlicht erhoben sich die Umrisse einer schiefen Hütte auf einem Feld.
Sie kämpften sich über den zerfurchten Boden des Ackers. Das Holzhäuschen maß etwa fünf mal fünf Meter, hatte kein Fenster, vor der Tür hing ein verrostetes Schloss. Shannon trat mehrmals dagegen, doch der Riegel hielt stand. Sie versuchte, die Bretter der Tür aufzubiegen, die krachend nachgaben. Shannon hatte ein Stück herausgebrochen, das groß genug war, um ins Innere zu kriechen.
Sie wühlte in ihrem Seesack herum und fand die Streichhölzer, die sie noch in Paris eingepackt hatte. Sie legte sich auf den Bauch, zündete eines an und leuchtete hinein. So viel sie im bescheidenen Lichtkreis des Streichholzes erkennen konnte, war die Hütte bis auf ein paar alte Pfosten und etwas Heu leer. Die Flamme erlosch, Shannon warf ihren Seesack vor, dann robbte sie hinein. Mit ein paar heftigen Tritten gelang es ihr nun, die Tür zu öffnen.
»Ist nicht wärmer hier drin«, stellte Manzano fest.
»Das ändern wir«, sagte Shannon.
Durch ein großes Loch im Dach schimmerte das Mondlicht.
Sie sammelte das Heu zusammen, das herumlag, und häufte es in der Mitte aufeinander. Darauf legte sie das Holzstück, das sie aus der Tür gebrochen hatte. Mit einem Streichholz versuchte sie, das Heu anzuzünden. Der Haufen begann zu rauchen, aber nur wenige Halme glühten auf.
Shannon probierte es noch einmal, diesmal flackerten ein paar kleine Flammen, die sie mit behutsamem Blasen am Leben hielt. Schnell erfassten sie das restliche Stroh und leckten bald an dem darüberliegenden Holzstück. Dichter Rauch breitete sich in der Hütte aus, hustend wollte Manzano flüchten, als die Schwaden begannen, durch die Lücke im Dach abzuziehen.
Wenige Minuten später warf ein kleines Feuer tanzende Schatten an die Wände. In der Zwischenzeit hatte Shannon einen der verwitterten Pfosten, die in einer Ecke lehnten, auf die Flammen geworfen, und auch dieser begann zu glühen. Manzano hatte sich vor dem Feuer zusammengekauert und streckte seine Hände in die Wärme.
»Das ist großartig«, seufzte er. »Wo hast du das gelernt?«
»Pfadfinder«, antwortete sie. »Ein paar Jahre lang hat mich meine Mutter hingeschickt. Ich mochte es nie besonders. Wer hätte gedacht, dass es mir eines Tages nützt.«
Sie wusste, dass es nicht ungefährlich war, neben diesem Feuer einzuschlafen. Funkenflug konnte die gesamte Hütte in Brand setzen und der Rauch sie im Schlaf ersticken.
Eine Weile starrten sie stumm in die Flammen.
»Was für ein Irrsinn«, bemerkte Manzano schließlich.
Shannon erwiderte nichts.
»Ein Gedanke will mir nicht aus dem Kopf«, fuhr Manzano fort. »Welche Ziele die Angreifer damit verfolgen, dass sie uns den Lebenssaft unserer Zivilisation abdrehen. Ist es das, was sie wollen? Dass wir uns gegenseitig ausrauben und die Schädel einschlagen? Uns wieder wie Steinzeitmenschen verhalten?«
»Dann ist es ihnen gelungen«, meinte Shannon bitter, stand auf, kippte ihren Seesack aus, reichte ihm einige Kleidungsstücke. Viel war es nicht.
»Als Unterlage und zum Zudecken.«
»Bei allen ist es ihnen noch nicht gelungen.«
»Was?«
»Das mit dem Steinzeitverhalten. Danke.«
Manzano knüllte zwei T-Shirts und einen Pullover zu einer Kopfstütze zusammen. Shannon tat dasselbe mit einer Hose. Sie legten sich gegenüber, mit dem Blick zum Feuer. Shannon spürte die Kälte im Rücken, aber nicht mehr so beißend wie im Freien. Manzano hatte seine Augen bereits geschlossen.
Shannon warf noch einen Blick auf die kleinen Funken, die vereinzelt aus dem glühenden Pfosten sprangen, schloss gleichfalls die Augen und hoffte, dass sie am nächsten Morgen wieder aufwachen würde.