Ratingen

Hartlandt erwachte vor dem Morgengrauen. Leise schlüpfte er aus dem Schlafsack, zog sich an und erledigte in einem der Belegschaftsbäder seine Morgentoilette. Nur auf eine Rasur verzichtete er vorerst.

Ihr provisorisches Lagezentrum hatten sie mit Schlössern versperrt, Zutritt besaßen nur er und seine Leute. Darin installiert hatten sie ihre Computer, Server und ein TETRA-Funkgerät, mit dem auch Daten übertragen werden konnten.

Neben seiner operativen Aufgabe bei Talaefer oblag Hartlandt immer noch die Leitung der Einsatzgruppe Energieproduzenten und -verteiler. Er warf seinen Laptop an und überprüfte die aktuellen Daten aus dem Funk. Berlin hatte neues Material geschickt: die Analyse der Brände in den Schaltanlagen. Tatsächlich war die Ursache in drei der sechs Fälle höchstwahrscheinlich Brandstiftung gewesen. Bei allen Anlagen handelte es sich um solche des Höchstspannungsnetzes. Sie reduzierten die Spannung, sodass der Strom in die Mittelspannungsnetze weiterverteilt werden konnte. Waren sie beschädigt, wurde es also besonders schwierig, Strom über weite Strecken zu transportieren, die Spannung im Gesamtnetz besser zu verteilen und dieses wieder zu einem funktionierenden Ganzen zusammenschließen zu können. Die Liste war kurz: Cloppenburg, Güstrow, Osterrönfeld. Freundlicherweise hatten die Kollegen mehrere Listen erstellt, nicht nur eine alphabetische. Geordnet hatten sie sie auch nach dem ungefähren Beginn der jeweiligen Feuer. Deren Reihenfolge lautete: Osterrönfeld Samstag, Güstrow Sonntag, Cloppenburg Dienstag.

Außerdem wurde ein neues gemeldet in Minden gestern Abend.

Hartlandt war nicht schlecht in Geografie, aber im Kopf hatte er die Lage der Orte nicht. Er rief seine interaktive Deutschlandkarte auf, in der er, wie auch auf ihrer großen Wandkarte in Berlin, alle bisher gemeldeten Vorfälle markiert hatte. Die Orte lagen über ganz Norddeutschland verstreut.

Und da war noch eine Neuigkeit.

Sein Kollege Pohlen, ein blonder Hüne, tappte verschlafen in den Raum.

»Sieh dir das an«, sagte Hartlandt. »In drei Schaltstellen des Hochspannungsnetzes wurden Brände gelegt.«

»Über ganz Norddeutschland verteilt«, bemerkte Pohlen. »Haben die eine ganze Armee von Saboteuren?«

Hartlandt blendete die Punkte aus.

»Die Feuer entstanden nicht gleichzeitig, sondern mit zeitlichem Abstand«, erklärte er und blendete sie einen nach dem anderen wieder ein.

»Zuerst Norden, dann Osten, dann Westen«, stellte Pohlen fest. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Als ob jemand kreuz und quer durch das Land fährt und die Dinger abfackelt. Aber da ist noch eine Meldung. Hier. Vier weitere gesprengte Strommasten wurden entdeckt.«

Er gab die Standorte in sein System ein.

»Leider konnten die Teams vor Ort den Zeitpunkt der Sprengung nicht genau feststellen. Aber …«, stockte er, nachdem er alle Punkte auf der Karte gesetzt hatte, »das ist schon interessant.«

Hartlandt verband die Standorte der drei Brände mit einer Linie von Lübeck nach Güstrow im Osten und von dort nach Cloppenburg im Westen.

»Zwei der gesprengten Masten liegen ganz in der Nähe der Verbindungslinie Güstrow–Cloppenburg. Lass uns etwas versuchen.«

Er gab alle Daten sabotierter Anlagen ein, wie in einen Routenplaner im Internet. Dabei ordnete er sie von Norden nach Süden und Osten nach Westen. Die neue Linie begann bei einem der gesprengten Masten, führte über Lübeck und den zweiten Mast bei Schwerin nach Güstrow, von dort über Lüneburg und Bremen nach Cloppenburg bis Lingen an der niederländischen Grenze. Von dort prallte sie zurück wie eine Billardkugel von der Bande und endete bei Minden, wo der letzte Brand stattgefunden hatte.

»Es sieht wirklich so aus, als sei da jemand unterwegs und sabotiert systematisch strategisch wichtige Anlagen.«

»Dann müssen die restlichen Anlagen sofort geschützt werden!«, rief Pohlen.

»Vergiss es. Allein im Höchstspannungsnetz sind das Hunderte. Wir können unmöglich alle bewachen lassen, die Polizei und Bundeswehr ächzen ohnehin schon. Von Anlagen der Mittel- und Niederspannungsnetze haben wir bislang nichts gehört, aber davon stehen mehr als eine halbe Million in Deutschland, zum Beispiel die klassischen Trafohäuschen, kennst du auch. Wenn du die gesamte Bundeswehr einsetzt, kannst du nicht einmal neben jede zweite Anlage einen Mann stellen. Ganz zu schweigen von Strommasten. Aber diese Linie ergibt ein Muster. Wenn sie einer ähnlichen Route wie der bisherigen ungefähr folgen«, und dabei fuhr sein Finger entlang einer imaginären Verlängerung der Strecke Lingen–Minden, »können wir die potenziellen Ziele stark einschränken.«

»Die müssten gut geplant haben«, überlegte Pohlen laut. »Tanken können sie nicht. Das wussten sie vorher. Das heißt, sie müssen vorab auf den Routen Lager angelegt haben. Ein ziemlicher logistischer Aufwand.«

»So schlimm auch wieder nicht«, widersprach Hartlandt. »Wenn jeder Trupp nichts anderes zu tun hatte. Da genügen zwei, drei Leute. Die benötigen dafür nur ein paar Monate. Verstecke finden, präparieren, nach und nach auffüllen, damit niemand Verdacht schöpft oder es später nachvollziehen kann. Denk an die Attentäter vom 11. September 2001: Das war auch keine Armee.«

Er griff zum Funkgerät.

»Mal sehen, wie die das in Berlin sehen.«

Den Haag

»Wir haben Ihre Theorie diskutiert«, erklärte Bollard Manzano. »Die mit den SCADA-Systemen von Talaefer. Im Rahmen eines Amtshilfeverfahrens gehen die deutschen Behörden der Sache nach. Unsere eigenen Leute können wir aber nicht schicken, wir brauchen jeden Mann hier.«

Er beugte sich nach vorne und stützte die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch. »Deshalb kurz und geradeheraus: Hätten Sie Lust, in einen Ort namens Ratingen bei Düsseldorf zu fahren und dort Ihre Fähigkeiten einzusetzen?«

Manzano hob überrascht die Augenbrauen.

»Ich bin kein SCADA-Spezialist.«

Bollard grinste ihn an.

»Ich glaube Ihnen viel, sogar Ihre Theorien, aber das nicht. Und selbst wenn es wahr wäre, Sie erkennen Fehler in Systemen. Darum geht es bei der Sache. Vielleicht laden Sie sich die Berichte einmal herunter, sie stehen bereits in unserem Netz. Ich kann Ihnen allerdings nicht garantieren, dass es in Ratingen auch noch beheizte Hotels mit Warmwasser und Toiletten gibt.«

»Sie verstehen es, mir die Aufgabe schmackhaft zu machen.«

»Dafür bekommen Sie einen Wagen zur Verfügung gestellt. Über das Honorar werden wir uns sicher einig. Erzählen Sie bloß Ihrer Freundin nichts davon.«

»Sie ist nicht meine Freundin.«

»Wie auch immer. Fahren Sie?«

»Ab sofort hast du das Zimmer für dich«, erklärte ihr Manzano, während er seinen Koffer packte. Shannon war gerade von einer Rundfahrt durch die Stadt zurück, von der sie ein paar Kurzreportagen mitgebracht hatte.

»Du reist ab? Wohin?«

»Unwichtig.«

Aus dem Bad hörte sie die Toilettenspülung, darauf den Wasserhahn, dann trat Bollard heraus.

»Ah, die Starreporterin«, sagte er spöttisch. »Würden Sie uns bitte noch kurz alleine lassen?«

Shannon zögerte, immerhin war es auch ihr Zimmer. Na ja, nicht wirklich. Sie legte ihre Kamera auf den Schreibtisch, verließ den Raum, schloss die Tür von außen und legte ihr Ohr daran. Sie verstand nur einzelne Worte, die ihr nichts sagten. Dann endlich doch einen ganzen Satz.

»Vorausgesetzt, die Deutschen haben einen funktionierenden Internetzugang«, sagte Manzano.

Nach Deutschland fuhr er also. Shannon überlegte fieberhaft.

»Man kann über die Deutschen sagen, was man will, aber organisiert sind sie«, erwiderte Bollard. »Das BKA bei Talaefer hat sicher die notwendige Ausrüstung. Hier sind die Wagenschlüssel. Das Auto steht in der Hotelgarage, ein schwarzer Audi A4 mit niederländischem Kennzeichen und vollem Tank. Damit kommen Sie spielend bis Ratingen« – er betonte den Namen auf der letzten Silbe – »und zurück.«

Shannon hörte Schritte und lief auf Zehenspitzen zwei Türen weiter. Dort lehnte sie sich gegen die Wand, verschränkte die Arme, als ob sie seit Ewigkeiten so hier wartete.

Bollard nickte ihr im Vorbeigehen zu.

Shannon kehrte ins Zimmer zurück. Manzano stand mit Koffer und Laptoptasche zum Aufbruch bereit.

»Hat mich gefreut«, sagte er und reichte ihr die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns wieder, wenn diese ganze Geschichte vorbei ist. Vielleicht machst du ja einmal eine Story in Mailand. Meine Adresse hast du.«

Shannon wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war. Hastig begann sie, ihre Habseligkeiten in den Seesack zu stopfen.

New York

Rund um Tommy Suarez drängten sich Menschen in der Subway-Linie A Richtung Brooklyn, wischten Schnee von ihrer dampfenden Kleidung, telefonierten, lasen und starrten ins Leere, als das Licht ausfiel.

Das Kreischen der Bremsen verschmolz mit den Schreien der Passagiere. Fremde Körper rammten ihn, der Haltegriff schnitt in sein Handgelenk, dann fühlte er sich durch den Schmerz der Stöße gegen Rippen, Rücken und Beine wie ein Stück von vielen in einer Waschtrommel, Schleudergang. Mit einem Ruck kam die U-Bahn zum Stehen. Einen Atemzug lang dehnte sich die Stille im Waggon aus, dann begannen die Menschen wild durcheinanderzurufen. Suarez fand das Gleichgewicht wieder. Sein Zorn über den Moment der Hilflosigkeit wich der Erleichterung darüber, dass er die Grenzen zwischen sich und der Umwelt wieder wahrnehmen konnte. Die Notleuchten überzogen alles mit einem geisterhaften Blau. Suarez spürte, wie er erstarrte. Er hasste das Gefühl, wenn sich die Räume um ihn schlossen wie ein Sarg. Er musste sich konzentrieren. Ablenken. Sein Bauch wurde von einem Mann mit Bart umarmt. Überall im Waggon rappelten sich Menschen auf, andere halfen ihnen dabei. Auf den Bänken setzte man sich auf seinen Platz zurück, Mäntel wurden abgeklopft, Hüte gerückt, Handtaschen kontrolliert, die Ordnung wiederhergestellt. Suarez hievte seinen schwerfälligen Anhang in die Senkrechte. Schob ihn dabei beiläufig etwas von sich weg.

»Sind Sie okay?«

Der Bärtige bedankte sich und zog seinen Mantel zurecht.

Langsam gewöhnten sich Suarez’ Augen an das Dämmerlicht. Als ob es heller würde, dachte er. Das half. Er merkte, wie er sich etwas entspannte.

»Ist jemand verletzt?«, rief er.

Verneinendes Gemurmel.

»Und?«, brüllte eine Stimme weiter vorn. »Geht es jetzt weiter?«

»Na hoffentlich«, flüsterte eine Frau neben Suarez.

Suarez hatte keine Ahnung, wie weit es noch bis zur nächsten Station war. Hoffentlich war niemand vor den Zug gesprungen. Die Gespräche um ihn herum wurden lauter. Er sah auf die Uhr. Viertel vor sieben. Wo blieb die Durchsage des Zugführers?

»Super!«, erklärte eine ältere Dame lautstark. »Hoffentlich nicht wieder ein Stromausfall! Beim großen Ausfall 2003 steckte ich zwei Stunden in so einem Ding fest!«

»Zwei Stunden?«, rief eine junge Frau. In ihrer Stimme hörte Suarez unterdrückte, ansteckende Panik.

»Und da hatte ich noch Glück!«, legte die Alte nach. »Andere …«

Sollte sie doch den Mund halten!

»Es geht sicher gleich weiter«, beruhigte Suarez die junge Frau. Nicht jeder blieb in dunklen, engen Räumen mit vielen Menschen gelassen. Erst recht nicht mit der Aussicht, es für mehrere Stunden aushalten zu müssen. Er verstand sie sehr gut. Und er mochte keine Schwarzseher, noch weniger in solchen Situationen. »Uns kann nichts geschehen.«

Neben ihm tippte ein Jugendlicher auf seinem Mobiltelefon.

»Na klar, geht auch nicht das Ding.«

»Kein Wunder, hier unter der Erde.« Der Bärtige, der Suarez’ Bauch umarmt hatte. »Neumodisches Zeug. Versagt immer genau dann, wenn man es braucht.«

»Funktioniert sonst immer«, behauptete der Junge.

»Was machen wir eigentlich, wenn das so bleibt?«, fragte ein Mann, seine Aktentasche unter den Arm geklemmt.

»Wenn was so bleibt?«, wollte eine Frau wissen. Ihr Anorak glänzte, sein Kragen war mit Kunstpelz besetzt. Suarez wusste nicht, warum er darauf achtete. Er roch ihr Parfüm, zu stark, zu süß.

»Kein Licht, keine Weiterfahrt.«

»Das kann ich Ihnen sagen«, mischte sich die Alte von vorhin wieder ein. »Warten. Warten und frieren.«

Am liebsten hätte Suarez ihr eine runtergehauen, um sie zum Schweigen zu bringen. Aber es wäre, wie seine Mutter zu ohrfeigen.

»Ruhe bewahren und Anweisungen abwarten«, erwiderte die Frau mit dem pelzbesetzten Anorak.

»Ich bin die Ruhe selbst!«

»Steht da.« Die Frau zeigte auf den Kleber neben der Tür. »Verhalten bei Betriebsstörungen.«

»Kann ja keiner lesen bei dem Licht«, raunzte der bärtige Mann.

»Zug außerhalb der Station nur nach Anweisung verlassen«, las die Anorakträgerin überdeutlich vor.

»Wenn jemand einmal Anweisungen geben würde …«

Suarez mochte die Gereiztheit in den Stimmen nicht. Er fühlte die Unruhe in der Menge wachsen.

»Und wenn es jetzt auch uns erwischt hat?«, fragte die Frau mit dem Kunstpelz. »So wie die Europäer?«

Die junge Frau begann voller Panik zu wimmern, dann zu schreien. Suarez merkte, wie er abermals erstarrte, wie sich ihre Panik auf ihn und die anderen übertrug. Er musste sich beherrschen, sie nicht anzubrüllen, versuchte stattdessen, sie zu beruhigen, klopfte auf ihre Schulter, wollte sie in den Arm nehmen.

Sie schlug um sich, wurde noch hysterischer.

»Lassen Sie mich! Ich will hier raus!«

Den Haag

»Kommen Sie herein«, rief einer der Männer.

Nach Manzanos Abreise waren seine Bewacher gerade dabei, zurück zu Europol zu übersiedeln.

»Zweierlei«, erklärte einer der Beamten. »Erstens: Diese Journalistin ist sofort nach Manzanos Abfahrt ebenfalls aufgebrochen. Wohin sie ist, wissen wir nicht.«

»Womöglich hinter ihm her«, sagte Bollard. »Er war ja schon einmal für eine Geschichte gut.«

»Und dann das hier. Haben wir eben erst entdeckt. Er muss die E-Mail kurz vor seinem Aufbruch geschickt haben.«

Auf dem Bildschirm des Beamten sah Bollard eine Nachricht, verfasst in leidlichem Englisch: Zu Talaefer. Bug suchen. Werden nichts finden. Halte dich auf dem Laufenden.

Wusste ich es doch!, dachte Bollard triumphierend.

»An wen ging es?«

»An eine russische Adresse. Mata@radna.ru. Mehr wissen wir noch nicht.«

»Findet es heraus. Warum seht ihr das erst jetzt?«

»Muss er irgendwie hinausgeschmuggelt haben.«

»Oder ihr habt in der Nase gebohrt.«

Werden nichts finden – woher wusste er das? Oder wollte er verhindern, dass sie etwas fanden? Warum hätte er sie dann überhaupt auf die Spur der Talaefer AG bringen sollen? Um Zugang zum Unternehmen zu bekommen? Manzano hatte nicht damit rechnen können, dass er ihn hinschicken würde. Vielleicht hätte Manzano es selbst vorgeschlagen, wäre Bollard ihm nicht zuvorgekommen. Eigenartig schien es ihm, dass der Italiener die Mail so offen verschickt hatte. Er musste damit rechnen, dass Europol ihn überwachte. Bollard musste den Direktor unterrichten. Denn wenn etwas dahintersteckte, hatten sie ihre erste ganz heiße Spur. Er fühlte, wie ihn das Jagdfieber packte.

»Wo ist der Direktor?«

»In seinem Quartier in Breitscheid.«

Er griff zum Telefon, um seinen Chef anzurufen. Es dauerte nicht lange, bis er dessen Assistenten von der Dringlichkeit des Anrufes überzeugt hatte und durchgestellt wurde. In kurzen Worten schilderte er ihm den Vorfall. Das Diktum seines Vorgesetzten hatte Bollard erwartet.

»Wir können kein Risiko mehr eingehen. Informieren Sie diesen BKA-Mann, der die Talaefer-Sache betreut, wie heißt er noch?«

»Hartlandt«, antwortete Bollard.

»Genau. Sie sollen den Italiener verhaften. Und sehen, was sie aus ihm herausbringen. Die CIA hilft ihnen sicher mit Freuden dabei.«

Warum der amerikanische Geheimdienst?

»Warum die CIA

»Haben Sie die Nachrichten denn noch nicht erhalten?«

»Welche Nachrichten?«

Berlin

»Die USA

Für einen langen Augenblick wirkte das Lagezentrum des Innenministeriums wie ein Schnappschuss. In ihrer jeweiligen Bewegung verharrend starrten alle auf die wenigen verbliebenen Bildschirme und den Staatssekretär. Die Uhren zeigten kurz nach vierzehn Uhr.

»Dasselbe wie bei uns?«, fragte jemand.

Rhess nickte. An sein Ohr hielt er den Telefonhörer gepresst und nickte immerzu.

Michelsens Blick sprang zwischen den Fernsehern und dem Staatssekretär hin und her.

»Wenn das wahr ist«, flüsterte sie ihrer Nachbarin zu, »sind wir endgültig im Arsch, entschuldige den Ausdruck.«

Rhess legte auf.

»Das Außenministerium bestätigt, dass weite Teile der US-Stromnetze zusammengebrochen sind.«

»Das ist kein Zufall«, sagte jemand. »Nur knapp eine Woche nach Europa.«

»Hilfe von dort können wir jetzt auch abschreiben«, stellte Michelsen fest.

»Die westliche Welt ist unter Beschuss«, konstatierte Rhess. »Das NATO-Oberkommando trifft sich in diesen Minuten zu einer Notsitzung.«

»Die glauben doch nicht, dass es die Russen oder Chinesen waren?«

»Alle Möglichkeiten müssen in Betracht gezogen werden.«

»Der Himmel steh uns bei«, flüsterte Michelsen.

Kommandozentrale

Die amerikanischen Stromnetze waren eigentlich einfacher gewesen als die europäischen, weil sie schlechter gesichert und noch enger mit dem Internet verbunden waren. Doch einige der Zero-Days hatten keinen früheren Einsatz zugelassen. Lieber hätten sie auf beiden Kontinenten gleichzeitig zugeschlagen. Aber so war es auch gut. Vielleicht sogar besser. Seit fast einer Woche rätselte die Welt, wer hinter den Anschlägen auf Europa stand. Der Ausfall in den USA würde neue Gerüchte nähren. Mit Sicherheit schalteten sich die Militärs jetzt noch intensiver ein. So ein breiter Angriff ließ einen Staat als Verursacher vermuten. Infrage kamen einige: Iran, Nordkorea, China, sogar Russland. Seit Jahren fand man Hinweise darauf, dass sie und andere die Computersysteme der kritischen Infrastrukturen des Westens infiltrierten. Jetzt hatte also einer die Ernte dieser Saat eingefahren und losgeschlagen. Aber wer? Natürlich würden alle dementieren. Es war so einfach. Niemand konnte die Spuren zu den Urhebern zurückverfolgen. Dazu waren sie im globalen Netz viel zu leicht zu verwischen. Die Theorien würden überborden. Und die Ermittler bei Polizei, Militär und Nachrichtendiensten mussten unzähligen neuen Spuren, Hinweisen, Richtungen folgen, ihre Ressourcen aufteilen, schwächen. Krieg? Terror? Kriminalität? Von allem etwas? Noch verheerender war der psychologische Effekt. Die letzte Supermacht der Welt, ohnehin angeschlagen durch die Wirtschaftskrise, hatte sich nicht verteidigen können. Gegen diese Attacke waren Pearl Harbour und die Anschläge vom 11. September 2001 in New York und Washington Insektenstiche gewesen. Bald würde auch die amerikanische Bevölkerung merken, dass sie diesmal nicht einfach ein Heer in irgendeine entfernte Weltgegend schicken konnte. Denn sie wusste nicht, wohin. Und sie würde bemerken, wie hilflos sie war. Wie hilflos ihre Regierung, ihre Mächtigen und Reichen, ihre sogenannten Eliten, ihr gesamtes System. In dem sie sich schon längst nicht mehr wohl, geschweige denn aufgehoben fühlten, aber das sie dem Unbekannten vorzogen. Sie würde begreifen, dass sie alleingelassen wurden. Schon vor langer Zeit. Dass ein neues Zeitalter der Aktion angebrochen war, in dem sie ihre eigenen Territorien schaffen mussten, durften, konnten.

Ratingen

Zu Beginn der Fahrt hatte Manzano noch versucht, Radiosender zu empfangen, doch aus den Lautsprechern klang nur Rauschen. Seitdem war er durch die Stille gefahren. Auch nicht schlecht, nach den Aufregungen der vergangenen Tage.

Das Navigationssystem führte ihn von der Autobahn durch eine Siedlung mit Einfamilienhäusern an den Stadtrand zu einem fünfzehnstöckigen Glas- und Betonklotz. Über der Fassade thronte der Schriftzug »Talaefer AG«. Manzano stellte den Wagen auf einem Gästeparkplatz ab. Er nahm den Laptop mit. Sein restliches Gepäck ließ er vorerst im Wagen.

Am Empfang fragte er nach Jürgen Hartlandt. Zwei Minuten später begrüßte ihn ein athletischer Mann seines Alters. Er trug einen dicken Seemanns-Rollkragenpulli und Jeans. Seine hellblauen Augen musterten ihn blitzschnell. Ihn begleiteten zwei jüngere Männer, Kurzhaarschnitt, ebenso trainiert wie der Ältere, auch sie in Freizeitkleidung.

»Jürgen Hartlandt«, stellte sich der Anführer vor. »Piero Manzano?«

Manzano nickte, und die beiden anderen postierten sich links und rechts von ihm.

»Folgen Sie mir bitte,« sagte Hartlandt in nahezu akzentfreiem Englisch, ohne seine Kollegen vorzustellen. Er führte Manzano in einen kleinen Besprechungsraum. Hinter ihnen schloss er die Tür, bei der einer seiner Begleiter stehen blieb.

»Setzen Sie sich. Ich habe eine Nachricht von Europol aus Den Haag erhalten. Ich muss zur Sicherheit vorab Ihren Computer überprüfen.«

Manzano runzelte die Stirn. »Der ist meine Privatsache.«

»Haben Sie etwas zu verbergen, Herr Manzano?«

Manzano begann sich unwohl zu fühlen. Er fragte sich, was dieses Vorgehen sollte. Hatte man ihn nicht gebeten, hier zu helfen? Ihm gefiel Hartlandts Ton nicht.

»Nein. Aber eine Privatsphäre.«

»Dann machen wir es anders«, schlug Hartlandt vor. »Erklären Sie mir bitte, wer Mata@radna.ru ist.«

»Wer soll das sein?«

»Das frage ich Sie. Sie haben eine E-Mail an diese Adresse geschickt.«

»Sicher nicht. Und selbst wenn, woher wüssten Sie es?«

»Sie sind nicht der Einzige, der sich mit IT auskennt und in fremden Rechnern umsehen kann. Europol hat Sie natürlich überwacht. Wer ist Mata@radna.ru?«

»Noch einmal: Ich weiß es nicht.«

Einer von Hartlandts Begleitern nahm Manzano die Laptoptasche ab, bevor er sich dagegen wehren konnte. Manzano sprang auf. Der andere Mitarbeiter Hartlandts drückte ihn in seinen Stuhl zurück.

»Was soll das?«, rief Manzano. »Ich dachte, ich soll Sie hier unterstützen?«

»Das dachten wir zuerst auch«, antwortete Hartlandt, während er den Laptop auspackte und anschaltete.

»Dann gehe ich eben wieder«, erklärte Manzano.

»Tun Sie nicht«, erwiderte Hartlandt, ohne von dem Bildschirm aufzusehen.

Manzano versuchte aufzustehen, wurde jedoch abermals zurückgehalten.

»Bleiben Sie bitte sitzen«, befahl Hartlandt, drehte Manzano seinen Laptop zu und sagte: »Sie haben also keine E-Mail an Mata@radna.ru geschickt.«

Auf dem Bildschirm las Manzano eine Mail von seiner Adresse an die von Hartlandt genannte.

Zu Talaefer. Bug suchen. Werden nichts finden. Halte dich auf dem Laufenden.

Er las sie noch einmal. Sprachlos sah er Hartlandt an. Musste wieder auf den Bildschirm starren. Endlich brachte er ein paar Worte hervor: »Das habe ich weder geschrieben noch geschickt.«

Hartlandt kratzte sich am Kopf. »Das ist aber schon Ihr Laptop?«

Manzano nickte. Seine Gedanken rasten. Er sah das Versanddatum der Mail. Etwa um die Zeit war er in Den Haag aufgebrochen. Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe das nicht geschrieben. Ich habe keine Ahnung, wer das getan hat. Untersuchen Sie das Gerät. Vielleicht ist es manipuliert worden. Ich würde es ja selbst gern tun. Aber ich vermute, dass Sie das nicht zulassen werden.«

»Da haben Sie recht. Das Gerät untersuchen wir.« Er reichte den Computer einem seiner Männer, der damit den Raum verließ. »Währenddessen können wir uns weiter über Ihre E-Mail-Bekanntschaften unterhalten.«

»Da gibt es nicht viel zu unterhalten«, erwiderte Manzano. »Ich kenne weder diese Mail noch die Adresse. Deshalb kann ich dazu auch nichts sagen.«

Währenddessen überlegte er fieberhaft, wie die Botschaft von seinem Account verschickt werden konnte. Ihm fielen nur zwei Möglichkeiten ein. »Sie sagen selbst, dass mein Laptop von Europol angezapft wurde. Suchen Sie den E-Mail-Verfasser dort.«

»Warum sollte Ihnen Europol falsche E-Mails unterschieben?«

»Um mich zu belasten, von sich abzulenken, falsche Spuren zu legen, was weiß denn ich?« Manzano wurde sauer. Er war schon öfters von der Polizei verhört worden, doch das war Jahre her. Beim letzten Mal hatten sie ihm etwas nachweisen können und ihn zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Damals war das Delikt vergleichsweise harmlos gewesen. »Oder«, fuhr er fort, »jemand anderer hat meinen Computer gehackt. Und will mir diese Mail anhängen. Warum auch immer. Und Sie fallen prompt darauf herein.«

Er hatte sich im Lauf seines Lebens nicht nur Freunde gemacht. Aber keine Feinde, die ihm etwas Derartiges einbrocken würden und – vor allem – auch in der Lage dazu wären. Denn natürlich war sein Laptop ausgezeichnet gegen Eindringlinge geschützt. Wer es trotzdem schaffte, gehörte zur obersten Liga. Außerdem musste dieser Jemand über seinen Aufenthaltsort und seine Pläne Bescheid wissen. Das waren nur die Leute bei Europol.

»Das sind ja schöne Theorien«, widersprach Hartlandt. »Wer außer Ihnen wusste zu diesem Zeitpunkt denn überhaupt, dass Sie hierherkommen sollten?«

»François Bollard von Europol. Vielleicht ein paar Kollegen, die er informiert hat, das weiß ich nicht …«

»Der Direktor von Europol und noch ein Kollege«, entgegnete Hartlandt. »Ich habe Bollard gefragt.«

»Hoffentlich hat er Ihnen die Wahrheit gesagt.«

Dass der Franzose ihn nicht besonders mochte, hatte Manzano gemerkt. Aber deshalb so etwas?

»Wer noch?«

Er überlegte, wem er noch davon erzählt hatte. Shannon nicht.

»Waren das alle?«

»Ja.«

Auf seinem eigenen Computer rief Hartlandt offensichtlich eine Datei auf, aus der er ablas: »Sie sind Piero Manzano, zumindest in den Achtziger- und Neunzigerjahren brillanter Hacker, außerdem politischer Aktivist …«

»Na, das ist jetzt übertrieben. Ich war auf der einen oder anderen Demonstration. In meiner Heimat gab und gibt es ja genug Missstände, gegen die man demonstrieren musste und muss. Auch als ganz normaler besorgter Bürger.«

»Beim G-8-Gipfel in Genua 2001 wurden Sie sogar kurzzeitig verhaftet«, fuhr Hartlandt ungerührt fort.

»Himmel! Haben Sie nicht mitbekommen, was die Polizei dort damals getan hat? Dutzende Polizeibeamte, darunter Führungskräfte, wurden später dafür sogar verurteilt! Nur die grotesken Verjährungsgesetze unseres Landes verhinderten, dass die meisten dafür auch ins Gefängnis mussten!«

»Zudem wurden Sie verurteilt wegen des illegalen Eindringens in die Computernetzwerke von …«

»Gute Güte, erzählen Sie mir nicht mein Leben. Ich weiß, was ich getan habe …«

»Da draußen greift jemand Europa und die USA an! Und bei Ihrer Mail könnte man …«

»Moment, Moment! Wieso die USA

»… den Verdacht bekommen, dass Sie mit diesem Jemand Kontakt haben.«

Diesmal spürte Manzano, wie ihm alles Blut aus dem Gesicht wich, sich aus Händen, Armen, Füßen und Beinen zurückzog und mit voller Wucht in seinem Herzen Zuflucht suchte, das nun bis in seinen Hals zu klopfen begann.

Sie verdächtigten ihn, Piero Manzano, zu den Urhebern der Katastrophe zu gehören! Dieser Hartlandt hatte ihn gerade zu einem politischen Cyberaktivisten erklärt. Sie glaubten, er wäre ein Terrorist!

»Das… das … ist absurd.«

Warum stotterte er? Für Hartlandt musste das in dieser Situation wie ein Eingeständnis klingen. Manzano wusste, dass er unschuldig war! Es war die Angst, die ihm in alle Glieder gekrochen war, das Blut daraus und das Selbstbewusstsein aus seinem Gehirn vertrieben hatte.

»Das werden wir herausfinden«, erwiderte Hartlandt, eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen.

»Da werden Sie … Und was soll das mit den USA

»Haben Sie auf Ihrer Reise kein Radio gehört?«

»Keine Station scheint mehr senden zu können.«

»In den Vereinigten Staaten geht es seit heute Morgen ähnlich zu wie bei uns. Weite Teile des Landes sind ohne Strom.«

»Das … ist nicht Ihr Ernst.«

»Glauben Sie mir, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt. Besser, Sie fangen an zu erzählen, bevor die CIA sich für Sie interessiert.«

Shannon griff nach ihrer Daunenjacke auf der schmalen Rückbank des Porsche und zog sie über. Im Auto war es kalt geworden. Seit einer Stunde wartete sie auf dem Parkplatz vor dem riesigen Bürogebäude, das etwas außerhalb der Stadt lag. Über dem obersten Stockwerk stand in riesigen Buchstaben »Talaefer AG«. Unter normalen Umständen wäre sie mit ihrem Mobiltelefon online gegangen und hätte nachgesehen, um was für ein Unternehmen es sich handelte. Aber es herrschten keine normalen Umstände. Ohne Radio gestaltete sich das Warten als still und langweilig.

Sie stieg aus und überquerte den Parkplatz. Stehen doch einige Wagen hier, dachte sie. Vielleicht haben die Notstrom.

In der Empfangshalle saß eine einsame Frau und begrüßte Shannon mit hochgezogener Augenbraue.

»Was kann ich für Sie tun?«

Shannon sah sich unauffällig um. Am Tresen vor der Frau enthielt ein kleiner Ständer Broschüren, auf denen der Firmenname prangte. Deutsche Version. Englische. Ausgezeichnet.

»Do you speak English?«, fragte sie.

»Yes.«

»I think I’m lost. I need to go to Ratingen.«

Die Miene ihres Gegenübers hellte sich auf. In unbeholfenem Englisch erklärte sie Shannon, dass sie nur die Straße vom Parkplatz rechts fahren müsse und so nach einem Kilometer in Ratingen sei.

Shannon bedankte sich, blätterte beiläufig in einer der Broschüren und steckte sie ein.

»Bye.«

Zurück im Wagen kuschelte sie sich noch tiefer in ihre Jacke und begann mit dem Studium des Prospekts, immer wieder unterbrochen von kurzen Blicken zum Eingang, in dem Manzano verschwunden war.

Nanteuil

»Aus«, sagte Bertrand Doreuil und schüttelte die leere Medikamentenpackung. »Ich brauche dringend neue.«

»Aber wir sollen die Häuser nicht verlassen«, wandte seine Frau ein.

»Ich steige direkt vor dem Haus ins Auto. Was soll da passieren?«

Er ging in die Küche, Annette Doreuil folgte ihm. Celeste Bollard saß am Tisch und rupfte ein Huhn. Die Federn sammelte sie in einem großen Korb, doch nicht wenige verteilten sich auf dem Küchenboden.

»Das habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht«, seufzte sie. »Ich habe ganz vergessen, wie anstrengend das ist.«

Durch die gegenüberliegende Tür trat schnaufend Vincent Bollard, in jeder Hand einen Korb voller Brennholz. Polternd stellte er sie ab.

»Wisst ihr, wo ich die nächste offene Apotheke finde?«, fragte Bertrand Doreuil.

»Können wir nur ausprobieren«, antwortete Vincent Bollard. »Ist es dringend?«

»Ja, meine Herzmedikamente.«

Bollard nickte nur.

Seine Frau wechselte einen Blick mit Annette Doreuil.

»Eigentlich sollen wir da ja nicht hinaus«, ächzte Bollard kurzatmig. »Aber wenn wir müssen, müssen wir.« Er drückte seiner Frau einen Kuss auf die Wange. »Wir sind bald wieder zurück.«

Ratingen

Zwei Stunden lang hatte Hartlandt Manzano in die Zange genommen.

»Was heißt: Werden nichts finden? Gibt es denn etwas zu finden, und Sie werden verhindern, dass es gefunden wird? Oder gibt es nichts zu finden? Glauben Sie, Zugriff auf die Systeme zu erhalten und sie dann manipulieren zu können? Worüber wollen Sie wen auf dem Laufenden halten? Was haben Sie schon alles verraten?«

Endlose Fragerei. Manzano hatte mit Gegenfragen geantwortet.

»Warum sollte ich so dumm sein, eine derartige Botschaft unverschlüsselt zu senden? Warum sollte ich sie nicht gleich nach Versand gründlich löschen?«

Dazwischen war Hartlandt mehrmals aus dem Raum gegangen und hatte Manzano allein gelassen, nicht ohne vorher die Tür abzusperren. Nun saß er seit einer Viertelstunde wieder vor Manzano, fixierte ihn und wiederholte die immer gleichen Fragen.

Manzano konnte ihm keine neuen Antworten geben. Er hatte seine Selbstsicherheit zurückgewonnen. Er dachte, dass er Hartlandt damit am besten von seiner Unschuld überzeugen konnte. Zwischen Hartlandts Befragungen überlegte er, wie er an seinen Laptop gelangen könnte, um ihn zu untersuchen.

Die Tür ging auf, und Hartlandts zweiter Mitarbeiter trat ein. In seinen Händen erkannte Manzano seinen Laptop. Der Mann stellte das Gerät vor Hartlandt auf den Tisch. Hartlandt ließ Manzano nicht aus den Augen.

»Wir konnten keine Auffälligkeiten finden«, sagte er.

Manzano stöhnte auf und verdrehte die Augen. »Ich sehe einmal nach. Jetzt haben Sie ihn ja durchsucht. Eine Kopie der Festplatte haben Sie vermutlich ohnehin gemacht.«

»Dafür haben wir weitere E-Mails entdeckt, in denen Sie verschiedene Adressen über Ihren Aufenthalt in Den Haag informieren.«

Manzano fühlte einen Schlag in die Magengrube. »Das ist lächerlich!«, rief er. »Was soll das werden?«

Hartlandt klappte den Monitor hoch und drehte ihn zu Manzano.

»Das zum Beispiel, von vorgestern.«

Er stand auf, kam um den Tisch herum, stützte sich so knapp neben Manzano auf, dass er ihn fast berührte, und las vor:

»Guten Kontakt zu Einsatzleiter F. Bollard. Glaube, dass er mir vertraut. Habe Daten über SCADA-Produzenten angefordert

Er klickte das Fenster weg, ein anderes erschien.

»Oder hier, von gestern: Habe Talaefer-Theorie ventiliert. Mal sehen, ob sie darauf anspringen.«

Manzano starrte fassungslos auf den Bildschirm.

»Ich habe die nicht geschrieben«, erklärte er leise. »Keine Ahnung, woher die kommen.«

Diese E-Mails waren während seines Aufenthalts in Den Haag versendet worden. Wollte Europol ihm aus irgendwelchen Gründen etwas anhängen? Brauchten sie einen Sündenbock? Suchte jemand Revanche für Manzanos frühere Aktionen?

»Sie sind mir ein schöner Computercrack«, meinte Hartlandt und richtete sich wieder auf. »Herr Manzano, wir nehmen Sie fest. Sie haben das Recht auf einen Anwalt …«

Manzano hörte nicht mehr zu. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Jemand verfolgte seit Tagen seine Schritte, wusste, worüber er mit Bollard und anderen gesprochen hatte, dass Europol ihn nach Deutschland schickte. Nichts davon hatte er in seinem Computer notiert, festgehalten, beschrieben. Wer immer davon wusste, musste dabei gewesen sein. Manzano fielen nur zwei Möglichkeiten ein. Entweder jemand bei Europol hatte sich gegen ihn verschworen. Oder jemand außerhalb von Europol hörte – und sah? – ihnen die ganze Zeit zu. Ein ungeheurer Verdacht keimte in ihm auf. Den er Hartlandt gegenüber gar nicht zu äußern brauchte, so verrückt klang er. Manzano fand ihn letzten Endes jedoch nicht so abwegig. Wer in der Lage war, die europäischen Stromnetze lahmzulegen, für den stellten wahrscheinlich auch die Sicherheitsvorkehrungen der Europol-IT kein großes Hindernis dar. Wie ein Roboter folgte Manzano der Aufforderung, sich zu erheben, fühlte den Griff an seinem Oberarm, als gehörte dieser nicht zu ihm, während sein Gehirn das Szenario weiterspann. Auch er hatte sich spaßeshalber schon in Firmennetzwerke gehackt und dort die internen Mikrofone und Kameras der Computer aktiviert, ohne dass die Nutzer etwas davon gemerkt hatten. So konnte er problemlos deren Gespräche verfolgen. Manzano Vorstellungskraft schlug immer neue Volten. Wenn die Angreifer tatsächlich Verteidigungsstrukturen ihrer Opfer angezapft hatten, warum sollten sie es bei Europol belassen? Wer wusste, wo sie noch überall mitsahen und -hörten? Regierungen? Die EU, die Nato? Manzano bemerkte kaum, dass er unter Hartlandts Griff zum Parkplatz ging und in ein Auto gesetzt wurde.

Warum aber hackten sie dann auf ihm herum, wenn sie ganz andere Mittel hatten? War er mit Talaefer auf eine heiße Spur gestoßen und sie wollten ihn aus dem Weg räumen? Nein, jetzt wurde er größenwahnsinnig. Er schüttelte heftig den Kopf, um wieder zu Sinnen zu kommen. Es musste eine einfachere Erklärung geben. Erst jetzt nahm er wahr, dass er auf der Rückbank einer Limousine saß, neben sich Hartlandt, am Steuer einen seiner Mitarbeiter.

»Wo fahren wir hin?«

»Sie kommen in Untersuchungshaft. Dort werden wir Sie weiter befragen. Der Bundesnachrichtendienst hat auch schon Interesse an Ihnen bekundet.«

»Das können Sie nicht machen! Ich habe nichts mit der Sache zu tun!«

Wo der BND war, war die CIA sicher nicht mehr weit, nachdem die USA ebenfalls angegriffen worden waren. Bei dem Gedanken an die Methoden des amerikanischen Geheimdienstes, die sogar die US-Präsidenten billigten, wurde Manzano schlecht vor Angst.

Nanteuil

Als Annette Doreuil den Wagen vor dem Haus hörte, eilte sie in den Flur. Mit dampfendem Atem kamen die beiden Männer durch die Tür und schlossen sie schnell.

Ihr Mann hielt eine Medikamentenpackung hoch, und sie spürte die Erleichterung.

Ihr Mann zerknüllte sie in seiner großen Faust. Es war die alte, leere gewesen.

»Nichts«, sagte er. »Zurzeit nirgends mehr auf Lager.«

Düsseldorf

Hartlandts Fahrer steuerte den Wagen auf einen Parkplatz neben einem großen Gebäudekomplex. Ein paar Plätze waren von dröhnenden Generatoren besetzt, deren Abgase die Luft verpesteten. Dicke Kabelstränge wanden sich durch ein schmales Beet in Richtung des Bauwerks.

Sie waren eine halbe Stunde lang gefahren, hatten ein Ortsschild passiert, das Manzano mitteilte, dass sie jetzt in Düsseldorf waren. Wahrscheinlich brachten sie ihn in die örtliche Polizeizentrale oder gleich ins Gefängnis.

Es wäre das erste Mal, dass man ihn einsperrte. Seinerzeit war er nur befragt worden, danach durfte er wieder nach Hause gehen.

Doch zu Hause war weit weg.

Der Bundesnachrichtendienst hat auch schon Interesse an Ihnen bekundet. Selbst wenn es nur dieser war, Manzano wollte ihm nicht in die Finger geraten.

Als er ausstieg, spürte er die Kälte. Hartlandt hatte es nicht für notwendig gehalten, ihm Handschellen anzulegen.

»Ich muss furchtbar dringend auf die Toilette«, erklärte er. »Ich kann nicht mehr bis drinnen warten. Kann ich hier schnell austreten?«

Hartlandt musterte ihn kurz.

»Bevor Sie uns in die Hosen machen …«

Manzano ging zu den Generatoren. Hartlandt und sein Mitarbeiter folgten ihm. Manzano stellte sich neben die Maschinen, warf den beiden einen Blick zu, der ein Mindestmaß an Privatsphäre forderte, und knöpfte die Hose auf. Die beiden ignorierten seinen Wunsch und blieben unmittelbar hinter ihm stehen. Er konnte ihren Atem hören, während er verstohlen die Geräte und die Kabelstränge inspizierte. Da war nichts zu machen. Er wandte sich um und richtete seinen Strahl auf Hartlandts Mitarbeiter.

»Zum Teufel …!«

Der Mann sprang zurück. Manzano schwenkte weiter zu Hartlandt. Auch der machte instinktiv ein paar Schritte zurück. Wie sein Kollege sah er auf seine Hose. Den Moment nutzte Manzano und rannte los.

Mit langen Schritten überquerte er den Parkplatz. Dabei schloss er mit fiebrigen Fingern seinen Hosenstall. Hinter sich hörte er die beiden rufen.

»Stopp! Halten Sie an!«

Er dachte nicht daran. Er war ein routinierter Läufer. Ob er gegen trainierte Polizisten ankam, würde sich herausstellen. In seinen Ohren pochte das Blut so laut, dass er die Rufe kaum hörte. Er musste von der Straße weg. Einer der beiden würde sicher versuchen, ihn mit dem Auto einzuholen. Seine Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Hektisch suchte sein Blick die Straße ab. Wo konnte er abbiegen?

Wieder rief jemand etwas, das er nicht verstand. Er lief in eine Seitengasse. Sofort erkannte er, dass er auch hier nicht so schnell entwischen konnte. Er musste die nächste Gasse nehmen. Hinter sich das rasende Stampfen seines Verfolgers. Er konnte nicht ausmachen, ob es einer oder zwei waren. Sein Atem versuchte inzwischen, seinen Herzschlag zu übertönen. Er spürte den Schweiß auf seiner Stirn. Jetzt brummte ein Automotor. Da vorn war ein Garten, begrenzt von einem übermannshohen Zaun mit Hecke. Noch ein paar Schritte, er kletterte und sprang über den Zaun. Hinter sich Fluchen, quietschende Bremsen. Manzano lief auf das Haus zu, eine große Villa. Die Fenster waren dunkel. Er lief seitlich vorbei, dahinter breitete sich der Garten aus, wurde auch dort von einer Hecke und einem Zaun begrenzt. Manzano sah nicht, was dahinter auf ihn wartete. Mit einem Sprung gelang es ihm, die Oberkante des Zaunes zu fassen. Er zog sich hoch, wälzte sich darüber und ließ sich auf der anderen Seite hinunterfallen. Er landete auf einem Bürgersteig und hastete weiter. Lange würde er dieses Tempo nicht mehr durchhalten, wurde ihm langsam bewusst.

Wieder hörte er jemanden rufen. Er hatte ihn also nicht abgehängt. Im Gegenteil, die Stimme klang sehr nah. Was sie rief, verstand Manzano nicht. Ein Knall ertönte. Er rannte weiter, die Gasse entlang. Da vorne, wieder eine Kreuzung. Noch ein Knall. Im selben Augenblick spürte er einen dumpfen Schmerz im rechten Oberschenkel. Er strauchelte, lief weiter, merkte aber, dass er langsamer wurde. Plötzlich wurde er von hinten gerammt und zu Boden geworfen. Bevor Manzano sich wehren konnte, waren seine Arme schmerzhaft nach hinten gedreht. Ein stumpfer Gegenstand bohrte sich in seinen Rücken. Er hörte Metall klappern, dann spürte er die kalten Handschellen um seine Gelenke zuschnappen.

»Sie Idiot«, hörte er den Mann völlig außer Atem keuchen. »Ich dachte, Sie sind vernünftig.«

Manzano spürte Hände an seinem Bein.

»Lassen Sie das mal ansehen.«

Erst jetzt wurden ihm die Schmerzen bewusst. Sein rechter Oberschenkel brannte, als drückte jemand ein glühendes Eisen dagegen.

»Ist bloß eine Fleischwunde«, bemerkte der andere und hob ihn unter den Achseln hoch. »Können Sie stehen?«

Manzano, benommen, nickte. Als er das rechte Bein belasten wollte, knickte er ein. Der andere fing ihn auf, es war der Fahrer des Wagens, der sie hergebracht hatte. Manzano suchte die Ursache der Schmerzen. Sein rechtes Hosenbein war unterhalb der Hüfte zerfetzt. Rundherum hatte sich ein großer dunkler Fleck gebildet. Der Mann lehnte Manzano gegen den Zaun.

»Versuchen Sie bloß keinen Unsinn mehr«, sagte er.

Um die nächste Ecke bog der Wagen, der Manzano zum Polizeigebäude gebracht hatte. Er hielt vor ihnen. Hartlandt stieg aus.

»Wir brauchen Verbandszeug«, erklärte Manzanos Häscher. Hartlandt trat zu Manzano, sah ihm kurz in die Augen, schüttelte wortlos den Kopf. Dann untersuchte er die Wunde. Schüttelte erneut den Kopf. Der andere blickte trotzig drein, während Hartlandt aus dem Kofferraum einen Erste-Hilfe-Kasten holte.

Währenddessen beäugte Manzano wieder die Wunde. »Was ist passiert?«

Als wäre er Arzt, legte Hartlandt eine Kompresse auf und wickelte einen Verband um den Schenkel.

»Sie haben einen Streifschuss abbekommen. Nichts Schlimmes.«

Zu seiner eigenen Überraschung war Manzano nicht entsetzt, sondern wurde wütend.

»Ihre Leute haben auf mich geschossen?«, rief er.

»Sie hätten ja nicht davonrennen müssen.«

»Wenn Sie mich einsperren wollen, obwohl ich unschuldig bin!«

»Fluchtversuche sind nicht dazu angetan, dass ich Ihnen das glaube. Kommen Sie.«

Hartlandt breitete auf dem Rücksitz des Wagens eine Decke aus. »Damit Sie uns nicht alles vollsauen. Rein mit Ihnen.«

Berlin

»Es gibt nicht die leisesten Hinweise«, gestand der NATO-General. Jeder der zehn Monitore im Besprechungszimmer des Krisenzentrums war viergeteilt, aus jedem Kästchen blickte mindestens ein Gesicht. Vertreten waren die meisten Regierungschefs der EU oder die jeweiligen Außenminister, sechs NATO-Generäle, die aus dem Hauptquartier in Brüssel zugeschaltet waren, und der Präsident der Vereinigten Staaten. Sicherlich saßen bei allen im Hintergrund der halbe Krisen- und Beraterstab, so wie hier in Berlin auch, dachte Michelsen.

»Aber die Breite der Attacke und die dafür notwendigen Ressourcen stehen sicher nur Staaten zur Verfügung«, sagte der General.

»Wer ist dazu überhaupt in der Lage?«, fragte der US-Präsident.

»Nach unseren Einschätzungen haben in den vergangenen Jahren rund drei Dutzend Staaten Kapazitäten für Cyberangriffe aufgebaut. Dazu gehören aber viele der jetzt betroffenen wie Frankreich, Großbritannien, andere europäische Länder und die USA. Außerdem verbündete Nationen wie Israel oder Japan.«

Die Besprechungen waren die unangenehmste Zeit des Tages, fand Michelsen. Sie spürte, wie sich die Müdigkeit auf ihre Lider setzte, sie der Versuchung nachgeben wollte, schließlich konnte sie dem Gespräch auch mit geschlossenen Augen folgen. Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als hinge ein nasser Zementsack auf dem Stuhl. Nur zuhören müssen, das war das Schlimmste. Solange sie aktiv sein konnte, behielt sie die Oberhand über die Erschöpfung. Sie beobachtete, dass es den anderen im Raum ähnlich erging. Bei mehr als einem flatterten die Lider, nickte der Kopf kurz nach unten. Sie fragte sich, wie der Bundeskanzler und viele der anderen Politiker so fit blieben. Mehr Schlaf bekamen sie auch nicht. Ließen sie sich dopen? Die Stimme des US-Präsidenten ließ Michelsen die Augen wieder öffnen.

»Wer kommt in Betracht?«

»Unsere Informationen sprechen dafür, dass auch Russland, China, Nordkorea, Iran, Pakistan, Indien und Südafrika dazu in der Lage sein könnten.«

»Indien und Südafrika würde ich als Verbündete betrachten«, wandte der britische Premierminister ein.

»Es gibt erste diplomatische Reaktionen aus vielen Ländern, in denen auch den USA Hilfe angeboten wird, darunter von fast allen der genannten Staaten, mit Ausnahme von Nordkorea und Iran.«

»Solange wir über die Verursacher so völlig im Unklaren sind, müssen wir uns auf die Situation der Bevölkerung konzentrieren«, erklärte der Bundeskanzler. »Der Angriff auf die USA erfordert es, die internationale Hilfe neu zu koordinieren. Jene Hilfskräfte, die in den Vereinigten Staaten bereits für Europa mobilisiert wurden, werden nun in den USA selbst zum Einsatz kommen.«

»Dadurch haben wir immerhin einen kleinen Startvorteil«, legte der US-Präsident dar. »Wir sparen uns drei Tage Mobilisierungszeit.«

»Die Frage ist, wie wir mit den übrigen Hilfsangeboten umgehen«, warf der italienische Premier ein. »Wollen wir chinesische oder russische Hilfe annehmen, solange wir nicht sicher sind, dass diese Staaten uns nicht angegriffen haben? Vielleicht befinden wir uns bereits im Krieg mit Russland oder China und wissen es bloß noch nicht? Mit den Hilfstruppen könnten leicht weitere Saboteure eingeschleust werden.«

Ist der paranoid, fragte sich Michelsen, oder verstehe ich zu wenig von moderner Kriegsführung? Wir müssen jede Hilfe annehmen, die wir bekommen können.

Der Verteidigungsminister, der auch das Amt des Vizekanzlers bekleidete, drückte auf den Knopf, der das Mikrofon für die anderen Teilnehmer der Videounterhaltung deaktivierte, sodass sie nicht mithören konnten.

»Ich muss dem italienischen Premier recht geben«, sagte er zum Bundeskanzler. »Ein gewisses Risiko dafür besteht.« Er ließ den Knopf wieder los. Der Kanzler hob nur eine Augenbraue, Michelsen konnte sehen, wie er das Argument abwog.

»Soweit ich informiert bin«, sagte die schwedische Regierungschefin, »sind die ersten Hilfsflüge aus Russland für übermorgen, Samstag, geplant. Die ersten Lkw-Konvois und Bahntransporte sollen dann ebenfalls aufbrechen. Chinesische Hilfsflieger werden ab Sonntag erwartet. Ich schlage vor, die Vorbereitungen dafür vorläufig voranzutreiben. Wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt derartige Bedenken öffentlich äußern, kann es zu diplomatischen Verstimmungen kommen, die dringend benötigte Hilfe womöglich verzögern oder, im schlimmsten Fall, verhindern. Sollten wir bis zum Beginn der tatsächlichen Transporte neue Erkenntnisse besitzen, können wir sie immer noch stoppen.«

Danke, dachte Michelsen mit einem Seitenblick zum Verteidigungsminister.

»Im Übrigen«, fügte die Schwedin hinzu, »wird es sich bei den ausländischen Hilfskräften um maximal ein paar tausend Mann handeln, für ganz Europa. Und wenn wir die jetzt mit den USA teilen müssen, werden es noch weniger. Sehr viel Schaden werden die nicht anrichten können.«

Gefährliches Argument, dachte Michelsen, wenn sie nicht viel Schaden anrichten konnten, war ihr Nutzen vielleicht ebenso beschränkt, sodass man aus Sicherheitsbedenken auf sie verzichten konnte.

»Gut ausgebildete Männer«, wandte einer der Generäle ein, »sind auch in kleiner Anzahl durchaus in der Lage, gewaltige Schäden zu verursachen. Deshalb müssen wir vorsichtig sein. Aber ich halte die Idee der Frau Ministerpräsidentin für sinnvoll. Bis dahin müssen wir die zivilen Hilfsdienste der NATO-Truppen neu koordinieren. Ich gehe davon aus, dass wir dann auch wissen, wer hinter den Angriffen steckt.«

Düsseldorf

Vor der Klinik standen drei Rettungswagen. Zwei dick vermummte Gestalten schoben ein Krankenbett vom Hospital fort. Auf den zweiten Blick erkannte Manzano, dass unter der Decke ein Patient lag. Eine halb volle Infusionsflasche baumelte an dem Metallarm über seinem Kopf. Ein Schlauch daraus verschwand unter der Decke. Dahinter lief ein junger Mann ganz in Weiß und gestikulierte aufgeregt. Die beiden mit dem Bett schüttelten nur den Kopf und drängten ihre Fracht weiter Richtung Straße. Schließlich gab der Mann in Weiß auf, machte eine abfällige Handbewegung und eilte zurück ins Gebäude.

Hartlandt fuhr an der seltsamen Truppe vorbei und parkte hinter einem der Ambulanzwagen.

»Können Sie ein paar Schritte gehen?«

Manzano funkelte ihn an. Wahrscheinlich wäre es kein Problem für ihn gewesen. Aber warum sollte er zu jemandem, der ihn für einen Terroristen hielt und anschoss, freundlich sein?

»Nein!«

Wortlos verschwand Hartlandt im Eingang des Krankenhauses. Sein Mitarbeiter beobachtete jede Bewegung Manzanos. Viele Möglichkeiten, sich zu regen, hatte er nicht. Seine Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt, sein Bein pochte äußerst schmerzhaft.

Hartlandt kam mit einem Rollstuhl zurück.

»Setzen Sie sich da hinein.«

Manzano gehorchte widerwillig. Hartlandt schob ihn in das Gebäude. Sein Mitarbeiter wich nicht von Manzanos Seite.

Kaum waren sie im Eingangsbereich, überwältigte ihn der Geruch. Obwohl es auch hier nicht viel wärmer war als draußen, stank es nach Fäulnis, Verwesung und Fäkalien, durchsetzt von Spuren eines Desinfektionsmittels. Ihm wurde sofort schlecht. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage musste er in eine Klinik und sich verarzten lassen. Mit einem Mal tat er sich selbst entsetzlich leid. Er wollte hier nicht sein. Er wäre so gern zu Hause gewesen, an einem sonnigen Strand oder in einer gemütlichen Berghütte vor einem prasselnden Kamin. Der Morgen auf der Bank mit Angström in der Sonne schoss ihm durch den Kopf. Für einen Augenblick besserte sich seine Laune. Dann wurde ihm wieder bewusst, wo er war.

Auch in der Vorhalle wurden Betten mit Patienten herumgefahren, von Menschen, die nicht wie Pflegerinnen oder Pfleger aussahen. Es herrschte ein großes Durcheinander, in dem Manzano doch eine allgemeine Bewegung Richtung Ausgang festzustellen meinte. Als er sich umdrehte, verließ schon wieder ein Bett das Haus.

Hartlandt schob ihn durch einen Flur, dessen Wände Betten säumten, in denen Kranke und Verletzte lagen. Manche stumm, andere stöhnten oder wimmerten. Bei einigen stand jemand, eher Angehörige als Ärzte. Hier war es ein wenig wärmer, aber sicher auch weit unter normaler Zimmertemperatur. Außer dem weiß gekleideten Mann draußen hatte Manzano noch keinen Arzt oder Pflegepersonal gesehen.

Endlich erreichten sie eine Tür mit dem Schild »Ambulanz«. Im Raum dahinter waren alle Stühle besetzt. Hartlandt zückte seinen Ausweis und zeigte ihn der Aufnahmeschwester.

»Schussverletzung«, erklärte er. Manzanos Deutsch war nicht besonders gut, aber ausreichend, um die Unterhaltung verfolgen zu können. Zwei Studiensemester in Berlin, ein Jahr mit einer deutschen Freundin und jahrelange – wenn auch nicht ganz legale – Besuche von Systemen deutscher Unternehmen machten sich bezahlt. »Wir brauchen sofort einen Arzt.«

Manzanos Magen sackte nach unten. Wieso sofort? Hartlandt hatte doch gesagt, es sei nicht schlimm?

Die Schwester blieb ungerührt.

»Sie sehen, was hier los ist. Ich sage den Leuten, dass wir sie nicht behandeln können. Das Krankenhaus müsste längst evakuiert werden. Glauben Sie, irgendjemand hört mir zu? Hören Sie mir zu?«

»Sie hören mir zu«, beharrte Hartlandt. »Ich will sofort einen Arzt sehen. Muss ich erst mit nationalem Interesse oder anderen Keulen kommen, damit Sie jemanden holen?«

Die Frau hob verzweifelt die Hände.

»Was soll ich denn machen? Jeder …«

»Sie sollen einen Arzt holen«, unterbrach Hartlandt sie. »Sonst tue ich es selbst.«

Sie seufzte und verschwand.

Im Aufnahmesaal warteten mindestens fünfzig Menschen. Eine Frau versuchte, ihr weinendes Kind zu beruhigen. Auf einem Stuhl war ein alter Mann gegen seine Frau gekippt, sein Gesicht kalkweiß, seine Lider flatterten. Sie flüsterte ihm unentwegt etwas zu, streichelte seine Wange. Eine andere lag mehr in ihrem Stuhl, als dass sie saß, den Kopf zurückgelehnt, die Haut wächsern, einen Arm auf Brusthöhe gehoben, sein Ende ein Stumpf aus weißer Gaze, unter der sich eine Hand befinden musste, blutgetränkt. Manzano zwang sich wegzusehen. Lieber starrte er an die Wand. Beruhigte seinen Magen aber auch nicht. Er schloss die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken.

»Was soll das? Wer glauben Sie, sind Sie?«

Hinter Manzano war die Schwester aufgetaucht, mit sich einen Mittvierziger mit den typischen Arztutensilien in einem Mantel, der nicht mehr ganz weiß war. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, sein Gesicht hatte seit Tagen keinen Rasierer gesehen. Er diskutierte mit Hartlandt.

»Ein Notfall«, erläuterte Hartlandt, »der vor allen anderen hier Vorrang hat.«

»Und warum, bitte schön?«

Hartlandt streckte ihm einen Ausweis entgegen. »Weil er vielleicht mitverantwortlich ist für die Situation, in der wir hier alle stecken …«

Manzano glaubte sich zu verhören. Machte ihn der Wahnsinnige hier vor allen zum Sündenbock!

»Umso mehr ein Grund, ihn nicht zu behandeln!«, schnaubte der Arzt.

»Hippokrates hätte seine Freude an Ihnen«, bemerkte Hartlandt. »Vielleicht kann uns Ihr Patient hier helfen, das Problem auch wieder zu lösen. Aber dazu brauche ich ihn mit einem stabilen Kreislauf und ohne Blutvergiftung oder Infektion.«

Der Arzt brummelte etwas, dann sagte er zu Hartlandt: »Kommen Sie mit.«

Er durchquerte den Raum, Hartlandt schob Manzano in seinem Rollstuhl hinterher. Einige der Wartenden blickten ihnen neugierig nach, andere protestierten. Eine Frau versuchte, den Mediziner aufzuhalten, jammerte, flehte. Er sagte: »Sie sollten nicht hier sein. Wir haben nicht mehr genug Leute und Material. Das Krankenhaus wird heute geräumt. Bitte gehen Sie in eine andere Klinik.«

Ohne die Antwort der Frau anzuhören, setzte er seinen Weg fort. Er führte sie in einen kleinen Behandlungsraum und zeigte auf eine Liege.

»Wir haben kein Schutzpapier mehr, Sie müssen sich so darauf legen.«

Hartlandt hob Manzano an den Achseln aus dem Stuhl.

»Was ist denn das?«, fragte der Mediziner, als er die Handschellen sah. »Abnehmen. So kann ich ihn nicht behandeln.«

Hartlandt öffnete die Fesseln und steckte sie ein.

Der Arzt schnitt Hartlandts Verband auf, danach Manzanos Hose. Er untersuchte die Wunde, tastete vorsichtig, trotzdem musste Manzano vor Schmerzen aufschreien.

»Ist nicht weiter tragisch«, schloss der Arzt. »Ich habe nur ein Problem. Wir haben kein Betäubungsmittel mehr. Wollen Sie …«

»Er ist Italiener«, unterbrach ihn Hartlandt. »Können Sie Englisch sprechen?«

Manzano sagte nichts. Der Arzt wiederholte in ziemlich gutem Englisch den letzten Satz und fuhr fort: »Ich kann die Wunde vorläufig verbinden und das Projektil drinlassen. Dadurch entsteht natürlich eine hohe Infektionsgefahr. Oder wir entfernen das Projektil und versorgen die Wunde ohne Betäubung.«

Manzano wurde schwindelig. Er schielte auf seinen nackten Oberschenkel. Ein blutiges Tal mit zerfetzten Rändern zog sich zehn Zentimeter an seiner Seite entlang und endete in einem Loch. Sein Herz schlug bis zum Hals. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Hatte dieser Hartlandt nicht etwas von Streifschuss gesagt?

»Ich desinfiziere schon einmal«, sagte der Arzt. »Da bekommen Sie einen Vorgeschmack. Dann können Sie ja entscheiden.«

Er kippte eine Flüssigkeit auf ein Stück Gaze und tupfte damit die Wunde ab. Manzano stöhnte auf.

»Furchtbar ist das«, fluchte der Arzt. »Ich komme mir vor wie im Dreißigjährigen Krieg, als man den Verletzten eine Flasche Schnaps zu trinken gab, bevor man ihnen das Bein absägte. Mit Medizin hat das nichts mehr zu tun. Ich komme mir vor wie ein Metzger.«

Sawed off the leg. A butcher. Manzano schloss die Augen und hoffte, dass er das Bewusstsein verlor. Den Gefallen machte ihm sein Kreislauf nicht.

Er wollte keine Infektion und dadurch womöglich das Bein verlieren. Doch genauso wenig wollte er ohne Narkose operiert werden. Jemand schüttelte ihn.

»Nun?«, fragte der Arzt.

Manzano holte tief Luft, antwortete auf Englisch: »Raus mit dem Ding.«

»Okay. Beißen Sie die Zähne zusammen. Oder noch besser« – er drückte Manzano einen Fetzen in die Hand –, »beißen Sie da drauf.«

Er schüttete abermals Desinfektionsflüssigkeit über ein Stück Gaze und wischte damit eine lange Pinzette ab. »Wir haben keine sterilen Instrumente mehr«, erklärte er schulterzuckend.

Dann bohrte ihm jemand einen glühenden Spieß durch den Oberschenkel und rührte damit in seinem Fleisch herum. Manzano hörte einen unmenschlichen Laut, ein langes, aus dunkler Tiefe dringendes, doch geknebeltes Brüllen. Erst als er keine Luft mehr bekam, begriff er, dass es sein eigenes gewesen war. Seine Lunge versagte ihm den Dienst. Er versuchte aufzuspringen, doch Hartlandt drückte ihn an den Schultern, sein Mitarbeiter an den Knien auf die Liege.

Aus dem Winkel seiner tränenden Augen sah Manzano, wie der Arzt die Pinzette vor sein Gesicht hob. Zwischen den Spitzen klemmte ein blutiges Etwas.

»Da haben wir sie schon.«

Er warf das Projektil in einen Mülleimer neben der Liege.

»Jetzt muss ich noch nähen. Das tut weniger weh.«

Was soll jetzt noch wehtun?, dachte Manzano und bekam gleichzeitig den nächsten Schweißausbruch. Ich sollte endlich wieder atmen, erinnerte er sich, dann wurde es dunkel.

Paris

Laplante hielt die Kamera auf James Turner, der sich vor einer Industriehalle aufgestellt hatte, und verfluchte Shannon, dass sie ihn mit dem Kerl allein gelassen hatte. Hinter Turner tauchten vereinzelt Gestalten oder kleine Personengruppen auf, die große Pakete aus dem Dunkel eines riesigen Tores schleppten.

»Ich stehe hier vor dem Zentrallager einer großen Lebensmittelkette im Süden von Paris. Seit heute Nacht die Tore aufgebrochen wurden, holen sich die Menschen, was sie darin finden.«

Laplante folgte Turner, der auf eine Gruppe Plünderer zuging und sich ihnen in den Weg stellte. In den Armen stapelten sich Plastiksäcke, deren Inhalt Laplante nicht identifizieren konnte.

»Was haben Sie da?«, fragte Turner.

»Geht Sie einen Scheißdreck an«, erwiderte einer der Männer und rempelte Turner zur Seite.

Der Journalist fing sich, bewahrte die Fassung.

»Wie man sieht, sind die Menschen bereits äußerst angespannt. Am sechsten Tag des Stromausfalls, wenn man von der kurzfristigen und nur teilweisen Wiederversorgung an Tag zwei absieht, fehlt es der Pariser Bevölkerung an allem. Die Nachricht, dass eine radioaktive Wolke aus Saint-Laurent die Metropole erreichen könnte, hat die Stimmung in der Stadt verschlimmert. Womit wir bei unserem Stichwort wären.«

Nicht schon wieder, dachte Laplante. Turner gab ihm das Zeichen zum Stopp.

»Stellen wir uns vielleicht dort vor den Eingang. Dann kann ich gleich Reaktionen einfangen.«

»Du spinnst ja wirklich.«

»Bist du hier der Journalist oder ich?«

»Ich bin der Produzent«, erwiderte Laplante, zu müde für einen Streit. »Und ich finde, das hat hier keinen Sinn mehr.«

»Scheiße, verdammt!«, brüllte Turner. »Und wenn die Welt untergeht, werden wir davon live berichten!«

»Wird bloß keiner zusehen«, murmelte Laplante.

»Die halbe Welt sieht zu! Wenn irgendein Arschloch Europa und den USA den Strom ausknipst, bleiben immer noch ein paar Milliarden übrig! Bloß weil du in deinem beschränkten Froschgehirn …«

Laplante blendete die Tirade aus. Seit den Nachrichten aus den USA war Turner endgültig von der Rolle. Bis dahin hatte er unverhohlen die scheinbare technologische Überlegenheit seiner Heimat genossen. Neben der Schmach, dass es nun auch diese erwischt hatte, kam die Sorge um seine Verwandten, allen voran seine Eltern hinzu, die Turner zwar nie zugegeben hätte, ihn aber ganz offensichtlich an den Rand des Wahnsinns trieb.

»Können wir?«, fragte der Journalist, wieder ruhig.

»Und los.«

Turner zog das Gerät, das er seit ihrer Stippvisite in Saint-Laurent mit sich trug, aus dem Gürtel seines Mantels.

»Nun also unser schon obligater Messbericht«, erklärte er mit ernster Miene. »Mit diesem Dosimeter kann ich die aktuelle Strahlenbelastung feststellen.«

Er streckte das Gerät in die Höhe.

»Es handelt sich dabei um ein digitales Kleingerät, also nicht die ratternden Dinger, die man aus Filmen kennt. Allerdings sind sie so eingestellt, dass sie beim Erreichen kritischer oder gefährlicher Dosen Warngeräusche von sich …«

Ein lautes Piepen unterbrach Turners Ausführungen. Verdutzt sah er zu dem Kästchen nach oben, bevor ihm einfiel, dass er es zum Ablesen wieder auf Augenhöhe senken musste.

Laplante zoomte sein Gesicht heran, in dem sich zuerst Verwirrtheit, dann Ungläubigkeit und schließlich Entsetzen ausbreitete.

»Das …«

Noch einmal streckte er das Gerät in die Höhe, zur einen Seite, zur anderen, ging ein paar Schritte. Laplante folgte seinen Bewegungen. Im Hintergrund stahlen sich weitere Plünderer davon.

Turner hielt das Kästchen vor die Linse.

»0,2 Mikrosievert pro Stunde!«, stellte er fest. »Das Doppelte der als unbedenklich eingestuften Dosis! Die Wolke hat Paris erreicht!«

Das verwackelte Bild ließ Laplante merken, dass er vor Schwindel fast die Kamera hatte fallen lassen. Am liebsten hätte er aufgehört, doch Turners Antrieb riss ihn mit.

Der Amerikaner suchte nach Publikum. Mit eiligen Schritten fing er eine junge Frau ab. Unter ihrer Wollmütze hingen blonde Haarsträhnen heraus, die im Wind flatterten. In beiden Händen trug sie pralle Plastiktaschen.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte Turner sie und hielt ihr das Dosimeter vor das Gesicht. Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Dieses Dosimeter misst die radioaktive Strahlung. Und wissen Sie, was es hier gerade gemessen hat?«

Düsseldorf

»Wachen Sie auf, wir sind fertig.«

Manzano brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Er lag auf dem Rücken, spürte einen pochenden Schmerz im Oberschenkel. Über ihn beugten sich drei Gesichter. Dann erinnerte er sich wieder.

»Das haben Sie geschickt gemacht«, sagte der unrasierte Arzt. »So haben Sie nicht gespürt, wie ich die Wunde genäht habe.«

»Wie … wie lange war ich …?«

»Zwei Minuten. Jetzt bleiben Sie noch ein paar Stunden zur Beobachtung hier. Dann müssen ohnehin alle aus dem Haus.«

»Warum?«, fragte Hartlandt.

Der Arzt zog Manzano an einem Arm in eine sitzende Position. Dabei erklärte er: »Die Notstromversorgung ist seit vorgestern auf Reserve.« Mit Hartlandts Hilfe hievte er Manzano zurück in den Rollstuhl. »Wir bekommen keinen Treibstoff mehr«, fuhr er fort, während sie den Behandlungsraum verließen. »Weil nicht genug für alle Kliniken in Düsseldorf vorhanden ist. Jetzt müssen wir zusehen, wie wir unsere Patienten loswerden. Heute Abend gehen hier buchstäblich die Lichter aus.«

»Gibt es dafür denn keine Notfallpläne?«, erkundigte sich Hartlandt.

»Nicht für einen solchen Extremfall«, antwortete der Arzt. »Suchen Sie Ihrem Mann hier irgendwo ein Bett im Haus. Ich finde Sie dann schon.«

»Sollen wir ihn nicht gleich woanders hinbringen?«

»Er sollte ein paar Stunden ruhen. Außerdem bekommen Sie in den wenigen noch funktionierenden Kliniken keinen Platz mehr. Die brauchen Betten und Personal für schwerere Fälle.«

»Ich wurde immerhin angeschossen«, warf Manzano mit schwacher Stimme ein.

»Das war harmlos. Glauben Sie mir, Sie wollen nicht wissen, was für Operationen ich in den letzten Stunden ohne Narkose durchführen musste.«

Womit er recht hatte, das wollte Manzano in der Tat nicht wissen. Vor seinem inneren Auge erschienen mittelalterliche Holzschnitte von Folterszenen.

»Ich kann Ihnen leider kein Schmerzmittel geben«, sagte der Mediziner. »Sind auch längst aus. Sie werden die Wunde in den nächsten Tagen spüren.« Er drückte ihm zwei Schachteln in die Hand. »Hier haben Sie wenigstens ein Antibiotikum. Falls es zu einer Infektion kommt. Vielleicht hilft es. Am besten, Sie schlafen jetzt ein wenig.«

Grußlos wandte er sich ab und ließ sie stehen.

»Na dann«, sagte Hartlandt zu seinem Mitarbeiter, »such ein Bett für den Herrn. Ich könnte auch eines gebrauchen. Aber mir wird das nicht vergönnt sein. Ich fahre zu Talaefer zurück. Dort gibt es genug zu tun. Pass gut auf den Kerl auf. Davonlaufen wird er ja nicht mehr so schnell. Ich komme später wieder oder schicke einen Wagen.«

Mit diesen Worten drängte er sich durch den Flur hinaus.

Manzano sah ihm nach, bis er verschwunden war.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Manzano seinen Bewacher. »Wenn wir die nächsten Stunden schon gemeinsam verbringen müssen …«

»Helmut Pohlen«, antwortete der Mann.

»Na dann, Helmut Pohlen, finden wir ein Bett für mich.«

Auf den Gängen standen viele Betten, doch sie alle waren belegt. Nirgendwo fanden sie ein Patientenzimmer. Manzano fröstelte. Der Schweiß, der ihm während der Wundversorgung am ganzen Leib ausgebrochen war, trocknete langsam. Sein rechter Unterschenkel war nackt. Endlich entdeckten sie ein verwaistes Bett auf einem Flur. Decken und Kissen waren zerwühlt, als wäre es gerade erst verlassen worden. Manzano legte seine Hand auf das Laken. Es war kalt. Sein ursprünglicher Besitzer musste es bereits vor geraumer Zeit aufgegeben haben. Mit Pohlens Hilfe stemmte er sich hoch. Er hoffte, dass die Decke ausreichend wärmte. Kaum lag er, spürte Manzano, wie erschöpft er war. Pohlen beförderte das Bett in ein kleines Zimmer, an dem sie vorbeigekommen waren, offensichtlich für Behandlungen gedacht, aber leer. Das Bett füllte den Raum fast ganz aus. Pohlen schloss die Tür, stellte den einzigen Stuhl zwischen das Bett und die Tür und setzte sich so darauf, dass er beides im Blick hatte. Manzano interessierten die Bewachungsstrategien des Mannes nicht. Er schloss die Augen und war gleich darauf eingeschlafen.

Shannon wartete ein paar Minuten. Als Manzano und sein Bewacher nicht mehr aus dem Raum kamen, näherte sie sich der Tür. Sie klopfte leise und öffnete, ohne eine Aufforderung zum Eintreten abzuwarten. Das Zimmer war so klein, dass Manzanos Bett es ausfüllte.

Der Italiener schien zu schlafen. Sein Bewacher sprang auf, als Shannon hineinlugte. Doch sie hatte bereits gesehen, was sie gesucht hatte: Hier gab es weder Fenster noch eine andere Tür.

»Sorry«, flüsterte sie und schloss die Tür wieder.

Sie ging ein paar Meter den Flur entlang und suchte sich eine Stelle, wo sie den Ausgang von Manzanos Krankenquartier gut im Blick hatte, ohne selbst sofort gesehen zu werden.

Was hatte der Italiener bloß angestellt, dass die anderen ihn angeschossen hatten?

Verdammt, war das ein Gestank hier!

Ratingen

Dienhof stand vor einem Flipchart, auf dem ein paar Diagramme aufgezeichnet waren. Piktogramme von Gebäuden, die durch Linien miteinander verbunden waren. Außer ihm und Hartlandt waren nur Wickley, Hartlandts Mitarbeiter, ein weiterer Vorstand von Talaefer, in dessen Bereich Sicherheitsfragen fielen, der Sicherheitschef und die Personalchefin des Unternehmens anwesend.

»Wir sind vom schlimmstmöglichen Fall ausgegangen«, begann Dienhof. »Nämlich, dass unsere Produkte tatsächlich an den Problemen der Kraftwerke schuld sein könnten. Daher haben wir erste Möglichkeiten überlegt, wie überhaupt bei so vielen Kraftwerken Fehler auftreten konnten, und das auch noch gleichzeitig. Dazu muss man bedenken, wie unsere Produkte prinzipiell aufgebaut sind und wie sie bei den Kunden implementiert werden. Erstens laufen in den Kraftwerken Systeme verschiedener Generationen. Aus den Daten von Europol entnehmen wir, dass nur Objekte der zweiten und dritten Generation betroffen sind, nicht die der ersten. Diese Produkte basieren auf Grundmodulen, die wir zum Teil selbst entwickelt haben, aber auch auf Standardmodulen, Protokolle etwa, die heute zum Beispiel häufig im Internet eingesetzt werden.« Seine Ausführungen begleitete Dienhof mit Hinweisen auf die Zeichnungen am Flipchart. »Auf dieser Basis entwickeln wir jedoch für jeden Kunden maßgeschneiderte Lösungen. Das heißt, einen Fehler oder eine bewusste Manipulation, die so viele Kraftwerke betreffen, müssen wir sinnvollerweise zuerst in einem der Grundmodule suchen.«

»Könnte aber auch woanders sein«, unterbrach einer von Hartlandts Männern.

»Theoretisch ja, praktisch eher nicht. Denn dann müsste eine mögliche Schadsoftware ebenfalls jeweils maßgeschneidert werden. Und dieser Aufwand ist ganz sicher zu groß. Das wäre fast wie bei Stuxnet. Und da geht man davon aus, dass mehrere Dutzend Programmierer ziemlich lange drangesessen sind und außerdem die Anlage sehr genau kannten. Diesen Aufwand gleich für Dutzende Kraftwerke treibt niemand, wenn er es einfacher haben kann.«

Als Hartlandts Mitarbeiter zustimmend nickte, fuhr Dienhof fort: »Wir müssen uns also fragen, wer sie entwickelt, beziehungsweise, wer bei uns schreibenden Zugriff auf die Grundmodule hat. Das war die erste Gruppe, die in unseren Fokus rückte.«

An eine freie Stelle des Charts zeichnete er einen Kreis und betitelte ihn mit »Grundmodule schreibender Zugriff«.

»Schreibender Zugriff«, unterbrach ihn Hartlandt, »bedeutet das, dass nur diese die Grundmodule ändern können?«

»Genau«, bestätigte Dienhof. »Nun ist es ja nicht so, dass die Kraftwerke einmal das System von uns bekommen und dann nichts mehr von uns hören. Diese Produkte sind ungemein komplex und werden natürlich laufend verbessert. Das heißt, die Unternehmen erhalten immer wieder Updates ihrer Software oder von einzelnen Bestandteilen ebendieser. Hier haben wir natürlich auch eine besonders interessante Gruppe von Mitarbeitern, nämlich jene, die direkten Zugang zu den laufenden Systemen der Produzenten haben. Selbstverständlich unterliegen sowohl diese Mitarbeiter als auch die Update-Verfahren strengsten Sicherheitsregeln. Eine generelle Sicherheitsregel innerhalb unseres Unternehmens ist die strikte personelle Trennung verschiedener Einheiten wie Entwicklung, Prüfung und Kundenbetreuung.«

Er zeichnete zwei weitere Kreise neben dem ersten. In den zweiten schrieb er »Prüfung«, in den dritten »Implementierung/Kundenbetreuung«.

»Wer Software entwickelt, darf nicht zu den Prüfern gehören oder zu jenen, die sie schließlich beim Kunden implementieren. Ebenso wenig darf ein Prüfer entwickeln oder implementieren. Und natürlich hat ein Implementierer keinen schreibenden Zugriff zur Entwicklung oder Prüfung, das heißt, auch sie können deren Programmteile lesen und analysieren, aber nicht verändern. Um einen Bug bis zum Kunden zu bringen, muss man ihn also so genial schreiben, dass ihn die Prüfer und deren Instrumente nicht entdecken. Oder wir haben einen Fehler im Berechtigungssystem für das Quellcode-Archiv.«

»Soll was heißen?«, fragte Hartlandt.

»Den Quellcode dürfen nur bestimmte Leute verändern. Jede diese Veränderungen muss von anderen kontrolliert und freigegeben werden.«

»Wenn Sie in diesem System einen Fehler hätten …«

»… könnte ein Entwickler einen Programmcode an den Prüfern vorbeischleusen. Halte ich aber für ausgeschlossen. Wir haben die Logs des Quellcode-Archivs geprüft und keine Hinweise darauf gefunden, dass ein Programmcode an den Prüfern vorbeigeschmuggelt wurde.«

Viele Konjunktive, fand Hartlandt. Der gute Dienhof konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass bei ihnen womöglich ein Teil der Verantwortung für den Schlamassel lag.

»Guter Ansatz«, lobte er trotzdem. »Aber was ist, wenn es nicht einer allein war?«

»Auch darüber haben wir uns Gedanken gemacht. Wir halten es allerdings für höchst unwahrscheinlich, und zwar aus folgendem Grund: In den einzelnen Teilbereichen arbeiten fast alle Leute immer an relativ spezialisierten Projekten und haben auch keinen schreibenden Zugriff auf die Daten der anderen, wenigstens nicht auf die kompletten. Das bedeutet, um einen Angriff bei so vielen unserer Kunden durchzuführen, müsste man mehr als nur einen oder zwei Komplizen haben. Sonst könnten sie ihre Sauerei nur an kleinen Teilen der Prüfung vorbeischmuggeln oder nur in die wenigen Kraftwerke implementieren, für die auch ihre Komplizen zuständig sind. Nein, ich denke, wir suchen eine einzige Person, und zwar jemanden, der die Routinen verändern kann, die von allen Programmen verwendet werden. Nach unseren Recherchen in der Zugriffsverwaltung des Quellcode-Archivs konnten wir nur drei Personen ausmachen, auf die das zutrifft. Der erste ist Hermann Dragenau, unser Chief-Architect. Neben seinen Programm-Design-Aktivitäten kann er auch Standardbibliotheken anpassen.«

Hartlandt konnte sich an den Namen erinnern. Auf seiner Suche nach den Mitarbeitern hatte er auch nach ihm gefragt. »Der ist im Urlaub auf Bali«, stellte er fest.

»Das ist auch unser Informationsstand. Alle unsere Schlüsselkräfte müssen für den Urlaub eine Kontaktadresse angeben, wo man sie in Notfällen erreichen kann. Leider ist uns das noch nicht gelungen. Wir haben eine Nachricht hinterlassen. Der zweite ist Bernd Wallis. Er ist in der Schweiz zum Skifahren, auch ihn haben wir noch nicht erreicht. Der dritte ist Alfred Tornau. Er stand auf der Liste der Personen, die nicht mehr zur Arbeit kommen konnten. Bei ihm zu Hause haben Sie ihn aber nicht angetroffen, und auch sonst war er nirgends aufzutreiben, wenn ich das richtig verstanden habe.«

»Nach ihm, wie nach ein paar anderen, suchen wir noch«, erwiderte Hartlandt. Er blickte Wickley an. »Was ist mit den Vorständen?«

»Wir sind genauso in das Sicherheitssystem eingebunden wie alle Mitarbeiter«, antwortete der Angesprochene gelassen. »Aus Mangel an Bedarf haben wir wesentlich weniger Zugriffsmöglichkeiten als alle Techniker und keine auf die Quellcode-Verwaltung.«

»Das stimmt«, bestätigte Dienhof.

Hartlandt beschloss, diese Erklärung erst einmal als solche hinzunehmen. Er wusste jedoch aus Erfahrung, dass der Vorstand eines durchschnittlichen deutschen Unternehmens von seinen Mitarbeitern auf dem informellen Weg alles bekam, was er wollte, wenn er es denn wollte. Das würde er im Hinterkopf behalten. »Verstehe ich das also richtig: Wir haben drei Personen, die am ehesten infrage kommen, der eine sitzt auf Bali, der andere hockt in der Schweiz, und der Dritte ist verschwunden. Das sind ja großartige Nachrichten.«

»Das war gut aufbereitet, Dienhof.« Wickley meinte es nicht so, aber er sagte es dennoch, als sie wieder allein waren. In Wahrheit hätte er seinem Mitarbeiter während der Ausführungen am liebsten den Kopf abgerissen. Bei Talaefer gab es keine Sicherheitslücken. Durfte es keine geben!

»Auch wenn nicht zu übersehen war, dass Sie selbst nicht ganz glücklich damit waren, dass unter Umständen tatsächlich Einzelne in der Lage sein könnten, Manipulationen an den Programmen durchzuführen. Wobei ich davon überzeugt bin, dass selbst dann niemand wirklich gravierenden Schaden anrichten könnte.«

Selbstverständlich besaß Wickley nicht einmal im Ansatz das technische oder organisatorische Wissen, um diese Behauptung aufzustellen. Aber Dienhof brauchte jetzt Bestätigung.

»Ich möchte, dass Sie mit den Behörden ohne Einschränkungen zusammenarbeiten. Geben Sie ihnen auf alle Daten und Unterlagen, die sie verlangen, unbegrenzten Zugriff.«

Diese vier IT-Forensiker des BKA hatten viel zu wenig Ahnung, um etwas zu finden. Sie konnten Wickleys Mannschaft lediglich unterstützen und begrenzt überwachen.

»Ich bin überzeugt, dass wir nichts entdecken werden, was mit den Stromausfällen zu tun hat. Vielleicht stoßen wir auf den einen oder anderen harmlosen Programmiererscherz im Programmcode. Deren Harmlosigkeit kann man den Ermittlern dann ja erklären. Wobei ich Ihnen dankbar wäre, wenn Sie im Sinne des Unternehmens solche Fälle zuerst mir mitteilen, bevor Sie Hartlandts Mitarbeiter informieren. Damit die Unternehmensführung den Behörden kompetent Auskunft und Erklärungen geben kann.«

»Und wenn die Polizisten selbst etwas finden?«

»Sagen Sie mir natürlich auch umgehend Bescheid. Am besten bremsen Sie sie ein wenig, bis Sie sich selbst ein Bild gemacht und mich informiert haben. Sobald wir so weit sind, können wir ihnen dann ja sogar die Freude lassen …«

Den Haag

Nachdenklich studierte Bollard die große Übersichtswand im Lagezentrum, an der sie ihre Informationen sammelten.

Die Versuche, seine Eltern anzurufen, hatte er eingestellt. Seit dem Angriff auf die USA gelangten kaum mehr Berichte über die Lage in Saint-Laurent nach Den Haag. Die US-Networks sendeten weniger internationale Nachrichten. Andere Sender wie Al Jazeera oder die Asiaten hatten offenbar keine Journalisten vor Ort. Bollard konnte froh sein, wenn die Kommunikationskanäle zwischen den nationalen und internationalen Behörden rudimentär bestehen blieben. Mit den Kollegen von der EU in Brüssel und Straßburg konnten sie sich nur zeitweise austauschen, zu seinen Kollegen in Frankreich noch seltener. Ebenso sporadisch tröpfelten Informationen von der Internationalen Atomenergie-Organisation aus Wien ein. Bollards Letztstand für Saint-Laurent war Stufe 5 auf der INES-Skala. Im Gegensatz zu den Verantwortlichen beim Betreiber EDF und der französischen Atomsicherheitsbehörde wollte die IAEO eine partielle Kernschmelze im Reaktorblock 1 nicht mehr ausschließen.

Bollard betete, dass seine Eltern und die seiner Frau rechtzeitig gewarnt und evakuiert worden waren.

Saint-Laurent war nicht mehr das einzige Kraftwerk, dessen Notsysteme versagten. Vom französischen Tricastin, dem belgischen Doel, dem tschechischen Temelín und dem bulgarischen Kosloduj wurden ähnliche Verhältnisse gemeldet. Doel war nur hundertvierzig Kilometer von Den Haag entfernt, von Brüssel trennten das Kraftwerk sogar nur sechzig Kilometer. Noch war in keinem Fall Radioaktivität in großer Menge ausgetreten, doch bei negativer Entwicklung des Störfalls und ungünstiger Wetterlage konnte eine radioaktive Wolke die belgische Hauptstadt und den Sitz des Europäischen Rats sowie der Europäischen Kommission erreichen.

Bollard steckte eine weitere Nadel in die Europakarte. Nach dem Anruf der Deutschen heute Morgen hatte er die Information an alle anwesenden Liaisonoffiziere weitergegeben, damit sie in ihren Heimatländern nachfragten. Tatsächlich trafen bis zum Mittag Meldungen aus Spanien, Frankreich, den Niederlanden, Italien und Polen ein. In Spanien war eine Brandstiftung in einer Umschaltanlage gemeldet worden und zwei gesprengte Masten, in Frankreich waren vier Masten gefallen, in den Niederlanden, Italien und Polen je zwei. Wobei alle Länder betonten, dass die Angaben vorläufig und womöglich nicht vollständig waren, da sie viel zu wenige Teams zur Überprüfung hatten. Für jede sabotierte Anlage steckte er eine Nadel in die Tafel.

»Aus Deutschland kamen ebenfalls neue Daten«, sagte Bollard. »Die lassen Berlins Routen-Theorie schlecht aussehen. Die Brandstiftung in Lübeck wurde widerrufen, dafür haben wir eine im südlichen Bayern. Auch die Masten im Norden sind anscheinend natürlichen Gründen zum Opfer gefallen. Dafür haben wir angeblich einen gefällten Mast im östlichen Sachsen-Anhalt.«

»Müssen wir also nicht annehmen, dass jemand quer durch Europa fährt und Schaltanlagen deaktiviert?«

»Das müsste ein Haufen Trupps sein«, stellte Bollard fest.

Das Klingeln eines Funktelefons unterbrach ihre Überlegungen.

»Für Sie«, sagte der Mitarbeiter, der abgehoben hatte, zu Bollard und streckte ihm den Hörer entgegen.

Am anderen Ende meldete sich Hartlandt. »Ich versuche seit einer Stunde, zu Ihnen durchzukommen.«

Zuerst wollte Bollard Hartlandts folgender Schilderung kaum glauben. Der Italiener hatte einen Fluchtversuch unternommen und war dabei angeschossen worden. Jetzt lag er in einem Krankenhaus in Düsseldorf. Hartlandt beschrieb, wie Manzano hartnäckig darauf bestand, dass jemand anderes als er die belastenden E-Mails von seinem Computer verschickt haben musste.

»Jemand von Europol«, sagte Hartlandt, »oder jemand, der Ihre Pläne kannte, weil er Ihr Kommunikationssystem infiltriert hat.«

»Für meine Leute lege ich die Hand ins Feuer«, versicherte Bollard.

Kaum hatten sie das Gespräch beendet, sprang er nervös auf.

»Bin gleich wieder da«, wandte er sich an seinen Kollegen. Zur IT-Abteilung musste er zwei Stockwerke tiefer. Auch dort standen viele Büros leer, stellte er fest.

Der leitende Direktor saß in seinem Zimmer, hinter ihm ein Mitarbeiter, gemeinsam stierten sie auf die vier Bildschirme vor sich.

»Haben Sie zwei Minuten?«, fragte Bollard.

Der IT-Leiter war ein umgänglicher Belgier, der seit Jahren für Europol arbeitete.

»Nicht wirklich«, erwiderte er.

»Es ist wichtig.«

Der Belgier seufzte, der andere musterte Bollard unwirsch.

»Ich würde das lieber auf dem Flur besprechen«, sagte Bollard und deutete mit dem Daumen über seine Schulter.

Jetzt blickte ihn auch der Belgier unfreundlich an, doch Bollard hatte sich schon wieder vor die Tür gestellt und gab zu verstehen, dass er so lange warten würde, bis der andere ihm folgte.

Mit einer dramatischen Geste erhob sich der IT-Leiter und schlurfte zu Bollard.

»Was ist so wichtig?«

Bollard schob ihn ein paar Schritte weiter und erzählte ihm in kurzen Worten von Manzano, den E-Mails und den Anschuldigungen des Italieners.

»Lächerlich!«, stieß der Belgier hervor.

»Diese Leute haben immerhin die Stromnetze von zwei der größten Wirtschaftsräume der Welt lahmgelegt. Warum können Sie ausschließen, dass sie nicht auch bei uns drin sind?«

»Weil unser System x-fach gesichert ist!«

»Das waren die anderen angeblich auch. Hören Sie, wir sind hier unter uns. Wir wissen beide, dass es keine absolut sicheren Netze gibt. Und mir ist auch bekannt, dass es durchaus bereits erfolgreiche Versuche gab, in unsere Netze einzudringen …«

»Aber nur in periphere Bereiche!«

»Wollen Sie dafür verantwortlich sein, wenn eines Tages herauskommt, dass es womöglich nicht so war?« Bollard fixierte den Mann, ließ ihm Zeit zum Nachdenken, aber nicht für eine Antwort. »Nur einmal angenommen«, fuhr er fort, »jemand beobachtet und manipuliert uns tatsächlich über unsere eigenen Systeme: Merkt er dann auch, wenn Sie genau danach zu suchen beginnen?«

»Hängt davon ab, wie wir es anstellen«, brummte der Belgier. »Aber ich habe gar keine Leute für das, was Sie sich da vorstellen. Die Hälfte meiner Mannschaft taucht nicht mehr auf. Die andere steht kurz vor dem Zusammenbruch.«

»Wie wir alle. Und außerdem stehen wir mit dem Rücken zur Wand.«

Düsseldorf

Manzano wachte vom brennenden Schmerz in seinem Oberschenkel auf. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, auch ein paar Sekunden lang nicht einmal, wo er sich befand. Doch die Schmerzen riefen die Ereignisse schnell in sein Gedächtnis zurück.

Am Fußende seines Bettes saß noch immer Pohlen.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Über zwei Stunden. Es ist sieben Uhr abends.«

»Der Arzt war nicht mehr da?«

»Nein.«

Manzano wurde wieder bewusst, was ihn hierhergebracht hatte. Er durfte sich von diesen Polizisten nicht wegbringen lassen!

»Ich muss auf die Toilette.«

»Können Sie gehen?«

Manzano versuchte, die Beine aus dem Bett zu heben. Sein rechter Schenkel beklagte sich bitterlich. Er stützte sich auf, stellte fest, dass er stehen konnte. Pohlens Hilfsangebot lehnte er ab.

Auf dem düsteren Flur herrschte Gedränge. Betten wurden nach wie vor Richtung Ausgang geschoben, Menschen riefen durcheinander, durchsetzt von Wimmern, Jammern und Schmerzensschreien. Manzano entdeckte kaum jemanden in Krankenhauskitteln.

»Was ist hier los?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Pohlen.

Als sie schließlich die Toiletten erreichten, stellte er fest, dass sein Bein etwas weniger schmerzte. Er beschloss, trotzdem weiterhin auffällig zu humpeln. Wer wusste, wozu es gut sein konnte, wenn Pohlen ihn für fast gehunfähig hielt.

Manzano verrichtete sein Geschäft, dann erklärte er: »Gehen wir zur Ambulanz und versuchen, den Arzt zu finden.«

Manzano hinkte los. Unter einem verlassenen Bett entdeckte er achtlos weggeworfene Krücken.

»Die könnte ich gebrauchen«, sagte er zu Pohlen.

Der BKA-Mann bückte sich, reichte sie Manzano.

Die Evakuierung hatte sich anscheinend herumgesprochen. Der Wartesaal der Ambulanz war nur noch spärlich besetzt. Das Zimmer, in dem er behandelt worden war, war leer.

»Den finden Sie nicht mehr«, meinte Pohlen. »Aber es scheint Ihnen ohnehin besser zu gehen.«

»Und jetzt?«

»Warten wir auf den Wagen, den Hartlandt uns schicken wollte. Mit dem bringen wir Sie dann in Untersuchungshaft.«

Dort wollte Manzano unter gar keinen Umständen hin. Fieberhaft überlegte er einen Ausweg oder Argumente, Hartlandt von seiner Unschuld zu überzeugen. Ihm fielen keine ein. Aber währenddessen war sein Blick in dem Behandlungsraum umhergeschweift, und er hatte etwas entdeckt.

»Ich glaube, da unten liegt ein Schmerzmittel«, sagte er und zeigte auf die unterste Etage in einem Metallregal. »Könnten Sie es bitte für mich herausholen, ich komme da schlecht dran?«

Pohlen bückte sich. »Wo?«

Manzano hakte die Armstützen der Krücken an zwei Stangen des Metallregals ein und zog heftig daran. Samt Inhalt kippte es lautstark auf Pohlen und begrub ihn unter sich. Die Krücken hatte Manzano rechtzeitig wieder gelöst, er hörte den Kriminalbeamten aufschreien und fluchen. Schnell schloss er die Tür hinter sich und durchquerte so unauffällig wie möglich den Warteraum, die Krücken in der Hand. Bei jedem Auftreten schoss ein Stich von seinem Schenkel bis in sein Gehirn. Trotzdem musste er nachdenken, wohin er sollte. Als er in den Flur gelangte, wo die Menschen weiterhin dem Ausgang zustrebten, hatte er eine Idee.

Aus ihrem Versteck, einer Türnische, heraus beobachtete Shannon, wie Manzano aus dem Ambulanzraum trat, sich nervös umschaute und schließlich den Flur entlanghinkte, gegen den Strom der Flüchtenden, bis er in einem Seitengang verschwand. Shannon wollte ihm schon nachlaufen, doch in diesem Augenblick tauchte sein Bewacher aus dem Ambulanzraum auf. Shannon hielt die Luft an, während der Polizist einen Moment zögerte und sich dann durch die Menschenmassen Richtung Ausgang drängte.

Shannon löste sich aus ihrem Versteck und folgte Manzano. Sie rempelte Leute an, wurde selbst geschubst und gestoßen, bis sie endlich die Stelle erreichte, an der Manzano um die Ecke verschwunden war.

Der Italiener war weg.

Vor dem Krankenhaus herrschte Chaos. Das schwache Licht aus einigen Fenstern sowie das Blaulicht von Rettungswagen beleuchteten eine gespenstische Szenerie: hilflos umherirrende Menschen, die zwar das Krankenhaus verlassen mussten, aber anscheinend nicht wussten, wohin sie gehen sollten. Die Rettungswagen steckten fest. Mittendrin der baumlange Pohlen mit hektisch suchendem Blick. Hartlandt wusste sofort, was geschehen war.

»Wo ist er?«, rief er Pohlen zornig zu und kämpfte sich zu ihm durch.

»Er muss noch ganz in der Nähe sein«, keuchte Pohlen. Sein Gesicht war zerschrammt, unter dem rechten Auge bildete sich ein Bluterguss.

Selbst wenn Pohlen seit drei Tagen kaum geschlafen hatte, einen verletzten Zivilisten durfte er als ehemaliger Elitesoldat und top ausgebildeter BKA-Mann nicht entkommen lassen.

Hartlandt ließ seinen Blick über den Platz vor dem Krankenhaus schweifen. In dem Gewimmel und der kaum erhellten Dunkelheit konnte er wenig erkennen. Geradezu ideale Umstände, um unterzutauchen.

»Wann haben Sie ihn verloren?«

»Vor etwa zehn Minuten, aber mit seinem Bein kann er nicht weit gekommen sein.«

So gesehen war es ein Glück, dass er gerade jetzt eingetroffen war und Pohlen den Italiener nicht allein suchen musste. Trotzdem hätten sie Verstärkung gebraucht. Doch ohne funktionierende Mobiltelefonnetze konnte er keine anfordern.

»Okay. Sie links, ich rechts.«

Sie liefen los.

In dem Zimmer, vermutlich ein Behandlungsraum, war es dunkel. Ungefährdet konnte Manzano ans Fenster treten, niemand würde ihn sehen, auch von draußen nicht. Er blickte hinunter auf den Platz vor dem Krankenhaus, wo die Menschen im flackernden Blaulicht der Rettungswagen wie kleine Puppen kreuz und quer liefen. Das Gewusel stand in einem strengen Kontrast zur Stille, die ihn hier oben hinter dem geschlossenen Fenster umfing.

Ohne Fahrstuhl war der Weg in den fünften Stock beschwerlich gewesen, doch sobald er herausgefunden hatte, wie man mit Krücken Treppen stieg, hatte er es binnen weniger Minuten geschafft. Begegnet war er niemandem. Er wusste nicht, wie viele Etagen genau das Gebäude hatte, aber sieben oder acht mussten es sein. Er hatte sich bewusst dafür entschieden, nicht gleich im zweiten Stockwerk zu bleiben. Mit seiner Verletzung würde ihn kaum jemand so weit oben suchen, hatte er überlegt. Eigentlich rechnete er damit, dass Hartlandt ihn gar nicht mehr im Krankenhaus, sondern auf der Flucht durch Düsseldorf vermutete.

Wie es schien, ging sein Plan auf. Trotz der Höhe und der schlechten Lichtverhältnisse entdeckte er den langen Pohlen, wie er im Getümmel nach ihm suchte. Dann sah er einen zweiten Mann durch die Menge irren, mit ganz anderen Bewegungsmustern als der Rest. Hartlandt.

Manzano blieb stehen, wartete, versuchte einen seiner beiden Verfolger immer im Auge zu behalten. So beobachtete er eine Weile das Treiben. Irgendwann bemerkte er jedoch, dass sich Hartlandt und Pohlen vor dem notbeleuchteten Eingang trafen, zwei ruhende Pole in dem ganzen Tohuwabohu. Sie schienen kurz zu diskutieren, wandten sich noch einmal dem Haus zu und zogen schließlich gemeinsam ab. Manzano schaute ihnen nach, bis sie verschwunden waren.

Vielleicht holten sie Verstärkung, um doch noch das ganze Haus zu durchsuchen oder die Eingänge zu überwachen?

Er spürte wieder den pochenden Schmerz in seinem Bein, zog den Stuhl zum Fenster und setzte sich hin. So konnte er die Straße im Blick behalten und hoffte inständig, dass er trotz der Dunkelheit auch erkannte, wenn ihm Gefahr drohte.

Bald mussten in dem Gebäude die Lichter ausgehen, wenn der Arzt recht gehabt hatte. Dann würde er ganz allein sein.

Shannon sah in einen Raum nach dem anderen, doch noch im Erdgeschoß gab sie auf. Das Gebäude war viel zu groß. Hier würde sie Manzano nie finden. Vielleicht hatte er das Krankenhaus im Schutz des Getümmels längst verlassen. Hoffnungslos beobachtete sie die flüchtenden Menschen um sich herum. Schließlich schloss sie sich ihnen an. Sie musste einen Platz für die Nacht finden. Sie ließ sich aus dem Gebäude treiben, blickte noch einmal zurück, zögerte, dann ging sie zu dem Porsche, den sie im Halteverbot einer Seitenstraße geparkt hatte.

»Hilfe!«

Manzano wusste nicht, wie lange er an dem Fenster gesessen hatte. Der Platz vor dem Krankenhaus war fast leer. Das einzige Licht spendete nun der halb volle Mond. Hatte er sich das gerade eingebildet?

»Hilfe!« Die Stimme kam von weit weg, ganz leise. Manzano tastete sich mit seinen Krücken auf den finsteren Flur. Er horchte. Vielleicht war es doch nur ein Hirngespinst gewesen. Da hörte er erneut etwas und entdeckte weiter hinten einen schwachen Lichtstreifen unter einem Türschlitz. Während er darauf zuhumpelte, passierte er ein paar offene Türen. Aus einer drang ein fürchterlicher Gestank nach Fäulnis und Fäkalien. Zögernd betrat er den Raum und fiel nach wenigen Schritten beinahe über ein Bett. Er beugte sich vor, um das Gesicht zu sehen, das in dem Kissen lag. Es gehörte einem Greis, Manzano konnte nicht einmal sagen, ob Mann oder Frau, hauchdünne Haut über Knochen, geschlossene Augen, offener Mund. Die Gestalt bewegte sich nicht.

Hatte man sie hier vergessen? War sie tot und wurde deshalb vorerst nicht fortgebracht? Er suchte nach einem Lebenszeichen, konnte nichts erkennen.

Er tastete sich weiter vor, bis er an ein anderes Bett stieß. Ein Körper baute sich unter der Decke auf wie ein Berg, passte kaum auf die Matratze, aber Manzano vernahm schwache Atemgeräusche.

Wo war das Pflegepersonal?, fragte er sich. Vielleicht da, wo der Lichtschein herkam?

Mit vorsichtigen, humpelnden Schritten verließ er den Raum wieder und näherte sich so leise wie möglich dem Lichtschimmer.

Er hörte Stimmen. Die Tür war nur angelehnt. Seine Deutschkenntnisse halfen ihm, ein paar Gesprächsfetzen aufzuschnappen.

»Das können wir nicht tun«, flehte eine männliche Stimme.

»Wir müssen«, erwiderte eine Frau.

Jemand schluchzte.

»Dafür bin ich nicht Krankenpfleger geworden«, sagte der Mann.

»Und ich nicht Ärztin«, entgegnete die Frau. »Aber sie werden in den nächsten Stunden oder Tagen sterben, auch bei optimaler Betreuung. Eine Verlegung überlebt keiner von ihnen. Die Kälte und mangelnde Versorgung hier auch nicht. Sie einfach liegen zu lassen bedeutet, sie unnötigen Leiden auszusetzen. Sie verhungern, verdursten und erfrieren langsam in ihren eigenen Exkrementen. Wollen Sie das?«

Der Mann weinte jetzt.

»Abgesehen davon, dass Nehrler und Kubim ohne Fahrstühle nicht weggebracht werden können. Kein Sanitäter kann einen Fünfhundert-Pfund-Patienten mit einer Trage durch das Treppenhaus schleppen.«

Langsam begriff Manzano, worum es in der Diskussion ging. Ein Zittern erfasste seinen ganzen Körper, gegen das er sich nicht wehren konnte.

»Glauben Sie nicht, dass mir das Vergnügen bereitet«, fuhr die Ärztin fort. Manzano hörte das Beben in ihrer Stimme.

Der Pfleger antwortete mit einem erneuten Tränenausbruch.

»Keiner der Patienten ist bei Bewusstsein«, sagte die Ärztin. »Sie werden nichts merken.«

Wer hatte dann um Hilfe gerufen?, fragte sich Manzano. Hatten die beiden nichts gehört? Ihm brach der Schweiß aus.

»Ich gehe jetzt«, stieß die Ärztin mit gepresster Stimme hervor.

Schnell löste sich Manzano von der Wand und eilte ins nächste Zimmer. Es lag dem Raum mit den zwei Patienten direkt gegenüber. Er wagte nicht, die Tür zu schließen, um keinen Verdacht zu erregen. Neben dem Türstock drückte er sich gegen die Wand, eine Sekunde später hörte er bereits Schritte auf dem Flur.

Eine weitere Person kam angerannt.

»Warten Sie«, sagte der Pfleger leise.

»Bitte«, flüsterte die Ärztin. »Lassen Sie …«

»Sie müssen das nicht allein durchstehen«, unterbrach sie der Mann, seine Stimme jetzt wieder fester. »Und die armen Menschen auch nicht.«

Dann vernahm Manzano das leise Quietschen ihrer Gummisohlen, wie sie in den gegenüberliegenden Raum gingen.

Vorsichtig lugte er um die Ecke. Da die beiden Taschenlampen dabeihatten, konnte er sehen, wie sie vor das Bett der Alten traten. Die Ärztin, groß, schlank und mit schulterlangem Haar, legte ihre Taschenlampe auf dem Bett ab, sodass das Licht an die Wand geworfen wurde. Der Pfleger, kleiner als sie und von sehr zarter Gestalt, setzte sich an den Bettrand, nahm die dünne Hand des Patienten in seine und begann sie zu streicheln. Währenddessen zog die Ärztin eine Spritze auf. Sie löste den Schlauch vom Infusionsbeutel, steckte ihn auf die Spitze der Spritze und drückte das Mittel hinein. Dann schloss sie den Schlauch wieder an den Beutel an. Der Pfleger streichelte weiterhin die Hand. Die Ärztin beugte sich über die Patientin und strich ihr über das Gesicht, immer wieder. Dabei flüsterte sie etwas, das Manzano nicht verstand. Manzano konnte seinen Blick nicht abwenden. Er stand da, als wäre das Blut in seinen Adern gefroren, unfähig, sich zu bewegen.

»Ich brauche die Leute«, beharrte Hartlandt. Vergeblich hatten er und Pohlen das Umfeld des Krankenhauses abgesucht. Jetzt standen sie im Büro des Düsseldorfer Polizeipräsidenten drei Männern gegenüber, die offensichtlich seit Tagen kaum geschlafen hatten.

»Wir brauchen sie auch«, widersprach der Polizeipräsident höchstpersönlich. »Sie wissen ja, was da draußen los ist.«

»Der Mann, den wir suchen, ist vielleicht dafür mitverantwortlich«, erklärte Hartlandt mit Nachdruck.

Der Polizeipräsident stöhnte. Er griff nach einem Funkgerät auf seinem Schreibtisch. Drückte einen Knopf, sprach grußlos in das Mikrofon: »Ist Deckert schon wieder da?«

Eine krächzende Stimme in dem Gerät bejahte.

»Kommen Sie mit«, sagte der Präsident.

Hartlandt und Pohlen folgten ihm durch Flure, die von der Notbeleuchtung nur schwach erhellt wurden. In einigen Büros, an denen sie vorbeikamen, saßen Beamte. Aus anderen hörten sie Stimmen. Sie überquerten einen kalten Hof und betraten einen großen Raum, wo sie ein Trupp von acht Uniformierten erwartete. Hartlandt entdeckte vier Schäferhunde.

Der Polizeipräsident stellte Hartlandt einen durchtrainierten Mittvierziger vor.

»Karsten Deckert, Leiter unserer Hundestaffel.«

Hartlandt erläuterte ihm, was er brauchte.

»Wir wollten gerade Pause machen«, entgegnete Deckert. »Meine Männer sind seit achtundvierzig Stunden auf den Beinen. Die Hunde auch.«

»Ich fürchte, das muss warten«, erwiderte Hartlandt. »Wir müssen in das Krankenhaus.«

Die Ärztin richtete sich auf und bedankte sich beim Pfleger.

Er nickte wortlos, ohne die Hand der Toten loszulassen.

Sie hob ihre Taschenlampe auf, und für einen Moment traf der Lichtstrahl genau Manzanos Gesicht.

Manzano zuckte zurück, hoffte, dass sie ihn nicht gesehen hatten. Drüben hörte er ein Flüstern, dann Schritte in seine Richtung.

Grelles Licht blendete ihn, er musste die Augen schließen.

»Wer sind Sie?« Die Stimme des Pflegers überschlug sich fast. »Was machen Sie hier?«

Manzano öffnete die Augen einen Spalt, hielt sich die Hand vors Gesicht und stammelte: »The Light. Please.«

»Sie sprechen Englisch?«, fragte die Ärztin in derselben Sprache.

»Was machen Sie hier? Woher kommen Sie?«

»Italy«, erwiderte er. Sie brauchten nicht zu wissen, dass er leidlich Deutsch verstand und ihre Gespräche belauscht hatte.

Die Ärztin fixierte Manzano.

»Sie haben uns gesehen, nicht wahr?«

Manzano erwiderte ihren Blick, dann nickte er.

»Ich glaube, dass Sie das Richtige tun«, flüsterte er auf Englisch.

Die Ärztin starrte ihn weiterhin an, Manzano hielt ihrem Blick stand.

Nach einigen Sekunden brach die Medizinerin das Schweigen: »Dann verschwinden Sie. Oder helfen Sie diesen Menschen.«

Manzano schwankte. War das wirklich Hilfe? Er war sich bewusst, dass er den medizinischen Zustand der Betroffenen nicht beurteilen konnte. Da musste er sich auf die Expertise der Frau Doktor verlassen. Aber was war mit der moralischen Verantwortung? Manzano hatte zum Thema Sterbehilfe eine klare Meinung. Auch für sich selbst hätte er sich keine künstliche Verlängerung von Lebensfunktionen seines Körpers ohne Bewusstsein gewünscht. Auch wenn ihm klar war, wie schwierig es war, genau diesen Zustand endgültig festzustellen. War in diesem leblosen Körper doch noch etwas wie ein Ich? Und wenn, was wollte es? Leben? Sich verabschieden? Oder auch nur die Fähigkeit, die anderen dazu aufzufordern, selbst eine Entscheidung treffen zu dürfen? War es damit aber nicht wieder genügend bei Bewusstsein, um nicht – er wagte es kaum, das Wort zu denken – eingeschläfert zu werden? Diese und andere Gedanken jagten in diesem Moment gleichzeitig durch seinen Kopf. Doch hier ging es nicht mehr nur theoretisch um Sterbehilfe. Die Ärztin war deutlich gewesen. Verschwinden Sie. Oder helfen Sie diesen Menschen. Geschickte Frau. Sie hatte nicht gefordert: »Helfen Sie uns.« Nein, mit einem simplen rhetorischen Trick hatte sie die – vorgebliche – Selbstlosigkeit ihrer Handlung betont. Manzano wurde so nicht zum Komplizen, sondern durfte sich als Wohltäter fühlen. Was ihm nicht gelang. Er musste sich an der Wand abstützen. Erst jetzt spürte er, wie der Pfleger sich gefühlt haben musste, aber auch, was die Ärztin empfand. Er umfasste die Griffe seiner Krücken, richtete sich auf.

»Was soll ich tun?«

»Seien Sie einfach da«, antwortete die Ärztin mit sanfter Stimme. »Glauben Sie, dass Sie das können?«

Manzano nickte.

Sie wandte sich der einsamen Gestalt in dem Bett hinter ihnen zu, die Manzano erst jetzt im Schein der Taschenlampen ausmachte. Er und der Pfleger folgten ihr. Das Gesicht gehörte einer Frau, die Wangen waren eingefallen, die Augen geschlossen. Manzano entdeckte kein Lebenszeichen.

»Halten Sie ihre Hand«, forderte die Ärztin ihn auf.

»Was ist mit ihr?«, fragte Manzano, während er sich an den Bettrand setzte.

»Multiples Organversagen«, antwortete die Ärztin.

Zögerlich griff Manzano nach der Hand. Es war eine zarte Hand, mit schlanken, gepflegten Fingern. Sie fühlte sich kalt und klamm an. Manzano spürte keine Reaktion auf seine Berührung, reglos lag sie in seiner. Wie ein kleiner, toter Fisch, dachte er, auch wenn ihm der Vergleich nicht gefiel.

Die Ärztin bereitete eine weitere Spritze vor.

»Sie heißt Edda und ist vierundneunzig«, flüsterte sie dabei. »Vor drei Wochen hatte sie einen schweren Schlaganfall, ihr dritter in zwei Jahren. Ihr Gehirn erlitt massive Schäden. Sie hat keine Chance, je wieder aufzuwachen. Vor einer Woche kam noch ein Lungenödem dazu, seit vorgestern setzten Nieren und andere Organe aus. Unter normalen Umständen würde ich ihr vielleicht noch vierundzwanzig Stunden geben. Doch die Geräte sind ausgefallen.«

Sie hatte die Flüssigkeit von der Ampulle in die Spritze gesaugt. Als Nächstes wiederholte sie die Prozedur mit dem Schlauch des Infusionsbeutels, den Manzano bereits im Nebenraum beobachtet hatte.

»Ihr Mann ist seit Jahren tot, ihre Kinder leben in der Nähe von Berlin und Frankfurt. Vor dem Stromausfall haben sie es noch einmal geschafft, hierherzukommen.«

Manzano merkte, dass er während der Erzählung der Ärztin unwillkürlich die Hand der alten Frau zu streicheln begonnen hatte.

»Sie war Lehrerin für Deutsch und Geschichte«, fuhr die Ärztin fort. »Das haben mir die Kinder erzählt.«

Vor Manzanos innerem Auge erschienen Bilder einer jüngeren Edda, in verblichenen Farben, so wie auf den alten Aufnahmen seiner eigenen Großeltern. Ob sie Enkel hatte? Erst jetzt entdeckte er das kleine, gerahmte Bild auf dem Rollcontainer neben ihrem Bett. Manzano musste sich nach vorne beugen, um mehr zu erkennen. Es zeigte ein älteres Paar, feierlich gekleidet, umringt von neun Erwachsenen und fünf Kindern verschiedensten Alters, ebenfalls extra hergerichtet für das Bild, das offensichtlich im Studio eines Fotografen aufgenommen worden war. Damals musste ihr Mann noch gelebt haben.

Die Ärztin hatte ihre Arbeit erledigt, stöpselte den Schlauch wieder an den Infusionsbeutel. »Es dauert etwa fünf Minuten«, flüsterte sie. »Wir gehen zu den anderen. Brauchen Sie eine der Taschenlampen?«

Manzano verneinte und sah ihnen nach, als sie den Raum verließen. Im Dunkel hielt er Eddas Hand und spürte, wie ihm Tränen über die Wangen liefen.

Er begann auf sie einzureden, weil er die Stille nicht ertrug. Italienisch, weil es ihm am leichtesten fiel. Er erzählte von seiner Kindheit und Jugend in einer Kleinstadt nahe Mailands, von seinen Eltern, wie sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren und er nicht einmal Abschied von ihnen hatte nehmen können, obwohl es noch so viel zu sagen, zu klären gegeben hätte. Von seinen Frauen, auch von seiner deutschen Freundin mit dem französischen Namen Claire, Claire aus Osnabrück, zu der er schon lange keinen Kontakt mehr hatte. Er versicherte Edda, dass ihre Kinder und Enkel jetzt bei ihr sein wollten, die Umstände es ihnen aber unmöglich machten, dass er ihnen erzählen würde, wie sie sanft und friedlich in eine andere Welt hinübergegangen war. Er redete und redete um sein Leben. Lange musste er so dagesessen haben, länger als die fünf Minuten, von denen die Ärztin gesprochen hatte, bis er spürte, dass in der Hand, die er hielt, kein Leben mehr war. Behutsam legte er sie zurück auf die Decke, bettete die andere Hand darauf. Eddas Miene hatte sich während der ganzen Zeit nicht verändert. Er wusste nicht, ob sie auch nur ein Wort von ihm gehört hatte, ob sie gespürt hatte, dass sie nicht allein gewesen war in ihren letzten Minuten. In der Finsternis sah er nur die Höhle ihres Mundes und die Schatten, in die ihre Lider gesunken waren.

Wo die Tränen in seinem Gesicht getrocknet waren, spannte die Haut. Er erhob sich, nahm seine Krücken, an der Tür musste er sich noch einmal umdrehen, dann verließ er den Raum.

Gegenüber stand gerade der Pfleger auf. Manzano fiel ein, dass weder er noch die Ärztin sich vorgestellt hatten. Vielleicht war es besser, wenn sie namenlos blieben bei dem, was sie hier taten.

In der folgenden halben Stunde hielt Manzano die Hände von drei weiteren Menschen, dem dreiunddreißigjährigen Opfer eines Autounfalls, einem siebenundsiebzigjährigen mehrfachen Herzinfarktpatienten und einer Fünfundvierzigjährigen, die sich nach einer dreißigjährigen Drogenkarriere den finalen Schuss gesetzt hatte. Keiner zeigte in irgendeiner Form, dass er die Gegenwart Manzanos, des Pflegers oder der Ärztin wahrnahm. Nur die Drogenkranke ließ so etwas wie einen leisen Seufzer hören, bevor sie verstummte. Nachdem Manzano ihre Hand zurückgelegt hatte, spürte er eine unendliche Leere in sich.

Die Ärztin bedankte sich bei ihm.

Manzano nickte langsam.

Sie zeigte auf seinen Schenkel. »Alles in Ordnung damit?«

Nur langsam drang in Manzanos Bewusstsein zurück, warum er hier war. Das Bein schmerzte, aber in diesem Augenblick freute er sich fast, dass er etwas spürte. Dass er lebte. Er stand auf, hielt sich ohne Krücken.

»Wir werden sie noch alle in einen Raum schieben und zudecken«, erklärte die Ärztin. »Dabei können Sie uns in Ihrem Zustand nicht helfen. Was werden Sie jetzt tun? Holt Sie niemand ab?«

»Doch«, erwiderte er und musste dafür nicht einmal lügen.

Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Nochmals vielen Dank.«

Auch der Pfleger gab ihm die Hand. In stillem Einvernehmen beließen sie es bei der gegenseitigen Anonymität.

»Die werden Sie brauchen«, sagte die Ärztin und reichte ihm ihre Taschenlampe. Manzano bedankte sich seinerseits und humpelte den Flur entlang Richtung Treppenhaus.

Er hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun, wohin er gehen sollte. Wenn Hartlandt bis jetzt nicht gekommen war, würde er es nicht mehr tun. Vielleicht sollte er über Nacht hierbleiben. Immerhin war es wärmer als draußen, es gab Betten und Decken. Bei dem Gedanken beschlich ihn Unbehagen. Aber ihm fiel keine Alternative ein. Hunger spürte er keinen, obwohl er seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Welches Bett sollte er nehmen? In allen waren Kranke gelegen, hatten geschwitzt, womöglich ihre Ausscheidungen darin verteilt. Neben den Fahrstühlen fand er eine Tafel, die beschrieb, welche Abteilungen er in welchem Stockwerk fand. Nachdem er die Liste durchgegangen war, kam für ihn nur ein Platz infrage. Er machte sich auf den Weg in den zweiten Stock, zur Entbindungsstation.

Selbst die Hotellobby war von Verzweifelten in ein Notlager umfunktioniert worden. Kein Kleinkind hätte mehr Platz darin gefunden, geschweige denn Shannon. Ähnlich hatte es in den zwei anderen Häusern ausgesehen, die sie noch geöffnet vorgefunden hatte. Alle anderen Hotels hatten ihren Betrieb eingestellt, wie Shannon in den vergangenen Stunden festgestellt hatte. Frierende Sicherheitsleute bewachten die Eingänge der verwaisten Gebäude.

Shannon sehnte sich nur noch nach einem Bett. Die Sitze des Autos waren zu unbequem zum Schlafen. Außerdem würde es in dem Porsche über Nacht zu kalt werden. Sein Außenthermometer zeigte zwei Grad über dem Gefrierpunkt.

Denk nach, Shannon! Wo findest du jetzt noch einen Platz zum Schlafen?

Dann hatte sie die Idee.

Shannon fuhr zum Krankenhaus zurück, in das sie Manzano gefolgt war. Morgen würde sie vielleicht ein amerikanisches Konsulat aufsuchen, so es eines in dieser Stadt gab. Vielleicht konnten sie ihr auch eine Dusche oder etwas zum Essen anbieten. Nachrichten wären ebenfalls wieder einmal interessant gewesen. Seit ihrer Abfahrt aus Den Haag war sie von der Welt abgeschnitten gewesen, im Autoradio hatte sie keine Nachrichten empfangen.

Den Wagen stellte sie wieder in der Tiefgarage ab, deren Schranken vermutlich seit Tagen offen standen. In dem Gebäude war es jetzt stockfinster. Im Werkzeugköfferchen fand sie eine kleine Taschenlampe. Sie schulterte ihren Seesack und stieg nach oben in die Empfangshalle. Die Flure des Krankenhauses waren verwüstet, überall lagen Laken, Fetzen, medizinisches Material. Der Geruch war widerlich. Der Lichtkegel ihrer Lampe glitt über den Plan neben den Fahrstühlen.

Zweite Etage, Entbindungsstation. Die einzigen Betten, in denen sie sich wohlfühlen würde. Sie nahm das Treppenhaus neben den Fahrstühlen.

»Leise«, sagte Hartlandt. »Damit er nicht gewarnt wird, falls er noch da ist.«

Sie betraten das Krankenhaus über die Ausfahrt der Tiefgarage, die etwas abseits lag und vom Gebäude aus nicht zu sehen war. Acht Polizisten mit vier Hunden folgten ihm und Pohlen. Unterwegs erkundeten sie mit ihren Taschenlampen jeden Winkel, an dem sie vorbeikamen.

Hartlandt fand den Weg in den Ambulanzraum, in dem Manzano operiert worden war. Aus dem überquellenden Mülleimer wühlte er jenen Teil von Manzanos Jeans heraus, den der Arzt abgeschnitten hatte, und reichte ihn dem Hundeführer. Dieser ließ die Tiere daran riechen, damit sie die Fährte aufnehmen konnten. Die Hunde schnupperten nervös an dem Fetzen, reckten ihre Hälse, drehten die Köpfe in alle Richtungen, senkten ihre Schnauzen zu Boden, dann zog einer zur Tür hinaus. Die anderen folgten ihm und zerrten die Männer an den Leinen hinterher.

Unter vier Decken liegend starrte Manzano durchs Fenster hinaus in die Dunkelheit. Von Schlaf konnte er nur träumen. Zu sehr hatten ihn die Ereignisse im fünften Stock aufgewühlt. Außerdem begann der Geruch von Fäkalien, Verwesung und Tod, der die anderen Stockwerke beherrschte, sich auch in der Entbindungsstation auszubreiten.

Zum ersten Mal seit Tagen war Manzano ganz allein. Er merkte, dass er über das Geschehen bislang nur wenig nachgedacht hatte. Zu schnell hatten sich die Ereignisse überstürzt, war er mit Aufgaben und Verantwortung zugeschüttet worden. Als er nun in diesem stillen Raum lag, wurde ihm erstmals das Ausmaß der Katastrophe bewusst. Und dass er bislang im Paradies gelebt hatte. Seine Gedanken wanderten zu Bondoni und dessen Tochter. Manzano vermutete, dass der alte Mann in dem Hüttendorf geblieben war. Ein Dach über dem Kopf, mit Holz heizen, vermutlich gab es auch Nahrungsmittelvorräte für einige Tage, Wasser konnten sie dort oben problemlos aus Schnee gewinnen. Leben wie vor zweihundert Jahren. Aber leben, während er hier von Tod und Verwesung umgeben war. Angström in Brüssel ging es wahrscheinlich auch nicht so gut. Manzano fragte sich, wie all die Institutionen und Organisationen der EU, der Staaten, Länder und Kommunen noch funktionieren sollten, wenn die Mitarbeiter irgendwann nicht mehr zur Arbeit erscheinen konnten, weil sie unter Umständen lebten, die den täglichen Kampf um Nahrung, Wasser und Wärme wichtiger machten als alles andere. Oder genossen diese Leute nun eine bevorzugte Behandlung, Unterkunft und Versorgung?

Einen Moment lang meinte er, Schritte zu hören und einen Lichtschein gesehen zu haben. Nein, er durfte jetzt nicht paranoid werden!

Unruhig wälzte er sich auf die andere Seite. Ein zweites Mal glaubte er, etwas zu hören, auch schien ihm, als würde sich auf dem Gang draußen ein schwacher Schein bewegen, der aber sofort wieder verschwand. Er stand auf und humpelte zur Tür. Diesmal hörte er ganz deutlich Schritte. Und leise Stimmen. Und da war noch ein Geräusch, das er nicht einordnen konnte. Als würde jemand mit Plastiklöffeln gegen den Steinboden klopfen. Waren das Plünderer?

Dann hörte er ein Winseln. Hunde. Und einen gezischten Befehl. Er spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Hastig hinkte er zurück zu seinem Bett und griff nach den Krücken. Vorsichtig ging er hinaus und lauschte.

Die Geräusche kamen aus dem Treppenhaus. Hektisch sah sich Manzano um. War das doch noch Hartlandt, um ihn zu suchen? Einbrecher, Plünderer oder Obdachlose hatten keinen Anlass, leise zu sein.

Manzano stand vor den Fahrstühlen, hörte, wie sich die Schritte und Stimmen näherten. Ins Treppenhaus konnte er nicht mehr flüchten. Wohin die Flure letztlich führten, wusste er nicht. Gut möglich, dass es Sackgassen waren oder dass die anderen Ausgänge abgesperrt waren. In seiner Angst sah er nur einen Ausweg. Er hockte sich hinter einen der Mülleimer. Als er das Bein zu beugen versuchte, schrie er fast auf. Er biss die Zähne zusammen, im selben Moment öffnete sich die Tür zum Treppenhaus, und Lichtstrahlen warfen ovale Flecken an Decke, Boden und die Wand gegenüber. Manzano hielt den Atem an und erkannte Hartlandt. Er schwenkte mit einer Taschenlampe hin und her, ihm folgten vier weitere Männer und zwei Hunde.

Manzano schloss kurz die Augen. Er duckte sich noch tiefer, öffnete die Augen wieder und fügte sich in das Unvermeidliche. Doch Hartlandt gab ein Zeichen, und zwei von ihnen verschwanden mit einem Hund nach links in den Flur, zwei andere nach rechts. Hartlandt selbst leuchtete durch das Zimmer, in dem Manzano noch vor drei Minuten gelegen hatte, dann folgte er den beiden nach rechts.

Fieberhaft überlegte Manzano seine Möglichkeiten. Solange die Männer die Flure absuchten, konnte er über das Treppenhaus flüchten. Unter Schmerzen richtete er sich auf und schlich zur Treppenhaustür. Ganz leise öffnete er sie und trat in den Schacht, als er von unten Schritte und das Hecheln weiterer Hunde hörte. Er zögerte keinen Augenblick. Dann musste er eben nach oben. Er setzte seinen Fuß gerade auf die erste Stufe, der automatische Schließarm hatte die Tür noch nicht wieder ganz zugezogen, da hörte er von den Fluren die Hunde bellen und Stimmen rufen.

»Polizei! Wer sind Sie? Kommen Sie heraus!«

Erschrocken hielt Shannon die Hände vor ihre Augen, in die Taschenlampen blendeten.

»I am a Journalist!«, rief sie. »I am a Journalist!«

»Was sagt sie?«

»Hände hoch, steigen Sie aus dem Bett!«

»I am a Journalist! I am a Journalist!«

»Raus, los!«

Hundegebell.

Shannon sah nichts, rief weiter, versuchte, ihre Beine aus den Decken zu befreien.

»Das ist eine Frau!«

»Was sagt sie?«

»Sie sagt, dass sie Journalistin ist.«

Endlich hatte Shannon ihre Füße befreit, stand auf, eine Hand immer noch vor den Augen, die andere wie zum Gruß erhoben. Hundeknurren.

»Wer sind Sie?«, fragte ein großer, durchtrainierter Mann mit kurzen Haaren in gutem Englisch, wenn auch mit leichtem deutschen Akzent. »Was tun Sie hier?«

»Ich habe kein Hotel gefunden, wo ich übernachten könnte«, erklärte Shannon wahrheitsgemäß.

Der Mann tastete sie mit seinem Lichtstrahl von oben bis unten ab. Jetzt erkannte sie ihn wieder. Er hatte Manzano abgeführt, verfolgt und ins Krankenhaus gebracht.

»Haben Sie hier jemanden gesehen?«

»Nein.«

Die Männer durchsuchten noch die anderen Betten, fanden jedoch nichts. Als sie hinausgingen, sagte der Anführer: »Sie sollten sich ein besseres Quartier suchen.«

Shannon blieb neben dem Bett stehen, während die Männer ins nächste Zimmer stürmten. Sie spürte, dass sie zitterte, wusste aber nicht, ob wegen des Schreckens oder vor Kälte. Sie kroch wieder unter ihre Decken zurück und hörte den Polizisten zu, wie sie mit ihren Hunden einen Raum nach dem anderen absuchten. Die Stimmen und Schritte wurden leiser, dann kehrten sie zurück, kamen erneut an ihrem Zimmer vorbei und verhallten.

Im dritten Stock suchten Hartlandt und seine Leute so vergeblich wie im vierten. Es war weit nach Mitternacht. Männer und Hunde waren nach den Einsätzen der Vortage todmüde. Das dunkle Gebäude mit seinen verlassenen, verwüsteten Räumen war noch deprimierender, als es ein Krankenhaus normalerweise ohnehin schon war. Mit schweren Lidern arbeiteten sie sich den Flur in der fünften Etage entlang, als die Hunde immer lauter zu winseln begannen.

»Könnte er das sein?«, fragte Hartlandt einen der Hundeführer.

»Vielleicht. Obwohl mir das nach etwas anderem klingt.«

»Was?«

»Ich hoffe nicht das, was diese Signale üblicherweise bedeuten.«

Die Tiere zogen jetzt heftig, die Männer ließen sich führen, bis sie zu einem der letzten Zimmer gelangten. Die Lichtkegel ihrer Lampen wanderten über die ausgebeulten Konturen der Betten, insgesamt acht auf engstem Raum. Die Laken bedeckten alles, von den Fuß- bis zu den Kopfenden.

Hartlandt trat an das vorderste Bett, schlug das Tuch zurück und blickte in das bleiche, ausgemergelte Gesicht einer Greisin. In seiner Laufbahn hatte er genug Tote gesehen, um einen zu erkennen, wenn er vor ihm lag. Er eilte zum nächsten Bett, dort erwartete ihn die Leiche einer mageren Frau, vielleicht ein Junkie, dachte Hartlandt, als er die schlechte Haut und die faulen Zähne entdeckte.

Zwei seiner Kollegen hatten mittlerweile die ersten Betten auf der anderen Seite untersucht.

»Hier haben sie scheinbar die zuletzt Gestorbenen abgelegt«, stellte einer von ihnen fest.

Die Hunde hockten winselnd mit eingekniffenen Schwänzen in der Tür.

»Das Personal schaffte es wohl nicht mehr, sie in die Kühlräume zu bringen«, sagte ein anderer.

Hartlandt ließ seine Lampe über die restlichen Betten gleiten, unter zwei mussten ordentliche Schwergewichte liegen. »Seht euch die an. Die kann kein Mensch die Treppen hinuntertragen.« Er drehte sich um. »Wozu auch? Die Kühlräume funktionieren sicher nicht mehr.«

Er gab den Männern ein Zeichen und verließ den Raum.

»Machen wir weiter.«

Schwer drückte der Körper auf Manzano, während die Schritte verklangen. Der Kopf des Toten lag neben seinem, der Rumpf bedeckte seinen. Noch immer wagte Manzano kaum, Luft zu holen. Gewicht, Angst, purer Horror raubten ihm den Atem.

Verzweifelt war er das Treppenhaus hochgeflüchtet. Schon da hatte er an den Leichenraum als einen allerletzten Ausweg gedacht. Unter die hinterste Leiche, die er im Raum entdeckte, hatte er sich geschoben. Der Gestank war unerträglich, der Tote lag in getrocknetem Blut und Fäkalien und schied eine Flüssigkeit aus, die Manzano allerdings erst bemerkte, als er schon zur Hälfte unter ihm lag. Mehr als einmal dachte er, er müsste sich ergeben. Vielleicht wäre seine Erleichterung genauso groß gewesen, wenn sie ihn gefunden hätten, Hauptsache, er konnte dieses grauenvolle Versteck verlassen.

Schwerfällig rappelte er sich unter dem Körper hervor, warf die schlaffen Glieder von sich, zerrte die Krücken heraus, die er mitgenommen hatte, torkelte, bis er an die Wand stieß, den Blick voller Entsetzen auf die dunklen Konturen in dem finsteren Raum gerichtet. Noch immer atmete er nur ganz flach. Er spürte die Tränen über seine Wangen laufen. Irgendwann machte er die paar letzten Schritte zur Tür.

Noch einmal horchte er, lange. Vom Flur drang kein Geräusch. Er öffnete die Tür einen Spalt, sah nichts. Im Dunklen tappte er Schritt für Schritt den Gang entlang. Die Ärztin und der Pfleger waren weg, wahrscheinlich gegangen, schon bevor Hartlandt und die Hunde aufgetaucht waren. Er merkte, wie er am ganzen Leib zitterte. Seine Hose war feucht von seinem Versteck und stank widerlich. Er zog sie aus. Nun trug er nur noch seine Shorts. Jetzt eine Dusche! Lang, heiß, mit schaumiger Seife!

Eine kleine Ewigkeit später hatte er sich sehr vorsichtig in den zweiten Stock gearbeitet. Die Männer mit den Hunden waren verschwunden. Manzano kehrte in das Zimmer zu dem Bett zurück, wo er seinen Ausflug vor ein paar Stunden begonnen hatte. Er kauerte sich unter die Decken, immer noch am ganzen Körper schlotternd, und erwartete nicht, in dieser Nacht noch ein Auge zu schließen.