Aachen

Vereinzelte Schneeflocken schmolzen in ihren Gesichtern. Ratlos schlichen sie durch die eisigen Straßen.

»Wie spät ist es?«, fragte Manzano. Wenigstens fühlte er sich etwas besser.

Shannons Armbanduhr zeigte Viertel vor vier.

»Lass uns zurück zum Bahnhof gehen«, schlug sie vor. »Von dort sehen wir, wie wir weiterkommen.«

»Wir sollten zur Polizei«, sagte Manzano. »Vielleicht haben die einen Internetanschluss.«

»Wegen dieser IP-Adresse auf deinem Laptop?«

»Wahrscheinlich finde ich dahinter nichts. Aber ich muss es wenigstens versuchen.«

»Glaubst du, sie geben dir die Chance, wenn sie herausfinden, dass du auf der Flucht bist?«

»Nein.«

»Eben. Wir müssen zu deinem Kontakt nach Brüssel oder in eine der Strominseln kommen.«

»Von denen wir nicht wissen, wo sie liegen. Oder ob sie nicht überhaupt ein Mythos sind. Wie Atlantis. Oder der Garten Eden. Verdammt, ist das kalt!!!«

Die Flocken fielen jetzt dichter.

Sie erreichten den Bahnhof. Umrundeten ihn. Im überdachten Bahnsteigbereich lagerten Dutzende Menschen, nebeneinander in Schlafsäcke und Decken gewickelt. Die Unterführungen zu den Gleisen und der Haupthalle waren durch Rollgitter abgesperrt. Davor drängten sich abermals Schlafende.

Shannon und Manzano suchten sich einen Platz. Immerhin waren sie hier vor Wind und Schnee einigermaßen geschützt. Es dauerte eine Weile, denn die meisten unbesetzten Stellen stanken nach Pisse. Aber schließlich fanden sie einen freien Winkel. Manzano setzte sich, lehnte seinen Rücken in die Ecke.

»Lehn dich an mich«, forderte er Shannon auf. »So können wir uns gegenseitig wärmen.«

Shannon setzte sich zwischen seine Beine, presste ihren Rücken gegen seinen Oberkörper, steckte ihre Hände unter die Achseln, zog ihre Beine an. Manzano legte seine Arme um sie. Sie spürte seinen warmen Atem an ihrem Ohr, langsam auch die Wärme seines Körpers, die durch die Kleiderschichten drang.

»Hilft wenigstens ein bisschen«, flüsterte er.

Sie wandte sich um, wollte sehen, wie es ihm ging.

Manzano hatte seinen Kopf nach hinten an die Wand kippen lassen, seine Augen geschlossen. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig, seine Arme verloren ihre Spannung. Behutsam klemmte Shannon sie unter die ihren, ließ ihren Kopf nach hinten auf seine Brust sinken, starrte an die finstere Dachkonstruktion der Halle, durch die einzelne, verirrte Schneeflocken trieben, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel.

Den Haag

Bollard hatte das letzte Stück Brot in acht Scheiben geschnitten. Vier dicke, vier hauchdünne. Danach mussten sie dringend Nachschub besorgen. Sie hatten kaum mehr etwas zu essen im Haus. Bollard ertappte sich dabei, gedankenverloren aus dem Küchenfenster zu starren. Er, der sonst so kontrolliert war. Die Wiese des kleinen Gartens war sogar im Winter grün. Die Büsche darauf blattlos, wie die Hecken zu den Nachbarn. Hinter einer sah er auf der Terrasse des Nebenhauses einen Mann hocken. Wahrscheinlich Luc. Bewegungslos, den Arm Richtung Wiese gestreckt. Jetzt entdeckte Bollard einige Meter weiter eine Katze, die sich langsam auf den Nachbarn zubewegte. Er schien sie mit etwas zu locken. Sie stellte den Schwanz auf und näherte sich schneller, erreichte Luc, schnupperte an seinen Fingern. Mit einer blitzschnellen Bewegung packte der Nachbar sie im Genick, schlug mit der anderen auf ihren Kopf, in der Hand einen eckigen Gegenstand, den Bollard erst in diesem Moment als Hammer erkannte. Sein Nachbar erhob sich, in der einen Hand den blutigen Hammer, aus der anderen baumelten die leblosen Beine des getöteten Tieres.

Behutsam legte Bollard das Messer ab, mit dem er das Brot geschnitten hatte.

Die Kinder stürmten in die Küche, Marie folgte ihnen müde, aber wieder besser bei Kräften als vorgestern. Bollard, froh über die Ablenkung, legte die vier dicken Brotscheiben auf je einen Teller und stellte sie auf den Esstisch. Dann nahm er die dünnen, hielt sie den Kindern vor die Nase.

»Stellt euch vor, das sind leckere Wurstscheiben, die wir auf die Brote legen.«

Er drapierte die dünnen Scheiben auf den dicken, schaute die Kinder erwartungsvoll an. Dabei ging ihm das eben Gesehene nicht aus dem Kopf.

»Das ist Brot, nicht Wurst«, widersprach Bernadette und betrachtete ihren Teller ablehnend.

»Für mich ist es Wurst«, beharrte Bollard. In ihren Spielen machten Kinder doch sogar Luft zu allem Möglichen! Demonstrativ biss er von seinem Stück ab.

»Mmmmhhhh! Guuut!«

Bernadette verfolgte sein Schauspiel skeptisch. Marie kostete ihr Stück und gab ebenfalls lautstark zu verstehen, dass es ihr schmeckte. Bollard kaute mit Genuss, nickte seinem Brot anerkennend zu, dann seiner Tochter, seinem Sohn.

»De-li-kat. Solltet ihr euch nicht entgehen lassen.«

Georges, der wie seine Schwester skeptisch danebengesessen hatte, ließ sich mitreißen, richtete sein »Wurststück« auf dem Brot und nahm gleichfalls einen gewaltigen Bissen, begleitete von »Mmmhs« und »Aaahs«.

Bernadette musterte ihr Brot unsicher, ihre Eltern und ihr Bruder setzten ihre Genussbekundungen verstärkt fort. Kopfschüttelnd griff sie schließlich zu, sagte: »Ihr spinnt ja total«, und biss zu.

Bollards Gedanken kreisten nur noch um die nächste Mahlzeit, die er ihnen beschaffen musste. So wie der Nachbar wollte er es nicht machen müssen.

Aachen

»Guten Morgen«, flüsterte Manzano in Shannons Ohr. Trotz der Eiseskälte und der unbequemen Haltung musste er ein paar Stunden geschlafen haben. Er fühlte sich etwas besser als am Vortag, das Fieber schien zurückgegangen zu sein.

Shannon zuckte, bewegte den Kopf unruhig hin und her, bevor sie ihr Gesicht an seinem Hals vergrub und weiterschlief. Seine Hände und Füße, Gesäß und Rücken spürte er kaum mehr vor Kälte und der unbequemen Haltung. Etwas weiter vorn kam Bewegung in einen Schlafsack. Nach und nach erwachte der Bahnhof. Müde Gesichter, strubbelige Frisuren. Die meisten schienen Manzano Dauergäste der Straße zu sein, mit verwitterten Antlitzen und verfilzten Haaren.

Nach Brüssel nicht einmal eineinhalb Stunden mit der fahrplanmäßigen Verbindung, dachte er. Zu Fuß über zwei Tage. Sanft wiegte er Shannon, flüsterte ihr erneut ins Ohr, bis sie die Augen aufschlug.

Sie blinzelte ihn an.

»Albtraum«, ächzte sie.

»Hattest du?«

»Nein, mit dem Aufwachen bin ich wieder in einen gekommen.«

Sie blieb noch einen Moment sitzen, dann erhob sie sich schwerfällig, streckte sich ausgiebig. Manzano versuchte es auch, spürte das verletzte Bein.

»Und jetzt?«

»Muss ich mal.«

»Ich auch.«

Nachdem sie diesen Teil in getrennten Ecken erledigt hatten, wanderten sie über den Bahnsteig auf der Suche nach einer Landkarte oder anderen Hinweisen, wie sie nach Brüssel gelangen konnten.

Sie fragten einige der Personen, die ebenfalls ihren Tag begannen.

»Kommen hier Züge durch?«

»Ganz selten. Güterzüge«, erwiderte einer.

»Wohin fahren die?«

»Keine Ahnung.«

»Bekommt man in der Nähe etwas zu essen?«

»In der Straße vor dem Bahnhof gibt es eine Suppenküche. Hat aber nicht immer offen.«

Die hatten sie gestern nicht gesehen. Sie ließen sich den Weg beschreiben. Beeilten sich. Trafen auf eine Warteschlange, die sich um den halben Häuserblock wand.

Eine Stunde später saß Shannon neben Manzano in einem Raum, der von einem Kohlenofen geheizt wurde. Bei der Essensausgabe hatte sie niemand ausgehorcht, jeder hatte zwei große Schöpflöffel Gemüsesuppe in einen Blechnapf bekommen, die sie, an langen Tafeln zwischen die anderen gedrängt, Schluck für Schluck tranken. Löffel hatten sie keine erhalten.

Die Menschen redeten nicht viel. Die meisten trugen mehrere Kleidungsschichten übereinander, ohne Rücksicht auf Stil oder Eleganz. Wer mit seiner Suppe fertig war, wurde von Betreuern aufgefordert, seinen Platz für die nächsten Esser freizugeben, was dazu führte, dass die meisten sehr lange für das Leeren ihres Napfes brauchten, während andere zwischen den vollen Bankreihen umherirrten. Auch Shannon und Manzano beeilten sich nicht. Die Kälte der vergangenen Nacht wich nicht so schnell aus ihren Gliedern.

Aber nach mehrfacher Aufforderung standen sie schließlich wieder in der Kälte draußen. Aus dem Haus gegenüber trugen vermummte Gestalten Möbel und elektrische Geräte. Sie sahen nicht wie die Hausbesitzer aus. Niemand interessierte sich für sie.

»Was machen die da?«, fragte Shannon.

»Ich fürchte, darum können wir uns nicht kümmern«, antwortete Manzano. »Wir haben Wichtigeres zu tun. Komm, zurück zum Bahnhof.«

Dort lief er die Gleise auf und ab, entschied sich schließlich für eine Richtung und zog Shannon mit sich. Nach etwa zweihundert Metern kamen sie unter einer Brücke durch, dahinter teilten sich die Gleise in mehrere Spuren. Zwei davon verschwanden in Gebäuden, die anderen liefen nach einigen hundert Metern wieder zu wenigen Gleisen zusammen. Dazwischen parkten Dutzende verschiedene Schienenfahrzeuge, von einfachen Lokomotiven über Teile von Regionalzügen und Güterwaggons bis zu seltsamen Konstruktionen, die wohl dem Gleisbau oder der Reparatur dienten. Eine sah sogar aus wie ein kurzer, gelber Lastwagen, der auf Schienen fahren konnte.

Manzano kletterte neben der Fahrertür hoch, versuchte, sie zu öffnen. Gleich darauf saß er hinter dem Steuer und untersuchte die Armaturen.

Shannon beobachtete ihn von der Leiter neben der Tür aus skeptisch.

»Braucht das Ding keinen Strom?«

»Nein. Fährt mit Diesel.«

»Wenn der Tank nicht leer ist.«

Unterhalb der Armatur demontierte Manzano eine Abdeckplatte, hinter der ein Kabelsalat auftauchte. Er überprüfte die Drähte, riss daran herum, verband einige neu, und auf einmal sprang mit lautem Stottern der Motor an.

»Worauf wartest du?«, fragte er. »Sieh nach, ob es hier so etwas wie einen Streckenplan gibt.«

»Hat der kein Navigationssystem?«, fragte sie, sprang hinein, setzte sich auf den Beifahrersitz, durchsuchte eine Art riesiges Handschuhfach, bis sie ein dickes Buch fand, das voll war mit Diagrammen und Landkarten.

»Da ist es ja!«

Manzano testete, ob er das Gefährt in Bewegung setzen konnte. Mit einem Ruck fuhr es los.

Shannon studierte den Wälzer, fand auf einer Doppelseite zwischen vielen Linien und Zahlen Aachen und Brüssel.

»Jetzt müssen wir nur noch herausfinden, was das bedeutet.«

»Du bist das Navigationssystem, ich der Chauffeur!«, rief Manzano und beschleunigte auf Schritttempo.

»Seit wann vertraut ein Mann beim Autofahren seiner Beifahrerin mit dem Kartenlesen?«

»Seit er kein Auto fährt, sondern ein … ach, sag einfach an!«

Berlin

»Rosinenbomber«, so hatten ihre Mutter und alle anderen Berliner die amerikanischen Flugzeuge genannt, die nach dem Zweiten Weltkrieg den Berliner Westsektor mit Lebensmitteln versorgt hatten. Michelsen fragte sich, ob die Jugendlichen heutzutage dieses Wort überhaupt noch kannten. Aber wie auch immer, so wie vor mehr als sechzig Jahren landeten nun Maschinen auf dem Flughafen Tegel, und wie damals waren es Militärmaschinen, nur dass es jetzt russische Flugzeuge waren, die Hilfe brachten.

Die zu Beginn des Stromausfalls gestrandeten Passagiermaschinen waren beiseitegeräumt worden, an ihrer Stelle reihte sich bereits eine unübersehbare Menge dunkelgrüner, dickbäuchiger Kolosse nebeneinander, an deren Leitwerken die Symbole der Russischen Föderation prangten. Zwischen ihnen wimmelte es vor Menschen in verschiedenen Uniformen.

Ein Blick in den Himmel zeigte Michelsen die Lichterkette der anfliegenden Flieger und die Formationen der wieder abfliegenden.

Berlin war nicht ihr einziges Ziel. Zur gleichen Zeit spielten sich in Stockholm, Kopenhagen, Frankfurt, Paris, London und auf weiteren großen Flughäfen Nord- und Mitteleuropas ähnliche Szenen ab, während im Süden Hunderte Maschinen vor allem aus der Türkei und Ägypten ihre Transporte ablieferten. Gleichzeitig brachten Lkw-Konvois und kilometerlange Züge weitere rettende Versorgungsgüter aus Russland, den Kaukasusstaaten, der Türkei und Nordafrika.

»Sieht aus wie eine Invasion«, murmelte der Außenminister.

Noch immer nicht entschieden hatte die NATO über die Hilfsangebote aus China. Zunehmend setzte sich bei Hardlinern die Ansicht durch, dass im Land der aufgehenden Sonne die eigentlichen Verursacher der Katastrophe saßen. Solange dieser Verdacht nicht entkräftet war, wollten sie deren Soldaten oder auch nur zivile Hilfskräfte keinesfalls auf heimischem Boden dulden.

»Gehen wir den General begrüßen«, sagte Michelsen.

Zwischen Liège und Brüssel

Mehr als siebzig Stundenkilometer waren sie bis jetzt nicht gefahren, um keine Weichen oder Hindernisse zu übersehen, aber sie kamen voran, wenn auch mit Unterbrechungen, so wie jetzt.

»Schon wieder«, stöhnte Shannon.

Vor ihnen teilte sich die Bahnstrecke in zwei Gleise.

»Ich denke, wir müssen rechts«, überlegte sie laut.

»Ich hoffe, das stimmt. Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.«

»Irgendwo in Belgien, zwischen Liège und Brüssel, wenn ich mich nicht täusche.«

»Wie weit ist es noch bis Brüssel?«

»Vielleicht eine Stunde? Oder zwei? Wenn nichts dazwischenkommt.«

Das manuelle Umstellen der Weichen kostete Zeit. Manzano hatte ihr erklärt, dass ihr Gefährt sicher eine Vorrichtung besaß, um die Weichen ferngesteuert umzustellen. Doch er hatte sie nicht gefunden. Außerdem, meinte er, wäre es gut möglich, dass die elektrischen Komponenten an den Weichen nicht mit Strom versorgt wurden, was die Fernsteuerung ohnehin obsolet gemacht hätte.

Anfangs wären sie beinahe verzweifelt. Nach Shannons Planlesungen hätten sie bei der ersten Abzweigung nach rechts müssen, doch die Weiche hatte sie nach links geführt. Manzano hatte zurückgesetzt. Sie waren ausgestiegen, hatten die Weiche untersucht. Schnell hatten sie entdeckt, dass sie mechanisch verstellbar war. Wenn man das passende Gerät dazu hatte. Sie fanden es, eine Art überdimensionaler Schraubenschlüssel, im hinteren Teil des Schienenlastwagens.

Shannon griff nach der Eisenstange, sprang aus dem Wagen, stellte die Weiche um, kletterte wieder hinein.

Sie fuhren weiter. Shannon studierte das Kartenbuch. Ganz sicher war sie nicht, ob sie die richtige Abzweigung gewählt hatten. Die Weiche eben hatte doch eine andere Nummer getragen als hier im Buch.

»Stopp!«

Manzano bremste den Wagen.

»Ich glaube, wir sind doch falsch.«

»Also retour?«

»Ja.«

Manzano legte den Rückwärtsgang ein. »Was ist das dort hinten für ein Licht?«

In der Richtung, aus der sie gekommen waren und in die sie nun wieder fuhren, sahen Shannon und Manzano ein winziges Licht flackern.

»Keine Ahnung. Wird heller und größer«, sagte Shannon.

Sie näherten sich der Weiche.

»Wird sehr schnell heller und größer«, stellte sie fest. »Auf den Schienen. Das ist ein Zug. Und er hat es eilig.«

Manzano hatte die Weiche fast erreicht.

»Ein Zug?«

»Auf den du gerade direkt zufährst.«

»Auf unserem Gleis?«

»Kann ich nicht erkennen.«

Manzano bremste ihren Wagen, nachdem sie die Weiche überfahren hatten.

»Das ist ein Zug«, wiederholte Shannon nun nervös. Sie konnte bereits die Lokomotive erkennen. »Wenn der auf unserem Gleis fährt, rammt er uns! Fahr, los, fahr!«

Manzano erkannte die Gefahr auch. Ohne die Weiche umgestellt zu haben, gab er erneut Gas. Ihr Schienenauto setzte sich träge in Bewegung. Der Zug hinter ihnen war vielleicht nur noch hundert Meter entfernt.

»Schneller!«, rief Shannon.

Wieder überfuhren sie die Weiche, Shannon spürte die Beschleunigung des Wagens. Kurz vor der Weiche hielt der andere Zug an. Erleichtert atmete Shannon aus.

»Wo fährt der hin?«

»Vielleicht auch nach Brüssel«, antwortete Shannon.

»Wir sollten ihn fragen.«

Zum zweiten Mal setzte er auf der Strecke zurück. Beim Näherkommen sahen sie Dutzende Güterwaggons hinter der Lokomotive. Deren Dächer waren seltsam unregelmäßig geformt, wie von unzähligen Stacheln überwachsen. Als sie die Lok erreichten, stellte ein Mann gerade die Weiche um.

»Wohin fahren Sie?«, rief Shannon auf Französisch aus dem Seitenfenster.

»Brüssel«, erwiderte der andere.

»Da sollten wir uns dranhängen«, schlug sie Manzano vor.

Während der Zug an ihnen vorbeifuhr, erkannte Shannon, um was es sich bei den Erhebungen auf den Dächern handelte.

»Das sind Menschen!«, rief sie.

Hunderte bevölkerten als illegale Passagiere den Zug.

»Wie in Indien«, bemerkte Manzano. »Nur frieren die hier wie Schneider!«

Der lange Güterzug benötigte einige Minuten, bis er sie passiert hatte. Manzano kehrte zurück hinter die Weiche und folgte dem letzten Waggon.

»Vielleicht frieren wir auch bald dort oben«, sagte er.

»Warum?«

Manzano wies sie auf die Tankanzeige hin. Sie leuchtete im Reservebereich.

»Verdammt! Dazu müssten wir erst einmal umsteigen.«

»Hoffentlich reicht der Sprit noch bis zur nächsten Weiche, an der der Zug halten muss.«

Berlin

»Oh, mein Gott«, stieß Michelsen hervor.

»Wie konnte das geschehen?«, fragte der Bundeskanzler. Sein Gesicht war kreidebleich.

»Wie es scheint, gab es einen Unfall«, erklärte der Staatssekretär des Ministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. »Wir bekamen die Bilder gerade vom GMLZ. Zunächst nicht im Kraftwerk selbst. Von dort kam nur ein nervöser Anruf, wo der Dieselnachschub blieb. Die ausgesandte Streife fand nur noch die Reste eines Infernos.«

Auf dem Bildschirm erschienen Fotos verkohlter Lkw-Skelette, die über eine Autobahn und die benachbarten Felder verteilt lagen. Einige Anwesende verzogen entsetzt ihre Gesichter, andere schüttelten betroffen den Kopf.

»Wir wissen nicht, wie es dazu kam«, sagte der Staatssekretär. »Die Untersuchungen laufen noch. Die drei Tanklastwagen hatten Anhänger und wurden von zwei Einsatzwagen, vorn und hinten, mit je zehn Mann Besatzung begleitet.«

Er zeigte auf zwei der schwarzen Trümmer in den Feldern.

»Es gibt keine Überlebenden. Die Untersuchung wird eine Weile andauern. Für sie stehen kaum Kräfte und Material zur Verfügung.«

»War es ein Unfall oder ein Angriff?«, fragte der Bundeskanzler.

»Können wir gegenwärtig nicht sagen. Tatsache ist, dass von der Nachfrage des AKWs Philippsburg bis zum Auffinden der Unglücksstelle zehn Stunden vergingen.«

»Himmel, wieso so lang?«

»Weil da draußen niemand mehr weiterkann!«, stöhnte der Staatssekretär. »Weil immer weniger überhaupt noch zur Verfügung stehen. Weil der BOS-Funk in vielen Gebieten versagt. Weil …« Ihm versagten die Worte, seine Lippen begannen zu zittern, er kämpfte mit den Tränen.

Bitte hier jetzt keinen Nervenzusammenbruch, betete Michelsen lautlos. Sie hatten bereits zwei Leute so verloren.

»Der nächste Dieseltransport konnte erst heute Vormittag losgeschickt werden und wird Philippsburg frühestens in sechs Stunden erreichen.«

Auf dem Bildschirm erschien ein großes Becken, das an ein Hallenbad erinnerte.

»Das ist das Abklingbecken für ausgediente Brennstäbe im Kernkraftwerk Philippsburg 1. Hier lagern die Brennstäbe, die nicht mehr verwendet werden. In manchen Kraftwerken liegen in den Abklingbecken mehr Brennstäbe, als im Reaktor selbst aktiv sind. Da sie nach wie vor sehr heiß sind, müssen sie noch jahrelang gekühlt werden. Das Becken in Philippsburg 1 war immer schon sicherheitskritisch, da es außerhalb des Sicherheitsbehälters für den Reaktor liegt, oben im Gebäude, offen unterhalb des Dachs. Die längste Zeit war das Notstromsystem völlig unzureichend, beziehungsweise es existierte gar kein eigenes für das Abklingbecken, erst seit der vorzeitigen Stilllegung wurde es notdürftig nachgerüstet. Gegen einen schweren Flugzeugabsturz ist es bis heute nicht gesichert. Aber wie wir sehen, braucht es den gar nicht. Nach Angaben der Betreiber ist der Diesel zur Kühlung der Abklingbecken im Lauf der Nacht zu Ende gegangen. Diesel von der Notkühlung der Reaktoren wagte die Kraftwerksleitung nicht abzuzweigen. Seither konnte das Wasser im Becken nicht mehr gekühlt werden. Durch die Hitze der Brennstäbe ist es mittlerweile größtenteils verdampft. Bis der Ersatzdiesel angekommen ist, wird es voraussichtlich völlig weg sein. Vermutlich beginnen die Brennelemente bereits zu schmelzen. Ich brauche niemandem hier zu erklären, was das bedeutet. Oder vielleicht doch. Da sich das Abklingbecken nicht im Sicherheitsbehälter befindet, fände diese Kernschmelze mitten im Gebäude statt. Dadurch wird das Gebäudeinnere so schwer verstrahlt, dass es eigentlich nicht mehr betreten werden kann. Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber bei einer Explosion könnten selbst Mannheim und Karlsruhe gefährdet sein.«

»Verdammt!«, brüllte der Bundeskanzler und hieb mit der Faust auf den Tisch, dass selbst dessen schwere Platte zitterte. »Da steigt man schon aus, und dann passiert trotzdem noch etwas!«

»Das gern zitierte Restrisiko«, murmelte Michelsen.

»Müssen wir die Umgebung evakuieren?«, fragte der Kanzler.

»Selbst wenn wir es wollten, schnell können wir es auf keinen Fall tun«, antwortete der Staatssekretär. »Die Verbindung zu lokalen Hilfsmannschaften aller Art ist längst lückenhaft. Selbst wenn wir nur von ein paar Kilometern Umkreis sprechen, bräuchten wir Hunderte Fahrzeuge plus Fahrer plus Treibstoff. In der gegenwärtigen Lage …« Er blickte betreten auf die Tischplatte vor sich, schüttelte den Kopf, »können wir nur beten.«

Brüssel

Bis zur nächsten Weiche hatte sich genug Treibstoff im Tank befunden. Dort hatten Shannon und Manzano das Schienengefährt kurzerhand an den Zug angedockt. Der Lokführer weit vorn hatte davon nichts mitbekommen.

Eine Dreiviertelstunde später hielt der Zug in dicht bebautem Gebiet. Die Gleisanlage ließ Manzano vermuten, dass sie einen großen Bahnhof erreicht hatten.

Entlang des Zuges standen auf beiden Seiten Soldaten, je einer im Abstand von vielleicht zwanzig Metern, jeder mit einem Gewehr vor der Brust.

»Hoffentlich warten die nicht auf uns«, sagte Manzano.

»Nimm dich nicht so wichtig«, entgegnete Shannon. »Die sind sicher wegen Plünderern hier.«

Ein Soldat ohne Gewehr, dafür mit Megafon, patrouillierte den Zug entlang und forderte die Leute in Französisch auf, abzusteigen und sich ruhig zu entfernen. Sie kletterten von den Containern und Waggons und schleppten unbehelligt ihre Habseligkeiten zwischen den Soldaten hindurch, die sich nicht bewegten. Manzano und Shannon mischten sich unter die Menge. Niemand beachtete sie.

»Sage ich doch«, erklärte Shannon, als sie mit den anderen über die Gleise zu den Bahnsteigen liefen. »Die waren nur für die Ladung da.«

Die Stationsschilder bestätigten ihnen, dass sie Brüssel erreicht hatten.

»Wir sollten es zum Monitoring and Information Centre schaffen, bevor es dunkel wird.«

»Dazu müssen wir erst einmal herausfinden, wo es liegt.«

In der Bahnhofshalle hatten sich auch hier Hunderte Menschen behelfsmäßige Schlafstätten eingerichtet. Die Schalter waren geschlossen, aber Manzano entdeckte einen Mann in einer gelben Sicherheitsjacke, der das Treiben vom Rand beobachtete.

»Wo wollen Sie hin?«, fragte er, nachdem Shannon und Manzano ihr Englisch an ihm ausprobiert hatten.

»Zum Monitoring and Information Centre der EU«, wiederholte Manzano.

Der Mann zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, wo das ist. Ich kenne nur den Sitz der Europäischen Kommission.«

»Wie kommen wir dorthin?«

»Mit dem Taxi.«

»Hier fahren Taxis?«

»Natürlich nicht«, erwiderte der andere. »Hier fährt gar nichts mehr. Sie werden schon zu Fuß gehen müssen.«

Er zeigte zum Ausgang. »Halten Sie sich rechts. Dann gehen Sie die nächste große Straße wieder rechts. Das ist die Avenue Leopold III. Der folgen Sie bis zum Boulevard General Wahis, beim Kreisverkehr rechts …«

»Das merke ich mir nie«, stöhnte Manzano.

»Bis dorthin hab ich es«, warf Shannon ein. »Behalt du den zweiten Teil.«

Ihr Gegenüber blickte sie fragend an.

»Okay«, sagte Manzano, »Kreisverkehr, und weiter?«

»In die Chaussée de Louvain, links in die Avenue Milcamps, an deren Ende in die Rue des Patriotes und von der bald wieder in die Rue Franklin. Auf der kommen Sie direkt zum Hauptgebäude der Europäischen Kommission.«

»Hast du dir das gemerkt?«, wollte Shannon wissen.

»Hoffentlich. Wie weit ist es?«, fragte Manzano den Mann.

»Eine Stunde, schätze ich.«

Manzano war kalt genug, dass er sich trotz seines verwundeten Beins auf Bewegung freute.

Kommandozentrale

Zuerst waren sie beunruhigt gewesen. Seit dem Vortag waren immer mehr Computer, über die sie die Kommunikation in den Krisenstäben und bei den wichtigsten Organisationen wie Europol verfolgten, zeitweise abgeschaltet worden. Auch der E-Mail-Verkehr hatte deutlich abgenommen. War ihr Lauschangriff entdeckt worden? Sie warteten ab, nahmen keine aktiven Zugriffe vor. Eigentlich war es fast zu einfach gewesen. Über soziale Netzwerke wie Facebook, Xing, LinkedIn und andere hatten sie sich Tausende E-Mail-Adressen von Mitarbeitern verschiedener Energieunternehmen und Behörden besorgt. Diesen hatten sie persönliche E-Mails geschickt mit der Einladung zum Besuch einer Webseite, die »für ausgewählte Mitarbeiter« besonders günstige Urlaubsreisen anbot.

Auf dieser Webseite fanden sich tatsächlich billige Arrangements, die man wirklich buchen konnte. Nichts Ungewöhnliches, solche Angebote bekamen etwa Mitglieder von Automobilclubs oder Besitzer bestimmter Kreditkarten. Entscheidend waren die Videos und PDF-Dateien zur Information der Besucher. Sobald jemand eine davon ansah, versuchte ein darin versteckter Schadcode, den zugreifenden Rechner zu infizieren. Dazu lud er von einer anderen Webseite ein EXE-Programm. Gelang dies, wurde das Programm im Hintergrund gestartet und schrieb sich auf die lokale Festplatte, sodass es beim nächsten Neustart ausgeführt wurde.

Binnen weniger Monate hatten sie praktisch alle Zielobjekte infiltriert, zahlreiche Unternehmen und die Systeme der größten europäischen Staaten sowie der USA. Sobald die jeweiligen Rechner neu starteten, begann sich das Schadprogramm vorsichtig in der Netzumgebung umzusehen. Dazu beobachtete es die Nutzergewohnheiten des Anwenders und forschte seine Benutzerrechte aus. Damit arbeitete es sich langsam auf die Server vor. Besonders spannend waren natürlich Shares, also Plattenbereiche auf Servern, wo viele Mitarbeiter zugriffen. Dort installierte sich das Programm als Nächstes. War es erst einmal so weit, sammelte es wichtige Informationen wie Benutzer-Accounts, Informationen über Mitarbeiter aus dem Telefonbuch und dem System des Personalbüros, alle technischen Pläne von Gebäuden und Computernetzen, Details der eingesetzten Hardware und vieles mehr, gründliche Handwerksarbeit eben. Diese sandte es über Nacht auf externe Webserver. Dort warteten bereits die Programmierer, die sie über anonyme Foren im Internet angeheuert hatten und die nun die Informationen auswerteten und etwa die Passwörter zu den Accounts knackten. Auf demselben Weg identifizierten sie auch Laptops, die Skype oder vergleichbare Internettelefonprogramme installiert hatten. Deren eingebaute Kameras und Mikrofone hatten sie nun ohne Benachrichtigung der Anwender aktiviert.

Doch nun schalteten die ihre Computer immer öfter aus. Und nahmen ihnen damit ihre Augen und Ohren in den Schaltstellen der Gegner.

In einer Mail aus dem französischen Krisenstab war die automatisierte Stichwortsuche schließlich auf eine Nachricht gestoßen. Sie stammte direkt aus dem Büro des Präsidenten. Darin forderte er alle Mitarbeiter in den Behörden auf, Computer und andere technische Geräte nur noch dann anzuschalten, wenn sie wirklich benötigt wurden, um Notstrom zu sparen. Innerhalb weniger Stunden entdeckten sie ähnliche E-Mails in zahlreichen anderen Regierungssystemen.

Das war eine positive Überraschung. Wenn nach nur einer Woche selbst die wichtigsten Behörden bereits den Notstrom sparen mussten, konnte es bis zum endgültigen Zusammenbruch nicht mehr lange dauern. Je eher, desto besser. Jedes Ende war ein Anfang. Wie Ruinen, die sich der Dschungel zurückholte, würden sich die Menschen ihr Leben wieder erobern.

Brüssel

Sie hatten noch zweimal fragen müssen und länger als eine Stunde benötigt. Es dämmerte, als sie vor dem riesigen Gebäude standen, neben dessen Eingang große Buchstaben erklärten: »Europese Commissie – Commission européenne«.

Drinnen brannte Licht. Einzeln oder in kleinen Gruppen verließen und betraten Menschen das gläserne Foyer. Hinter den Scheiben standen ein paar nachtblau gekleidete Männer und blickten auf die Straße.

Shannon musterte Manzano von der genähten Stirn bis zu den schmutzigen Schuhen. Er sah aus wie ein Penner. Ein Blick an sich selbst herab erinnerte sie daran, dass es um sie nicht besser stand.

»Ja«, sagte Manzano, »wir sehen sicher aus wie willkommene Besucher. Sicher riechen wir auch so.«

Sie hatten die Tür noch nicht aufgedrückt, da stand ihnen bereits einer der Sicherheitsleute gegenüber.

»Zutritt nur für Personal«, erklärte er auf Französisch.

»Bin ich«, antwortete Manzano selbstbewusst auf Englisch, wollte sich an ihm vorbeischieben, lief aber gegen einen ausgestreckten Arm.

»Ihren Ausweis«, verlangte der Mann, nun auch auf Englisch.

»Begleiten Sie mich zum Empfang«, forderte Manzano. Die Situation erinnerte ihn fatal an jene bei Enel am Morgen nach dem Beginn des Stromausfalls. Damals hatte er sich seinen Weg auch freigekämpft. Um danach wieder auf die Straße geschickt zu werden, ohne dass man ihn ernst genommen hätte.

»Ich bin ein freier Mitarbeiter des Monitoring and Information Centres«, flunkerte Manzano. »Fragen Sie Sonja Angström, die ist hier angestellt. Wenn Sie mich nicht durchlassen, bekommen Sie richtige Schwierigkeiten, das kann ich Ihnen versprechen.«

Der Sicherheitsmann zögerte.

»Kommen Sie mit.«

Manzano atmete auf. Er und Shannon folgten ihm zu einem lang gestreckten Empfangstresen.

»Wir möchten zu Sonja Angström vom Monitoring and Information Centre«, erklärte Manzano einem der Mitarbeiter dahinter. »Sagen Sie ihr, Piero Manzano sei hier.«

Der Mann hinter dem Tresen begutachtete sie mit kritischem Blick.

»Bitte«, fügte Manzano hinzu. Er spürte den Atem des Securityguides im Nacken.

Der Portier drückte einen Knopf vor sich und sprach in sein Headset. Wartete, sprach wieder. Ließ sie nicht aus den Augen. Hörte dem Knopf in seinem Ohr zu, bedankte sich leise.

Zu Manzano sagte er: »Warten Sie dort drüben«, und zeigte dabei auf eine Reihe von Besucherbänken.

Der Sicherheitsmann folgte ihnen nicht, schielte aber von seinem Platz an der Tür immer wieder zu ihnen herüber.

Angström trat aus dem Fahrstuhl, sah sich in der Halle um. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Piero Manzano. Neben ihm saß eine junge Frau mit verfilzten Haaren, die unter anderen Umständen ganz hübsch ausgesehen hätte. Beim Näherkommen erkannte Angström auch ihr Gesicht.

»Piero! Mein Gott, wie siehst du denn aus?« Sie machte einen Schritt zurück. »Und wie du … riechst.«

»Ich weiß. Eine lange Geschichte. Das hier ist übrigens Lauren Shannon, amerikanische Journalistin.«

»Oh, ich kenne sie«, sagte Angström. »Sie berichtete als Erste über den Angriff auf die Stromnetze. Und jetzt weiß ich, woher Sie die Nachrichten hatten«, sagte sie zu Shannon. »Piero hier …«

»Wir haben uns in Den Haag kennengelernt«, erklärte Manzano, »über François Bollard, du erinnerst dich an ihn? Noch eine lange Geschichte.«

Unwillkürlich fragte sich Angström, ob Manzano mit der jungen Amerikanerin mehr als nur »lange Geschichten« erlebt hatte.

»Was macht ihr in Brüssel? Eine neue Story? Oder bist du für Europol hier?«

»Ich habe eventuell eine Spur zu den Angreifern«, antwortete Manzano.

»Die ganze Welt rätselt, wer für diese Katastrophe verantwortlich ist, und du willst es wissen?«

»Das habe ich nicht gesagt. Aber vielleicht habe ich eine Spur. Ich hatte schon einmal den richtigen Riecher.«

Angström nickte.

»Dazu brauche ich allerdings Strom und einen Internetanschluss. Ich dachte, bei euch kann ich den vielleicht bekommen.«

Angström lachte müde. »Du machst mir Spaß. Hier kann nicht jeder hereinmarschieren und …«

»Ich bin nicht jeder, Sonja«, unterbrach Manzano sie.

Die direkte Anrede mit ihrem Namen irritierte sie.

»Warum nicht Europol?«

»Ich wurde von denen nach Deutschland geschickt. Von dort war es näher hierher. Kurz gesagt.«

Sie seufzte. »Einige unserer Kollegen kommen nicht mehr zur Arbeit. Wohnen zu weit weg, andere Gründe … freie Plätze gäbe es.« Sie biss sich auf die Lippen. »Ist ja auch egal. Hier geht ohnehin alles drunter und drüber.« Mit einer Kopfbewegung gab sie ihnen ein Zeichen, ihr zu folgen. »Das kann mich meinen Job kosten. Aber zuerst müsst ihr euch anmelden und duschen.«

»Nichts lieber als das.«

»Wir haben Sanitärräume, da gehen wir zuerst hin. Habt ihr was zum Wechseln?«

»Ich schon«, sagte Shannon.

»Ich nicht«, gestand Manzano.

»Vielleicht treibe ich etwas auf«, sagte Angström.

Sie standen am Tresen.

»Zwei Besucherausweise, bitte«, verlangte Angström von dem naserümpfenden Portier.

Sie erhielt zwei scheckkartengroße Plastikkarten, die sich ihre Gäste an die Kleidung heften konnten.

»Seid ihr in Kontakt mit Europol?«, fragte Manzano auf dem Weg zum Lift.

»Nicht wirklich.«

»Ich möchte meine Nachforschungen durchführen, bevor ich mich dort melde«, erklärte er Angström.

Sie musterte ihn skeptisch, sagte aber nur: »Okay. Und was Sie angeht«, sie wandte sich an Shannon, während sie den Aufzug betraten, »was Sie hier sehen und hören, unterliegt selbstverständlich absoluter Geheimhaltung.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Shannon.

Ratingen

»Wir haben sie«, erklärte der Anrufer aus Berlin am Funktelefon. »Das Beschattungsteam einer Hochspannungs-Umschaltanlage entdeckte sie, nachdem sie einen Brand gelegt hatten.«

»Wo?«

»In der Nähe von Schweinfurt.«

Schweinfurt. Hartlandt versuchte erst gar nicht zu raten, wie weit das war. Auf seinem Computer rief er die Deutschlandkarte auf. Rund dreihundert Kilometer südöstlich von Ratingen.

»Haben sie die Kerle erwischt?«

»Sie haben einen Hubschrauber angefordert. Der ist unterwegs und wird die Beobachtung aus sicherer Höhe fortsetzen. Die GSG 9 ist bereits informiert.«

»Ich muss dahin.«

»Helikopter sollte in zwanzig Minuten auf dem Talaefer-Parkplatz landen.«

Brüssel

Zwei Minuten, mehr war nicht erlaubt, hatte Angström ihm klargemacht. Noch nie hatte er eine Dusche derart genossen. Als er, mit dem Handtuch um die Hüften, aus der Kabine trat, wartete die Schwedin mit einem Bündel Kleider.

»Hose und Hemd. Von einem Kollegen, der sie als Reserve im Schrank hatte, der aber seit Tagen nicht aufgetaucht ist. Werden ein bisschen zu kurz sein, aber besser als nichts. Dein Zeug habe ich in eine Waschmaschine geworfen. Sogar so etwas haben wir hier. Haben sie extra ein paar aufgestellt, für die Mitarbeiter.«

Er versuchte, die Hose so überzuziehen, dass sie die Verletzung an seinem Bein nicht sah.

»Was ist denn da passiert?«, fragte sie und zeigte auf die Naht.

»Blöd gefallen«, log er.

»Sieht übel aus.«

»Fühlt sich auch so an. Und wie kommst du sonst zurecht?«, wechselte er das Thema, während er sich anzog.

»Ich lebe mehr oder minder hier«, antwortete sie achselzuckend. »Nach Hause fahre ich nur zum Schlafen. Und selbst das nicht immer. Die Notlinien für Mitarbeiter pendeln nicht mehr hin und her. Mit dem Fahrrad sind das immerhin eineinhalb Stunden, ein Weg. Na ja, da bleibt es mir warm, und ich komme zu dem Sport, den ich im Skiurlaub verpasst habe.«

»Hast du etwas von deinen Freundinnen und dem alten Bondoni gehört?«

»Seit unserer Abfahrt nicht mehr«, gestand sie bedrückt.

Vor den Waschräumen trafen sie Shannon.

»Ich geh hier nie wieder weg«, seufzte die Journalistin genussvoll. Sie trug frische Jeans und einen Pulli.

»Doch«, erklärte Angström. »Mit uns ins MIC

Die zentrale Melde- und Verwaltungsstelle für Zivilschutz und Katastrophen, eine der größten politischen Einheiten der Welt, hatte sich Manzano spektakulärer vorgestellt.

Angström führte sie in ein kleines Büro im sechsten Stock.

»Das hier ist ein kleiner Besprechungsraum«, erklärte sie. »Wir haben ein Gästenetz, in das kommst du über WLAN

»Komme ich nicht.« Er zeigte ihr seinen Laptop. »Der Akku ist leer. Ich bräuchte ein Netzkabel. Habt ihr so etwas?«

Angström untersuchte den Anschluss. Sie öffnete ein Sideboard. »Hier sind zwei Laptops, vielleicht passt da was?«

Manzano probierte sie aus. Ein Kabel passte.

»Wenn euch jemand fragt«, sagte Angström, »schickt ihn zu mir.«

»Sag, dass wir von der IT sind. Ihr seid hier Tausende Leute, da kennt ohnehin nicht jeder jeden.«

»Das stimmt. Ich bin zwei Zimmer weiter, auf der linken Seite. Ich werde gelegentlich vorbeischauen.«

Sie verließ den Raum, schloss die Tür.

Manzano ließ sich in einen der Sessel fallen und startete den Computer vor sich.

Shannon nahm an dem Schreibtisch gegenüber Platz.

»Wenn ich mir vorstelle, dass es Millionen Menschen seit über einer Woche so geht wie uns letzte Nacht«, sagte sie und blickte nachdenklich aus dem Fenster, »wundere ich mich, dass da draußen nicht längst der Teufel los ist.«

»Ist er ja wohl zum Teil«, erwiderte Manzano. »Aber die meisten Menschen sind nur beschäftigt, zu überleben. Die haben gar keine Zeit oder Energie für Randale.«

Manzano fuhr zusammen, als die Tür geöffnet wurde.

Angström trat ein, stellte ein Tablett auf den Tisch.

»Heißer Kaffee und etwas zu essen. Ihr seht aus, als könntet ihr es gebrauchen.«

Manzano musste sich beherrschen, nicht sofort darüber herzufallen.

»Danke.«

»Wenn etwas ist, wie gesagt, zwei Zimmer weiter. Meine Durchwahl ist die 27. Bis später«, sagte sie und schloss die Tür hinter sich.

»Fehlt nur noch, dass sie dir ihre Körbchengröße nennt«, grinste Shannon mit vollem Mund. »Du gefällst ihr.«

Manzano spürte, wie er rot wurde.

Shannon musste lachen.

»Und sie dir auch!«

»Hör auf damit. Wir haben zu tun.«

»Du hast zu tun«, gluckste Shannon vergnügt und schluckte ihren Bissen hinunter. »Ich muss nur essen, Kaffee trinken …«, sie schob ihren Stuhl um den Tisch neben seinen, »und dir zusehen.«

Ratingen

Mit gebeugtem Rücken lief Hartlandt unter den rasenden Rotoren des EC 155 hindurch und sprang in den Helikopter, in dem acht GSG-9-Männer warteten. Der EC 155 war der kleinere und schnellere Hubschrauber, derer sich die Anti-Terroreinheit bediente. Mit über dreihundert Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit würden sie ihr Einsatzziel in einer Stunde erreichen. Hartlandt hatte sich noch nicht gesetzt, da hob die Maschine bereits ab. Einer der Männer reichte ihm einen Helm, über den er sich mit den anderen verständigen konnte. Die schusssichere Weste würde Hartlandt erst kurz vor dem Einsatz anlegen. Der Kommandeur der Truppe informierte ihn über den Stand der Dinge.

»Zwei unmarkierte Wagen verfolgen die Attentäter abwechselnd. Wir sind über Sprechfunk verbunden. Bislang scheinen sie keinen Verdacht geschöpft zu haben, zumindest kam es zu keinen Fluchtmanövern. Unser zweites Team ist schon auf halbem Weg zu ihnen, wird aber bis zu unserem Eintreffen nur passiv in ausreichender Höhe folgen.«

»Hoffentlich verlieren die Bodentruppen sie bis dahin nicht.«

»Selbst wenn. Wir haben eine gute Beschreibung. Militärgrüner Mercedes-Transporter.«

»Sehr schlau. Wenn noch etwas fährt, dann Wagen mit dieser Farbe. Können wir keine Drohne vorausschicken?«

»Ist keine passende in ausreichender Nähe stationiert. Und so viele Bundeswehr-Transporter gleichen Typs werden dort nicht unterwegs sein.«

»Wir dürfen die Zielpersonen nicht nur stoppen. Wir müssen sie befragen können.«

»Ist oberste Einsatzpriorität.«

»Es wird dunkel.«

»Kein Problem. Der Pilot kann mit Nachtsichtgerät navigieren. Macht den Zugriff zwar nicht einfacher, dafür ist bei Dunkelheit das Überraschungsmoment größer.«

Brüssel

Shannon wusste nicht, wann ihr ein simpler Sandkuchen zuletzt so gut geschmeckt hatte.

»Was machst du jetzt?«, fragte sie.

»Erinnerst du dich an die verdächtige IP-Adresse, die ich entdeckt hatte, bevor der Akku den Geist aufgab und uns der Porsche geraubt wurde?«

»An die dein Laptop jede Nacht unerlaubterweise Daten sendete?«

»Die wählen wir jetzt an.«

Er gab die IP-Adresse ins Adressfeld des Internetbrowsers ein. Im Browserfenster erschienen links oben das Wort »RESET« und in der Fenstermitte zwei Felder übereinander. Vor dem oberen stand »user«, vor dem unteren »password«.

»Sieh einer an«, flüsterte Manzano.

»Das war’s dann wohl«, bemerkte Shannon.

»Noch lange nicht. Da war jemand richtig selbstsicher.«

»Wieso?«

»Weil er nicht über Anonymisierungsserver oder mit anderen Verschleierungsmethoden gearbeitet hat. Wer immer mir die E-Mails auf meinen Computer gepflanzt hat, tat es von einer Stelle aus, die man mit Benutzernamen und Passwort schützt. Dahinter könnte sich Wichtigeres verbergen.«

»Oder ein Trick.«

»Oder ein Trick. Wir werden sehen.«

»Was willst du sehen? Du kennst weder den Benutzernamen noch das Passwort.«

»Noch nicht.«

Shannon hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen umfasst und trank einen kleinen Schluck.

»Ist ›RESET‹ in diesem Fall ein Befehl?«, fragte sie. »Oder ein Name? Oder was?«

»Neustart«, murmelte Manzano. Wenn er mit dem Cursor über das Wort fuhr, geschah nichts. Trotzdem klickte er es sicherheitshalber nicht an. Wer wusste, was sich dahinter verbarg.

»Zuerst kümmere ich mich einmal um Benutzername und Passwort«, murmelte Manzano.

»Wie willst du Benutzername und Passwort einer dir unbekannten Seite knacken? Du hast keinerlei Anhaltspunkte.«

Jemand klopfte an die Tür, und bevor sie etwas sagen konnten, wurde sie bereits geöffnet.

Ein Mann mit modischer Designerbrille steckte den Kopf herein und blickte sie überrascht an.

»Oh, ich dachte … Wer sind Sie?«

»IT-Department«, antwortete Manzano. »Wir sollen hier was reparieren.«

»Ah. Ja dann, entschuldigen Sie bitte die Störung.«

Er schloss die Tür, Manzano und Shannon waren wieder ungestört.

»Also«, beharrte Shannon, »wie willst du Benutzername und Passwort einer dir unbekannten Seite herausfinden, wenn du keinerlei Anhaltspunkte hast?«

»Die brauche ich vielleicht nicht«, erwiderte Manzano. Er gab eine neue Adresse ein. »Es gibt Programme für Leute, die in fremde Computer eindringen wollen …«

»Und die stehen einfach so im Internet?«

»Einfach so«, bestätigte Manzano, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet, auf dem ein kleiner Junge sie durch große Brillengläser angrinste. »Zum Beispiel dieses hier: Metasploit.«

»Was kann das?«

»Damit kannst du Sicherheitsprüfungen durchführen …«

»… oder Sicherheitslücken aufspüren.«

»Du hast es erfasst. Ich hoffe, ich darf das hier herunterladen.«

Er klickte den Download-Button. Binnen weniger Sekunden war das Programm geladen. Manzano installierte und startete es.

»Was machst du da?«, wollte Shannon wissen.

»Ich gebe jetzt die verdächtige IP-Adresse in die Software ein. Dann wähle ich die Technik aus, mit der ich diese Seite überprüfe. Ich versuche es einmal mit einer SQL-Injektion. Ich erspare dir die Details, dazu bräuchtest du schon einen kleineren Kurs in Informatik oder IT-Forensik.« Er lehnte sich zurück. »Das kann etwas dauern.«

Den Haag

Sie hatten einen speziellen Besprechungsraum gewählt, in dem keine Computer standen außer Bollards. Und dieser war nicht mit dem internen Netzwerk verbunden. Nach der Präsentation würde Bollard alle Spuren derselben löschen lassen, bevor er das Gerät wieder ins Netz klinkte.

»Der Mann heißt Jorge Pucao«, erklärte Bollard. »Geboren 1981 in Buenos Aires. Aufgewachsen ebenda. Schon als Schüler wird er politisch aktiv, fällt bei Demonstrationen gegen die beginnende Wirtschaftskrise auf.«

Auf der Leinwand war das zornige Gesicht eines brüllenden, jungen Mannes zu sehen, der inmitten Gleichgesinnter seine Faust gegen unsichtbare Gegner reckte.

»Während des Höhepunkts der Krise um die Jahrtausendwende studiert er in Buenos Aires Politikwissenschaft und Informatik, engagiert sich weiterhin politisch, bei Demonstrationen und der Organisation eines Tauschringes, die zu dieser Zeit in Argentinien populär wurden, da die staatliche Währung Peso infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise beziehungsweise des Staatsbankrotts massiv an Wert verloren hatte und große Teile der Mittelschicht verarmten. 2001 wird Jorge Pucao bei den Protesten gegen den G-8-Gipfel in Genua verhaftet.«

Auch die unvorteilhaften Polizeifotos mit Pucaos verschwitzten Locken taten seiner Attraktivität keinen Abbruch.

»Währenddessen nimmt sich sein Vater als Folge der Krise das Leben. Pucao kehrt in seine Heimat zurück und setzt seine Aktivitäten noch intensiver fort. Sie wirken in dieser Zeit orientierungslos, vielleicht probierte er aber auch nur die für ihn interessantesten Varianten aus oder suchte Spaß.«

An einer grauen Betonwand schien sich auf wundersame Weise Moos zu einer Parole verwachsen zu haben: »Cultivar la equidad – Pflegt die Gleichheit«.

Als Terrorexperte hatte sich Bollard naturgemäß auch mit harmloseren Protestformen auseinandergesetzt, etwa dem Guerilla Gardening, dessen Aktivisten zum Beispiel Mischungen aus Buttermilch und Moos an Betonwände strichen, sodass das Moos auf dem Nährboden Buttermilch gedieh, in jener Form, in der man die Tinktur eben aufgetragen hatte, wodurch man sogar Parolen wie die gezeigte buchstäblich zum Leben erwecken konnte.

»Das reichte von Guerilla Gardening über Kommunikationsguerilla bis zur Unterstützung von Betrieben, die sich in Selbstverwaltung organisierten, wie es viele in dieser Phase taten.«

Eine Gruppenaufnahme zeigte junge Menschen aller Hautfarben, darunter Rastalockenträger ebenso wie Studenten in blauem Oxford-Hemd. Mittendrin stand Jorge Pucao, die Locken zurückgekämmt, aufgeweckter Blick, das helle Hemd hing über die Jeans.

»2003 hat Argentinien das Schlimmste hinter sich, und Pucao beginnt ein Master-Studium an der School for Foreign Service der Georgetown University in Washington. Sie gilt als eine der Kaderschmieden für spätere Karrieren in der Politik, bei internationalen oder karitativen Organisationen. Finanzieren kann er das Studium durch seine Fähigkeiten als gefragter freiberuflicher IT-Fachmann, pikanterweise im Bereich Online-Sicherheit. Parallel dazu engagiert er sich in der Anti-Globalisierungsbewegung. Dabei wird er offensichtlich immer radikaler, wie Artikel und ein sogenanntes Manifest nahelegen, die er auf seiner Webseite publizierte. Sie finden alle Dokumente, auch spätere, unter ›Pucao_lit‹ in der Datenbank«, fügte Bollard hinzu, in der Erwartung, dass sie sich jeder der Anwesenden zu Gemüte führte. Er selbst hatte einige davon überflogen, sich aber nicht darin vertieft. Auffällig war auf den ersten Blick die Disziplin der Argumentation, die den meisten Pamphleten diverser Radikaler fehlte, deren Tiraden sich in wirren Parolen und Anschuldigungen verloren.

»In den USA kommt er auch in Kontakt mit Gruppierungen des Primitivismus. Für alle, denen das nichts sagt: Im Wesentlichen vertreten dessen Anhänger eine Rückkehr in vorindustrielle Lebensformen, viele lehnen auch unsere Form der Zivilisation ab. Allerdings scheinen diese Kontakte nicht besonders intensiv gewesen zu sein. Wäre auch seltsam angesichts der Tatsache, dass Pucao mit modernster Technologie sein Geld verdiente. Aber wir haben ja schon mitbekommen, dass der Gute durchaus ambivalent ist.

2005 schließt er sein Studium in Washington erfolgreich ab. Beim G-8-Gipfel im schottischen Gleneagles protestiert er wieder. Zurück in den USA arbeitet er weiterhin als IT-Spezialist. Es gibt Mutmaßungen, aber keine Beweise, dass er in all den Jahren auch als Hacker aktiv war.«

Nun kam Bollard zu dem Gruppenfoto der Konferenz in Schanghai, das ihm die Deutschen übermittelt hatten.

»2005 nimmt er an einer Konferenz für Internet-Sicherheit in Schanghai teil. Auf derselben Konferenz ist auch Hermann Dragenau anwesend, wie dieses Foto zeigt. Er ist Produktverantwortlicher bei Talaefer, jenem Technologiekonzern, bei dem der Verdacht besteht, dass seine Steuerungssoftware für Kraftwerke manipuliert worden sein könnte.«

»Verstehe ich das richtig«, fragte Bollards Mitarbeiter Christopoulos, »wir konstruieren hier aus der – zugegebenermaßen großen – Ähnlichkeit eines Phantombildes mit dem Foto eines Menschen, der vor ein paar Jahren dieselbe Konferenz wie Hermann Dragenau besucht hat, einen möglichen Terroristen?«

»Ein bisschen mehr haben wir schon«, antwortete Bollard.

Er rief eine optisch wenig spektakuläre Liste aus Buchstaben- und Zahlenfolgen auf.

»Wie wir alle wissen, haben die USA nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 mit der Speicherung von Flugpassagierdaten begonnen, seit 2007 hat sich die EU bereit erklärt, Daten von Passagieren in und aus den USA ebenfalls an die USA zu geben. Dadurch wissen wir, dass Pucao zwischen 2007 und 2010 häufig zwischen den Vereinigten Staaten und Europa pendelte. Nicht selten war dabei sein europäischer Zielflughafen Düsseldorf, also nur einen Katzensprung von Dragenaus Wohnort entfernt. Es kommt aber noch besser. 2011 macht Dragenau Urlaub in Brasilien. Davon gibt es Fotos und sogar noch Reiseunterlagen. Zur selben Zeit fliegt auch Pucao dorthin und bleibt zwei Tage. Zu kurz für einen Urlaub.«

»Aber es gibt keine Beweise dafür, dass die beiden sich getroffen haben?«, fragte Christopoulos. »Und wenn, würde das auch noch nichts bedeuten.«

»Das stimmt natürlich, aber …«

»Entschuldige, wenn ich dich unterbreche, aber mir leuchtet noch etwas nicht ein: Wenn die beiden solche Computergenies sind und die Apokalypse planen, dann wissen sie doch, dass sie bei all ihren Aktivitäten digitale Spuren hinterlassen. Warum gehen sie nicht vorsichtiger vor oder verwischen sie?«

»Weil sie sich sicher fühlen?«, fragte Bollard zurück. »Weil es ihnen egal ist? Da können wir momentan nur spekulieren.«

»Du hast auch nichts mehr über seine politischen Aktivitäten in den letzten Jahren erwähnt.«

»Dazu komme ich jetzt. Diesbezüglich ändert Pucao sein Verhalten nach 2005 nämlich auffällig. Weder tritt er noch einmal bei den üblichen Veranstaltungen der Szene in Erscheinung, also bei G-8-Treffen oder Ähnlichem, wobei man hinzufügen muss, dass die Proteste der Globalisierungsgegner in den Folgejahren immer schwächer werden. Aber auch seine Veröffentlichungen stellt er gänzlich ein. Der letzte politische Eintrag auf seinem Blog stammt vom 18. November 2005. In sozialen Netzwerken ist er nicht aktiv, zumindest nicht unter seinem Klarnamen.«

»Du meinst, dafür kann es zwei Gründe geben«, räsonierte Christopoulos. »Er hat sein Engagement aufgegeben, oder er führt es planvoll weiter, will dabei aber nicht mehr auffallen …«

»… weil er im Geheimen etwas vorbereitet. Exakt. Denk an die Attentäter vom 11. September 2001. Vordergründig mehr oder minder brave Studenten oder Ähnliches. Unauffällig, angepasst. Währenddessen planen sie in aller Stille den schlimmsten Terroranschlag seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Oder denk an den Irren aus Norwegen 2011.«

»Er musste aber damit rechnen, dass wir ihn trotzdem auf dem Ticker haben.«

»Natürlich. Wir haben ihn in unserer Datenbank. Leider mit Bildern, auf denen die Gesichtserkennungssoftware keine ausreichende Ähnlichkeit zum Phantombild herstellte.«

»Wie viele Millionen hat die gekostet? Keines dieser Gesichter hat sie erkannt.«

»Das werden wir herausfinden.«

»Aber selbst wenn dieser Pucao tatsächlich zu den Angreifern gehört, fehlen uns immer noch die anderen«, spielte Christopoulos weiterhin den Kritiker, wogegen Bollard nichts hatte, im Gegenteil. »Zu zweit haben sie diese umfassende Attacke nicht auf die Beine gestellt.«

»Nein. Du kannst davon ausgehen, dass momentan jeder Nachrichtendienst in Europa, den USA und in allen befreundeten Staaten jeden Kontakt überprüft, den sie bei Dragenau und Pucao finden.«

»Soweit sie dazu in der Lage sind«, seufzte Christopoulos. »Wenn es in den USA ebenso zugeht wie bei uns, dann werden sie bei vielen Schwierigkeiten haben, sie überhaupt zu finden. Aber nicht, weil sie Terroristen sind, sondern weil sie in irgendeiner Sporthalle oder einem Gemeindezentrum zwischen Hunderten auf einer Matratze schlafen oder in der Schlange bei einer Lebensmittelausgabestelle stehen.«

Brüssel

»Ich glaube es nicht«, flüsterte Manzano.

»Was?«, wisperte Shannon zurück.

»Das Benutzer-Eingabefeld«, erklärte Manzano. »Es ist verwundbar. Ich kann praktisch, ohne einen Benutzernamen einzugeben, durch das Feld durchgreifen auf Daten der Webseite.«

»Wie geht denn das?«

»Schlechte Sicherheitsmaßnahmen der Verantwortlichen.«

»Und welche Daten sind das?«

»Das sehen wir uns gleich an.«

Auf dem Bildschirm erschien eine lange Liste.

blond

tancr

sanskrit

zap

erzwo

cuhao

proud

baku

tzsche

b.tuck

sarowi

simon

»Was ist das?

»Mit ein bisschen Glück haben wir hier eine Liste der User dieser Webseite«, sagte Manzano. Und als Nächstes schauen wir einmal nach den Passwörtern.«

Er lud die Datei auf den Computer herunter, und ein paar Sekunden später konnte er sie öffnen.

Im Fenster tauchte ein unübersehbarer Ziffern- und Buchstabensalat auf.

Downloaded table: USERS

sanskrit:36df662327a5eb9772c968749ce9be7b

sarowi:11b006e634105339d5a53a93ca85b11b

tzsche:823a765a12dd063b67412240d5015acc

tancr:6dedaebd835313823a03173097386801

b.tuck:9e57554d65f36327cadac052a323f4af

blond:e0329eab084173a9188c6a1e9111a7f89f

»Schau, schau …«, bemerkte Manzano nur.

Jemand klopfte. Die Tür wurde geöffnet, Manzano griff zum Laptop, um ihn notfalls schnell schließen zu können.

Angström trat ein.

»Du hast uns erschreckt«, bemerkte Manzano.

»Macht ihr was Verbotenes?«

»Nein. Wir finden nur sehr Interessantes.«

»Kommen Sie her«, sagte Shannon. »Ist sehr faszinierend, was er da treibt. Wenn auch völlig unverständlich …«

Angström betrachtete den Bildschirm.

»Ist mir ein spanisches Dorf«, sagte sie.

»Mir auch«, stimmte Manzano zu. »Wie kann man nur so unvorsichtig sein. Seht hier«, er zeigte auf die Zeilenanfänge. »Das sind Benutzernamen für diese Webseite. Klar und deutlich, unverschlüsselt abgelegt. Das heißt, das obere Feld können wir schon einmal ausfüllen. Die Zahlenkombinationen dahinter sind die Passwörter – oder, und das ist das Problem –, genauer gesagt, sogenannte ›Hashes‹ der Passwörter, also Verschlüsselungen ebendieser.«

»Damit kommen wir nicht weiter«, meinte Shannon.

»Kommt darauf an«, erwiderte Manzano. Erneut flogen seine Finger über die Tasten.

»Wenn die Verantwortlichen sauber genug gearbeitet haben, ist für uns hier Schluss. Aber man wundert sich immer wieder, wie nachlässig gerade Profis in diesem Bereich sind.«

Abermals klopfte es an der Tür, Angström wandte sich nervös um, ging hin, öffnete sie, ohne aber den Zutritt in den Raum freizugeben. Hinter ihr im Flur erkannte Manzano wieder den Mann mit der Designerbrille.

»Ah, die sind immer noch da …«, sagte er.

»Ich habe sie gerufen, IT«, erklärte Angström.

Manzano konnte sehen, wie der Mann versuchte, über Angströms Schulter einen Blick auf ihn und Shannon zu erhaschen.

»IT«, wiederholte der Mann. »Wenn ich die brauche, dauert das zwei Wochen, bis sie auftauchen. Ich müsste so aussehen wie du …«

»Danke«, erwiderte Angström.

»Dann werd ich mal …«

Er warf noch einen Blick in den Raum und verschwand.

Angström schloss die Tür, kam zurück an den Tisch.

»Wollte der was?«

»Neugierig war er, fand ich.«

»Bin ich auch«, sagte Shannon. »Was sind denn diese Hashes?«

»Ein Hash wird erzeugt, indem man Daten durch bestimmte Algorithmen schickt und damit verändert. Und zwar so, dass eine Rückübersetzung unmöglich wird. Man kann dann nur probieren. Das kann aber langwierig werden. Stell dir ein Passwort mit zehn Zeichen vor, das noch dazu aus Groß- und Kleinbuchstaben sowie Ziffern besteht. Dieses Passwort kann auf achthundertvierzig Billionen Weisen verändert worden sein. Das heißt, du musst achthundertvierzig Billionen – Billionen! – Varianten ausprobieren. Dazu braucht natürlich auch der schnellste Computer der Welt ewig lange.«

»Aber wie erkennt die Webseite dann überhaupt, ob jemand das richtige Passwort eingegeben hat?«

»Einfach gesagt: Wenn jemand ein Passwort eingibt, berechnet der Algorithmus im Hintergrund wieder einen Hash, also diesen Datensalat. Wenn er mit den ursprünglich abgelegten Werten übereinstimmt, war es das richtige Passwort.«

»Der Computer vergleicht also gar nicht das Passwort, sondern die Hashes.«

»Sozusagen.«

»Und wie willst du trotzdem an die Passwörter rankommen?«

»Ich spekuliere auf weitere menschliche Schwächen. Erstens hoffe ich, dass die Programmierer nicht zusätzliche Sicherheitsmechanismen eingebaut haben. Außerdem hoffe ich, dass einige der User zu faul waren, lange oder komplizierte Passwörter einzugeben. Denn je kürzer und einfacher ein Passwort ist, desto weniger Möglichkeiten gibt es, die der Rechner zum Knacken des Passwortes durchprobieren muss.«

»Aber doch sicher immer noch genug.«

»Dafür gibt es sogenannte Rainbow-Tables.«

»Du klingst für mich wie ein Gehirnchirurg«, meinte Angström.

»Ich operiere auch gerade am Nervensystem unserer Gesellschaft.«

»Was ist das jetzt?«

»Ich bin jetzt auf einer Webseite, die mir die Hashes mittels Rainbow-Tables vielleicht auflösen kann.«

»Und wie funktioniert diese Regenbogentabelle?«

»Im Prinzip hat da jemand bereits die Hashes aller einfachen Passwörter vorberechnet und in diesen Tabellen abgelegt. Der Computer schaut nur noch nach, ob er diesen Hash schon kennt.« Schwungvoll hieb er auf die Return-Taste und wartete.

»Wird wieder etwas dauern.«

Brüssel

»Ich schwör dir, die sitzt da drin«, sagte Daan Willaert zu seinem Kollegen und zeigte auf seinen Bildschirm, wo er ein YouTube-Video aufgerufen hatte. Das Bild zeigte eine hübsche junge Frau mit brünetten Haaren, der Hintergrund war zu dunkel, um darauf etwas zu erkennen.

Lauren Shannon, Den Haag, erklärte eine Einblendung darunter.

In einem roten Band am unteren Rand des Videofensters stand: »… Terrorangriff vermutet. Italien und Schweden bestätigen Manipulation …«

»Ja, und wenn …«

»Sonja sagt, die wären von der IT. Und sie hat sorgfältig darauf geachtet, dass ich nicht den Raum betrete.«

»Die wollte eben arbeiten und nicht mit dir tratschen. Zu tun haben wir genug.«

»Wie lange arbeitest du schon hier?«

»Acht Jahre.«

»Wann hat dir die IT, als du jemanden angefordert hast, zum letzten Mal eine hübsche junge Frau geschickt?«

»Hm …«

»Siehst du. Ich wette, dort gibt es gar keine Frauen.«

»Chauvinist.«

»Realist.«

Willaert griff zum Telefon und rief den technischen Support an.

»MIC hier. Ich wollte nur fragen, ob die Unterstützung, die ich angefordert habe, schon unterwegs ist?«

- - -

»Sie haben niemanden geschickt? Na gut, dann weiß ich Bescheid.«

- - -

»Nein, ist nicht so dringend, danke.«

Er legte auf, blickte den Kollegen an.

»Die haben gar niemanden geschickt.«

Er nahm noch einmal den Hörer, wählte die Nummer des Empfangs.

»Hat Frau Sonja Angström aus dem Monitoring and Information Centre heute Besucher empfangen?«

- - -

»Ah, danke.« Er legte auf. »Besuch, aber nicht von der IT«, erklärte er. »Wusste ich es doch!«

»Kann sonst wer sein? Was willst du damit anfangen?«

»Schon wieder Zahlensalat«, stellte Shannon fest.

Manzanos Nutzung der Rainbow-Tables zur Entschlüsselung der Passwörter hatte eine lange Liste produziert:

36df662327a5eb9772c968749ce9be7b:NunO2000

1cfdbe52d6e51a01f939cc7afd79c7ac:kiemens154

11b006e634105339d5a53a93ca85b11b:

99a5aa34432d59a38459ee6e71d46bbe:

9e57554d65f36327cadac052a323f4af:gatinhas_3

59efbbecd85ee7cb1e52788e54d70058:fusaomg

823a765a12dd063b67412240d5015acc:43942ac9

6dedaebd835313823a03173097386801:

8dcaab52526fa7d7b3a90ec3096fe655:0804e19c

32f1236aa37a89185003ad972264985e:plus1779

794c2fe4661290b34a5a246582c1e1f6:xinavane

e0329eab084173a9188c6a1e9111a7f89f:ribrucos

»Sieh genauer hin«, forderte Manzano sie auf.

»Hinter manchen Buchstaben-Ziffern-Reihen stehen kürzere«, sagte Angström. »Manche sehen aus wie …«

»… Passwörter. Sie sehen nicht nur so aus. Es sind Passwörter: NunO2000, kiemens154, gatinhas_3, fusaomg, … Und wie ihr seht, sind es meistens entweder kürzere oder solche, die nur Klein- oder Großbuchstaben verwenden oder aus anderen Gründen einfacher sind. Und natürlich hatten wir Glück, dass keine weiteren Sicherheitsmechanismen verwendet wurden.«

»Hinter einigen Zeilen steht nichts«, stellte Shannon fest. »Heißt das, deine Regenbogentabelle hat das Passwort dazu nicht gelöst?«

»Richtig. Macht aber nichts. Denn wir haben gleich mehrere Benutzernamen und Passwörter, mit denen wir reinkönnen.«

»Das heißt, jetzt kannst du dich auf der Seite einloggen, an die von deinem Computer jede Nacht Daten übertragen wurden?«

»Genau das werde ich tun.«

Manzano rief die Seite auf, füllte das Benutzer- und das Passwortfeld mit einer passenden Kombination aus.

Benutzer: blond

Passwort: ribrucos

»Enter.«

»Und wieder einmal Listen, Tabellen …«, bemerkte Shannon. »Was sagen uns die? Da zum Beispiel.«

Sie zeigte auf eine Zeile.

tancr topic 93rm4n h4rd $4b07493

»Das erste Wort ist der Benutzer, der eine Diskussion angelegt hat. Den kennen wir ja schon aus der Benutzertabelle.«

»Und der Rest?«, fragte Angström.

»Das ist das Diskussionsthema. Sieht mir nach ›Leet‹ aus. Das ist eine Hackersprache. Sie wird benutzt, damit Überwachungssysteme, die den Datenverkehr womöglich auswerten, nicht sofort hellhörig werden. Ziemlich primitiv, weil in Wahrheit problemlos zu verstehen, nur etwas kompliziert zu schreiben und zu lesen, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Und mittlerweile so bekannt, dass mich wundert, es hier noch benutzt zu sehen. Bei Leet ersetzt du einfach Buchstaben durch andere Zeichen auf der Tastatur, beispielsweise Zahlen, die dem ersetzten Buchstaben ähneln.«

Er öffnete ein neues Fenster, in das er das Wort »LEET« tippte.

»Leet schreibt man in Leet zum Beispiel so.« Er tippte etwas ein, und auf dem Bildschirm erschien: »L33T«.

»Wenn ich jetzt 93rm4n hernehme, was könnte das heißen?«

»Du liebe Güte, mit so was habe ich in der Volksschule gespielt«, stöhnte Shannon.

»Ja, Hacker sind in manchen Dingen ziemlich kindisch … Willst du es nicht selbst ausprobieren?«

»Wenn du stundenlang Zeit hast …«

Manzano klickte topic 93rm4n h4rd $4b07493 an.

»Ich denke, das heißt ›topic german hard sabotage‹. Schauen wir nach, was dahintersteckt.«

date: sun, 10, 11:05 GMT

tancr: 734m 1 0bj 9 (0nph1rm; 3xp3(7 0bj 10 70m0rr0w

tzsche: 734m 2

tancr: 0bj 12 (0nph1rm

tzsche: 734m 3

tancr: 0bj 7 (0nph1rm, 0bj 5, 6 p3nd1n9

tzsche: 734m 4

tancr: 0bj 7 (0nph1rm, 0bj 3, 6 p3nd1n9; 3v3r¥0n3 w3|| 0n 7r4(|{

»Ich übersetze das mal«, sagte Manzano.

»Date: sun, 10, 11:05 GMT

tancr: team 1 obj 9 confirm; expect obj 10 tomorrow

tzsche: team 2

tancr: obj 12 confirm

tzsche: team 3

tancr: obj 7 confirm, obj 5, 6 pending

tzsche: team 4

tancr: obj 7 confirm, obj 3, 6 pending; everyone well on track.

Tancr bestätigt irgendwelche Objekte zu Team 1, 2, 3 und 4. Einige Objekte stehen noch aus, was immer das bedeutet. Zum Abschluss äußert er sich zufrieden, dass alles nach Plan läuft.«

»Kannst du es jetzt noch so übersetzen, dass wir auch wissen, was nach Plan läuft?«

»Dafür müssen wir den Thread weiterlesen, vielleicht finden wir dann mehr heraus.«

Er scrollte hinunter, Hunderte Zeilen tauchten auf.

»Wow, die unterhalten sich schon eine ganze Weile. Ah, hier scheinen sie zu beginnen.«

date: mon, 03, 12:34 GMT

tancr: 734m 2 0bj 1 (0nph1rm; w4171n9 ph0r 734m 1,3,4

»Date: mon, 03, 12:34 GMT

Tancr: team 2 obj 1 confirm; waiting for team 1, 3, 4.

Aha. Hier bestätigte er zum ersten Mal ein Objekt, und zwar für Team 2.«

Manzano scrollte noch einmal hinauf.

»Das ist interessant. Am Anfang jeder neuen Unterhaltung steht ein Datum. Bei der ersten war es Montag, der dritte …«

»Der letzte dritte war aber kein Montag.«

»Stimmt. Beim letzten Gespräch steht Sonntag, der zehnte.«

»Sonntag ist heute«, sagte Shannon.

»Aber auch nicht der zehnte«, ergänzte Angström.

»Wartet, wartet!«, rief Manzano. »Lasst mich nachrechnen!«

Er zählte im Stillen.

»Freitag vor einer Woche fiel der Strom aus. Das sind bis heute …«

»Zehn Tage«, vollendete Shannon den Satz.

»Die Zeitrechnung dieses Chats beginnt am Tag null des Stromausfalls.«

»Dann wäre dieses Gespräch von heute Vormittag.«

»Wenn unsere Annahme stimmt.«

»Worum es geht, wissen wir noch immer nicht.«

Manzano schloss den Dialog, kehrte zur ursprünglichen Liste zurück.

»Hier sind verschiedenste Unterhaltungen aufgeführt.«

»Apropos Unterhaltungen«, sagte eine tiefe Stimme von der Tür. »Die Polizei würde sich gern mit Ihnen unterhalten.«

Angström fuhr herum. In der Tür stand Nagy, Leiter des MIC, hinter ihm drei Stiernacken in der dunklen Uniform der Security. Bevor Angström etwas sagen konnte, hatten sie den Raum betreten. Aus den Augenwinkeln sah sie Manzano hektisch auf der Tastatur tippen und den Laptop zusammenklappen. Im nächsten Moment packte ihn ein Uniformierter, ein anderer ergriff die amerikanische Journalistin. Sie drehten ihnen so unsanft die Arme auf den Rücken, dass Shannon aufschrie.

»Was machen die beiden da?«, fragte Nagy mit eisiger Stimme. »Das sind keine Mitarbeiter unserer IT

»Nein!«, rief Manzano. »Aber ich habe gerade …«

Der Sicherheitsmann hinter Manzanos Rücken zog den Arm des Italieners höher, sodass der mit schmerzverzerrtem Gesicht verstummte.

»Ich bin amerikanische Staatsbürgerin!«, rief Shannon. »Ich möchte sofort jemanden von der diplomatischen Vertretung der Vereinigten Staaten sprechen!«

Angström spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Ihr Blick suchte Manzanos, der nur stumm den Kopf schüttelte.

»Ich habe …«, setzte er noch einmal an, doch sein Bewacher brachte ihn mit einem schmerzhaften Ruck erneut zum Schweigen.

»Ich bin …«, begann Shannon, doch auch der Mann hinter ihr gab ihr mit einer unangenehmen Bewegung zu verstehen, dass er nichts hören wollte.

Angström wusste nicht, was sie sagen sollte. Als Manzano am Nachmittag vor ihr aufgetaucht war, hatte sie sich trotz seiner zerlumpten Erscheinung gefreut, ihn wiederzusehen, mehr als sie sich in diesem Moment eingestanden hatte. Sie hatte ihm vertraut.

»Dieser Mann hat Europol und uns alle erst überhaupt auf die wahre Ursache des Stromausfalls gebracht«, sagte sie und merkte, wie ihre Stimme dabei zitterte. Diese Unsicherheit, das war nicht ihre Art. Angström bemühte sich um eine festere Stimme. »Vor wenigen Minuten hat er ein Kommunikationsportal der Angreifer entdeckt.«

Noch bevor sie den Satz beendet hatte, schoss das Blut zurück in ihr Gesicht bei dem Gedanken, Manzano hätte diese Webseite schon die ganze Zeit gekannt. Hatte er ihr ein Theater vorgespielt?

Nagy gab den beiden Sicherheitsleuten ein Zeichen. Die beiden führten Manzano und Shannon hinaus.

»Hören Sie, Herr Nagy«, erklärte Angström. »Das hier ist, glaube ich, wirklich sehr …«

Nagy nickte dem verbliebenen Sicherheitsmann zu.

»… wichtig.« Angström verstummte, als der Mann sie unsanft am Oberarm packte.

»Erzählen Sie das der Polizei«, erklärte Nagy.

EC 155

Die Bodentruppe hatte die Route durchgegeben. Bis der EC 155 die Strecke erreicht hatte, war es dunkel geworden. Sie flogen hoch genug, dass die Zielpersonen den Helikopter nicht würden hören können. Über sein Nachtsichtgerät, das er am Helm montiert hatte, suchte Hartlandt die Landstraße, die sich wie ein schmaler Pfad unter ihnen wand, nach dem Gefährt ab. Er trug jetzt die schusssichere Weste.

»Ich habe sie«, erklärte der Copilot. »Ein Uhr, zirka zweihundert Meter.«

Hartlandt saß auf der linken Seite des Hubschraubers, unter dem die Landstraße gerade in einer Rechtskurve verlief und sich seinem Gesichtsfeld entzog.

»Team 2, Lage voraus?«, fragte der Kommandeur den Verantwortlichen im zweiten Hubschrauber.

»Freies Gelände«, antwortete eine Stimme. »Guter Zugriffspunkt in etwa zwei Kilometern. Drei scharfe Kurven, bei denen sie langsamer werden müssen. Vorschlag: Zugriff kurz vor der dritten Kurve.«

»Verstanden, Team 2«, erwiderte der Kommandant.

Der Wagen unter ihnen war mit etwa neunzig Stundenkilometern unterwegs. Das hieß, überschlug Hartlandt schnell im Kopf, für eine Erkundung des Zugriffsorts durch ihren Helikopter blieb keine Zeit mehr. Sie mussten sich darauf verlassen, dass die anderen – die bereits seit zwanzig Minuten über dem Zielobjekt flogen – den Zugriffsort ordentlich ausgewählt hatten.

Hartlandt beobachtete, wie die Männer sich auf den Einsatz vorbereiteten. Waffen wurden noch einmal überprüft, der Sitz von Westen und Helmen kontrolliert. Währenddessen liefen die letzten Koordinierungsgespräche zwischen den Team-Kommandeuren über Funk, beinahe übertönt vom Knattern der Rotoren.

»Sinken«, befahl der Kommandant.

Jetzt musste alles mit höchster Präzision ablaufen. Binnen weniger Sekunden mussten die Piloten ihre Maschinen auf Straßenniveau bringen, damit die Verfolgten nicht zu lange durch die Motorengeräusche vorgewarnt wurden.

Hartlandt sah die Straße rasend größer werden und entdeckte auch den anderen Hubschrauber, der dasselbe Manöver vollführte. Er klappte das Nachtsichtgerät hoch.

Als sie noch etwa sechzig Meter über dem Wagen waren, schalteten die Piloten die Spotlights ein. Ein greller Lichtkreis umgab das Auto.

Hartlandt beobachtete, wie es abrupt langsamer wurde, während die Hubschrauber sich weiter senkten. Sein Magen sackte kurz ab, als der Pilot das Fluggerät schließlich wenige Meter über dem Boden und hinter dem Auto auffing. Vor dem Transporter hatte der andere Hubschrauber die Straße blockiert, strahlte mit seinem Licht direkt in die Fahrerkabine. Die Bremslichter leuchteten rot, dann begann der Wagen zurückzusetzen, schleuderte so geschickt, dass er sich um hundertachtzig Grad drehte und nun direkt auf sie zuraste.

Ihr Pilot hielt dagegen und setzte mit den Kufen fast auf der Straße auf. Der Transporter bremste so scharf, dass sich seine Schnauze senkte, dann wurden die Türen aufgerissen. Im gleißenden Licht der aufgeblendeten Scheinwerfer des Transporters sprangen die GSG-9-Männer aus dem Hubschrauber. Im Lärm der Rotoren wäre es sinnlos gewesen, den Gestoppten Befehle oder Aufforderungen zuzurufen, selbst über Megafon hätten sie kein Wort verstanden.

Hartlandt spürte den harten Asphalt unter seinen Stiefeln.

Neben dem Transporter flackerte Mündungsfeuer. Er hechtete von der Straße und robbte aus der Reichweite der Scheinwerfer.

»Nicht schießen!«, brüllte er. »Feuer einstellen.«

Durch die Helmkopfhörer vernahm er die kurzen, scharfen Befehle der Kommandeure.

Die Lichter des Transporters waren mittlerweile zerschossen, die Spotlights der Hubschrauber tauchten den durchsiebten Wagen in grelles Licht. Neben der Beifahrertür lag ein regloser Körper, Teammitglieder aus dem anderen Hubschrauber knieten bereits am Heck des Wagens in Deckung. Einer von ihnen arbeitete sich zu dem Getroffenen vor, trat eine Waffe zur Seite, tastete hastig den ganzen Körper nach weiteren Waffen ab, andere sicherten die Fahrerkabine von der Seite.

Gleich darauf kam auch die Meldung von der anderen Wagenseite. Einer der vermummten Polizisten legte seine Hand an den Hals des Leblosen, wartete ein paar Sekunden, bis Hartlandt in seinem Helm »kein Puls« hörte. Währenddessen kletterten zwei GSG-9-Beamte in die Fahrerkabine und spähten durch das Schiebefenster, das sich zwischen Fahrerkabine und Heck des Wagens befand, vorsichtig in den Laderaum.

»Gesichert.«

Hartlandt erhob sich und lief zu dem Wagen.

»Eine Zielperson tot«, erklärte eine Stimme in Hartlandts Helm.

Auf jeden Fall sah der Mann auf der Straße vor ihm so aus. Sein Oberkörper und sein Kopf waren von zahlreichen Projektilen getroffen worden, von seinem Gesicht war nur noch eine Hälfte zu erkennen. Seine Ethnie konnte Hartlandt nicht identifizieren. Er lag in einer dunklen Lache, die sich weiterhin ausbreitete. Von ihm würden sie nichts mehr erfahren.

Wütend ging Hartlandt um die Wagenfront auf die andere Seite. Die Polizisten hatten keine Wahl gehabt, die Männer aus dem Transporter hatten den Schusswechsel begonnen. Gezielte Ausschaltung ohne Tötung war in der Situation unmöglich. Neben dem linken Vorderreifen lag ein zweiter Mann mit dunklem Teint, ähnlich zugerichtet wie der andere. Den dritten hatte es ein paar Meter weiter vorne im Feld erwischt. Neben ihm knieten zwei Polizisten, ein anderer eilte mit einem Erste-Hilfe-Koffer dazu. Auch er war mehrfach getroffen. Seine Gesichtszüge hätte Hartlandt am ehesten als typisch mitteleuropäisch beschrieben, die Farbe der kurz geschorenen Haare konnte er im Moment nicht benennen.

Hartlandt kehrte zum Transporter zurück.

Neben den vermummten GSG-9-Männern hatten sich ein paar Soldaten in normaler Montur gesammelt. Obwohl der GSG-9-Kommandant keine Befehlsgewalt über Bundeswehrangehörige hatte, wies er sie an, die Straße in ausreichendem Abstand zu sperren. Nicht, dass wirklich viel Verkehr zu befürchten gewesen wäre, aber man wusste ja nie. Die Männer gehorchten ohne Diskussionen. Zum Glück hielten sich in dieser Situation zumindest die Aktiven im Feld nicht mit Zuständigkeitshickhack auf, dachte Hartlandt.

Unterdessen hatte ein Teil der Einsatzkräfte vorsichtig die Hecktüren geöffnet. Die Saboteure hatten keine Spreng- oder anderen Fallen für Unbefugte eingebaut. Im Inneren fanden sie Dutzende Kanister und Pakete. Hartlandt tippte auf Brandbeschleuniger und Sprengmittel. In einer großen Box waren Lebensmittel und Schlafsäcke verstaut. Den bescheidenen Nahrungsmittelvorräten nach zu urteilen, mussten sie fast am Ende ihrer Reise oder in der Nähe eines Proviantlagers sein.

Währenddessen inspizierte ein zweites Team die Fahrerkabine. Zwei Laptops würden sie sich genau ansehen müssen. Eine zerfledderte Straßenkarte von Mitteleuropa war der erste interessante Fund. Mit lilafarbenem Filzstift war darauf die Route der Saboteure eingezeichnet. Die Strecke schlug noch zwei Haken in Deutschland, führte dann über Österreich nach Ungarn und weiter nach Kroatien, wo die Karte endete. Irgendwo würden sie wohl noch die Fortsetzung finden. Entlang der Linie befanden sich dreierlei Zeichen. Hartlandt hatte sie schnell decodiert.

»Das hier sind Schaltzentralen«, erklärte er und zeigte auf kleine Vierecke, deren nördlichstes in Dänemark lag, das nächste beim ersten deutschen Ziel Lübeck. »Die haben sie angezündet. Die Dreiecke bezeichnen die Hochspannungsmasten. Die hier zwischen Bremen und Cloppenburg zum Beispiel haben sie schon gefällt. Von den Orten, die mit einem Kreis vermerkt sind, dagegen haben wir keine Sabotagemeldungen. Ich vermute, das sind ihre Proviant- und Munitionslager.«

»Die muss es geben«, stimmte der Kommandeur zu. »Das dahinten« – er deutete auf den Laderaum – »genügt nie und nimmer für die bereits durchgeführten Anschläge.« Sein Finger fuhr über die Karte. »Und schon gar nicht für das, was sie noch vorhatten.«

»Bis jetzt haben wir noch keine Telefone oder anderen Kommunikationsmittel gefunden«, erklärte einer der Männer.

»Brauchen sie nicht«, meinte Hartlandt. »Sobald sie ihre Route festgelegt hatten, konnten sie unabhängig agieren. Schützt den Rest der Truppe.«

»Vielleicht haben sie auch nur in den Zwischenlagern Kommunikationsmittel und melden sich von dort bei ihren Chefs.«

»Das müssten dann Satellitentelefone sein, weil sonst nichts funktioniert. Schiene mir aber unökonomisch, in jeder Station so ein teures Teil zu platzieren. Da nimmt man doch besser eines mit.«

Einer der Polizisten stieß zu ihm und dem Kommandeur.

»Kennzeichen und Fahrzeug konnten wir schon überprüfen. Die Nummernschilder wurden vor vierzehn Tagen in Flensburg gestohlen, der Wagen schon vor vier Monaten in Stuttgart.«

»Was sonst?«, stellte Hartlandt fest. Diese Männer waren Profis gewesen oder zumindest von solchen geschult und ausgerüstet worden.

Blitzlichter überstrahlten für Sekundenbruchteile noch das grelle Licht der Helikopter-Spotlights. Ein Polizist hatte damit begonnen, alle Details zu fotografieren. Als Erstes nahm er sich die Opfer vor. Ihre Bilder und Fingerabdrücke würden sofort an die Datenbanken von Europol, Interpol und den Erkennungsdiensten übermittelt.

»Hier ist die zweite Karte«, sagte ein Vermummter. Vor Hartlandt und dem Kommandeur breitete er eine weniger zerfetzte Landkarte aus, in der die lilafarbene Linie bis nach Griechenland führte.

»Da wollte jemand gründlich sein«, bemerkte der Kommandeur.

»Die konnten doch nicht rechnen, damit durchzukommen?«

»Vielleicht starteten sie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen«, meinte Hartlandt. »Oder sie waren Fanatiker. Wofür oder wogegen auch immer.«

Aus dem Augenwinkel beobachtete Hartlandt den Kampf der Polizisten um das Leben des einen Attentäters. Hoffentlich verloren sie ihn nicht.

Brüssel

»Ruhe!«, befahl der Polizist, drückte Manzanos Finger in das Stempelkissen und danach auf das Feld auf dem vorgesehenen Formular.

»Ich gebe auch so zu, dass ich Piero Manzano bin«, sagte er, »Sie müssen meine Finger dafür nicht dreckig machen.«

Der Beamte reichte ihm ein Taschentuch.

»Das genügt nicht«, erwiderte Manzano. »Ich möchte mir die Hände waschen.«

Entweder verstand der Uniformierte kein Englisch, oder er hatte die Anweisung, sich nicht mit Manzano zu unterhalten.

Der Mann kam um den Tisch herum und gab Manzano mit einem Griff unter die Achsel zu verstehen, dass er aufstehen sollte. Durch einen schmalen Flur, an dessen beiden Seiten schwere Türen mit kleinen Guckfenstern abgingen, führte er ihn in eine Zelle. Der Raum maß vielleicht zwei mal drei Meter, darin drängten sich sieben Personen. Der Gestank, der Manzano entgegenschlug, raubte ihm den Atem. Der Polizist schob ihn wortlos hinein und schloss die Tür hinter ihm. Manzano blieb stehen und bemühte sich, den Würgereflex zu beherrschen. Die Anwesenden vollzukotzen wäre kein optimaler Beginn.

Die sieben Männer jeden Alters inspizierten ihn mit müden Blicken. Wie Manzano trugen alle ungepflegte Bärte. Er sog die Luft durch seine zusammengebissenen Zähne ein, lehnte sich gegen die Tür und ließ sich daran hinuntergleiten.

»I am Piero Manzano«, erklärte er.

Zwei der Männer nickten ihm zu, den anderen schien es egal zu sein.

Eine Weile saßen sie schweigend da, dann fragte Manzano, ob einer der Anwesenden Englisch sprach oder Italienisch.

»Englisch«, antwortete ein junger Mann. »Weshalb sind Sie hier?«

»Lange Geschichte«, seufzte Manzano.

»Wir haben Zeit«, erwiderte der Junge.

»Aber kein Interesse«, sagte ein Älterer mit kehliger Stimme. »Haltet die Klappe!«

Manzano fluchte innerlich. Womöglich hatte er eine wichtige Spur zu den Urhebern der Katastrophe gefunden, aber statt ihr folgen zu können, musste er seine Zeit in einer stinkenden Zelle verschwenden. Er bereute es inzwischen, die Seite geschlossen und die offensichtlichsten Spuren auf seinem Laptop verwischt zu haben, bevor ihn die Polizisten abgeführt hatten. Vielleicht war es Angström ja gelungen, der Polizei seine Entdeckung zu vermitteln.

»Hören die mich da draußen, wenn ich hier drinnen schreie?«, fragte Manzano den Jungen.

»Wenn einer randaliert, kommen sie schon mal und sehen nach. Manchmal.«

»Was sind das überhaupt für Zellen?«, fragte Manzano. »Da passt doch eigentlich höchstens einer rein?«

»Zur Ausnüchterung«, antwortete der Junge. »Aber die haben zu wenig Platz und Personal, deshalb kommt man hier auch rein, wenn man dabei erwischt wurde, wie man sich Lebensmittel oder Wasser besorgen wollte.« Er zuckte mit den Schultern. »Jeden Abend werden dann angeblich alle ins Zentralgefängnis gebracht.«

»Es ist Abend.«

Manzano spürte, wie die Tür hinter seinem Rücken wegkippte. Er fing sich, sah hoch, schob sich zur Seite, als er den Polizisten erblickte. Der Beamte trug ein Gewehr vor der Brust, hinter ihm stand noch ein Uniformierter mit Waffe.

Er bellte einen Befehl, die anderen Zelleninsassen erhoben sich und drängten an Manzano vorbei.

Auf dem Flur warteten bereits die übrigen Insassen in zwei Reihen. Links eine kurze mit Frauen, rechts eine lange mit Männern. Ganz vorne sah er Shannon und Angström. Er hatte ein verdammt schlechtes Gewissen, dass er Angström in die Sache mit hineingezogen hatte.

Ein Beamter brüllte etwas, das Manzano nicht verstand, alle setzten sich in Bewegung.

Vor dem Gebäude wurden die Frauen in einen kleinen Bus verfrachtet, die Männer in einen großen, dessen Fenster vergittert waren. Vier bewaffnete Polizisten begleiteten sie. Unter den Sitzen waren Stangen mit Fußfesseln angebracht, in die sie ihre Beine stecken mussten. Die Polizisten kontrollierten und verriegelten sie.

Wie ein Schwerverbrecher, dachte Manzano. Er starrte durch die vergitterten Scheiben in die Finsternis, in der dunkle Fassaden vorbeizogen. Die einzigen Fahrzeuge, die er sah, waren gepanzerte Wagen des Militärs, außer Soldaten in Zweiertrupps kaum Menschen auf den Straßen. Sie trugen Taschenlampen oder Laternen, die Soldaten Leuchten am Helm. Wie in so einem verdammten Katastrophenfilm, dachte er. In Zukunft sehe ich mir nur noch Liebesschmonzetten an. Wenn es eine Zukunft gibt.

Bei Nürnberg

Der Scheinwerfer des Hubschraubers beleuchtete eine Hütte inmitten einer Wiese. Sie maß vielleicht fünf mal fünf Meter, schätzte Hartlandt. Der Pilot setzte die Maschine ein paar Meter neben dem Gebäude auf. Die Kufen hatten den Boden kaum berührt, da sprangen Hartlandt und die GSG-9-Männer hinaus in die Kälte. Geduckt liefen sie aus dem Sturm der Rotoren auf die Hütte zu.

Der Motor des Helikopters verlangsamte sich, wurde leiser. Vorsichtig arbeiteten sich die Männer der Spezialeinheit die letzten Meter vor. An einem Kabel schoben sie eine winzige Kamera mit Beleuchtung unter dem Türschlitz durch. Auf dem Monitor, der die Bilder der Kamera übertrug, sah Hartlandt einen leeren Innenraum, nur auf dem Boden lag etwas Stroh, bis der Polizist mit der Fernsteuerung die Kamera auf die Innenseite der Tür lenkte und diese inspizierte.

»Sicher«, bestätigte er schließlich.

Zwei Männer brachen die Tür mit einem Rammbock auf. Die Nachfolgenden strahlten das Innere mit hellen Lampen aus. Die Hütte war leer. Mit den Füßen schoben sie die dünne Strohschicht zur Seite. Einer der Polizisten stampfte fester auf.

»Da drunter ist etwas.«

Schnell fanden sie die schmalen Schlitze zu einer Tür, die in den Boden eingelassen war.

Erneut musste der Polizist mit der Kamerasonde ran.

Nachdem er das kleine mobile Auge heruntergelassen hatte, erkannte Hartlandt Pakete aus weißer Plastikfolie auf der linken, Kanister auf der rechten Seite. Dazwischen lagerten drei Packen Konserven, die mit transparentem Band umwickelt waren. Die Kamera untersuchte alles genau, auch den Verschluss der Tür.

Der Kameramann gab das Okay, sie brachen die Tür auf. Zwei der Männer knieten nieder, schnitten vorsichtig die weißen Folien auf, untersuchten den Inhalt.

»Plastiksprengstoff«, erklärte einer. »Unmarkiert. Was es genau ist, wird eine Analyse zeigen.«

In den Kanistern fanden sie Diesel.

»Sprengstoff, Treibstoff, Lebensmittel«, stellte der Kommandeur schließlich fest. »Mehr ist da nicht.«

»Wieder kein Telefon oder Funkgerät«, sagte Hartlandt.

»Nein. Die waren auf sich allein gestellt unterwegs. Diese Spur endet erst einmal hier.«

Brüssel

Der Bus hielt vor einem kaum beleuchteten Gebäude. Immerhin Strom, dachte Manzano. Eine gewaltige Eisentür wurde geöffnet, der Bus fuhr in einen großen Hof. Der kleinere Transporter mit den Frauen folgte ihm. Der Hof wurde von vier dreistöckigen Flügeln umschlossen, deren Fassaden in regelmäßigen Abständen von wenigen Lampen in ein düster-gelbes Licht getaucht wurde. Der Frauenbus bog zur linken Seite ab, der Männerbus fuhr geradeaus durch einen großen Torbogen. Dahinter erwartete sie ein Kordon bewaffneter Polizisten. Die begleitenden Beamten lösten die Fußfesseln, schrien die Gefangenen an, die Männer erhoben sich, Manzano tat es ihnen gleich. Sie verließen den Bus und wurden durch einen langen Gang geführt. An dessen Ende warteten weitere Beamte vor einer hohen Flügeltür. Zwei von ihnen öffneten sie zu einem riesigen, düsteren Saal, aus dem bestialischer Gestank drang. Sie wurden vorwärtsgetrieben, schließlich schlug hinter ihnen die Tür mit einem metallischen Geräusch ins Schloss.

An der Decke leuchteten vier Neonlampen, von denen zwei flackerten. Ihr Licht reichte nicht einmal in die hintersten Ecken des Saals. Schemenhaft erkannte Manzano gedrängte Reihen von Stockbetten aus Metallrahmen, die den gesamten Raum füllten. In und zwischen ihnen wimmelte es von Menschen. Es musste sich um hunderte handeln. Ich will hier nicht sein, dachte er.

Mit der Gruppe der Neuankömmlinge stand er starr an der Tür und wartete, was passieren würde. Die Gefängniswärter hatten ihnen keine Anweisungen gegeben oder Plätze zugewiesen. Einige Männer, die vor den nächstliegenden Betten auf dem Boden hockten, sprachen die Neulinge unfreundlich an.

Manzano verstand sie zwar nicht, aber aus den Gesten entnahm er, dass sie am besten blieben, wo sie waren.

»Keine Betten mehr frei«, flüsterte ihm der junge Mann aus der Ausnüchterungszelle auf Englisch zu.

Einer aus ihrer Gruppe unterhielt sich weiter, der junge Mann übersetzte Manzano das Nötigste.

»Mehrere Brüsseler Gefängnisse wurden in dieses evakuiert, beziehungsweise hier zusammengelegt. Alle Zellen sind überfüllt. Das ist eigentlich die Sporthalle«, erklärte er. »Hier drin sitzen alle Sorten von Gefangenen. Vom Taschendieb über Wirtschaftsverbrecher bis zu Mehrfachmördern. Wir sollen uns ruhig verhalten und tun, was man uns sagt.«

Noch während er sprach, kam eine Truppe von Kerlen zwischen einem Bettengang auf sie zu, die Manzano nicht gefielen. Die zwölf Typen waren alle mindestens so groß wie er und verbrachten ihren Tag offensichtlich mit Gewichtstraining. Als sie näher kamen, erkannte Manzano die Tätowierungen, die ihre nackten Arme, Schultern, Hälse und sogar Teile der Gesichter oder der kahl geschorenen Schädel überzogen. Die anderen Eingesperrten zogen sich in und zwischen die Betten zurück.

Der größte und muskulöseste Kerl der Gruppe, offensichtlich der Anführer, ging auf den Vordersten der Neuankömmlinge zu und fragte ihn etwas. Der Mann, vielleicht in Manzanos Alter, etwas kleiner, mit einem kleinen Bäuchlein, wich zurück, bis er an seinen Hintermann stieß. Der Muskelberg wiederholte seine Frage, der andere antwortete ängstlich, schien etwas zu verneinen. Der Anführer schlug ihm so heftig ins Gesicht, dass der Mann von denen hinter ihm aufgefangen werden musste. Weinerlich rappelte er sich hoch, die Hand im blutenden Gesicht. Der Tätowierte gab ein Zeichen, und zwei seiner Männer packten den Geschlagenen. Er selbst begann, die Taschen des Festgehaltenen rüde zu durchsuchen. Als er nichts fand, öffnete er den Gürtel des Mannes und zog ihm die Hosen herunter. Seine Helfer drehten den Mann um, der zu schreien begann, woraufhin ihm der Tätowierte einen heftigen Tritt zwischen die Beine verpasste. Mit einem Keuchen verstummte der Getretene. Der Muskelmann packte seine Gesäßhälften und zerrte sie auseinander. Einer seiner Helfer leuchtete mit einer Taschenlampe in den After des Wimmernden. Mit einem kurzen Stock fuhr der Anführer hinein, das Opfer gab einen gurgelnden Schrei von sich, dann ließ er den Mann los, trat ihm noch einmal zwischen die Beine, und seine Helfer warfen ihn zu Boden, wo er wie ein Fötus zusammengekauert leise schluchzend liegen blieb. Der Tätowierte packte den Nächststehenden am Hals, Manzano glaubte, den Griff an seinem eigenen Hals spüren zu können.

Der Fiesling brüllte sie an, Manzano verstand nichts. Einige der Neuankömmlinge schüttelten ängstlich die Köpfe, klopften auf die Taschen ihrer Jacken, stülpten ihre Hosentaschen um. Manzano tat es ihnen gleich, um zu demonstrieren, dass er nichts bei sich hatte.

Die anderen Tätowierten stellten sich so auf, dass sie einen kurzen Gang bildeten, durch den der Anführer nun den Mann schubste, den er an der Gurgel gehalten hatte. Unter Schlägen und Lachen filzten sie ihn, wie es der Anführer mit dem ersten Mann getan hatte, nur die finale Untersuchung blieb ihm erspart. Mit den Hosenbeinen um die Knöchel stolperte er aus der Spießrutenreihe. Manzano bemerkte, wie sich einige an der Seitenwand langsam davonmachen wollten. Doch dort warteten weitere muskulöse Helfer, die sie umgehend zurückschubsten. Manzano schloss die Augen und fragte sich, ob alle hier diese Tortur hatten durchmachen müssen. Sein Bein schmerzte, er spürte den Schweiß auf seinem Gesicht, am Hals, an den Händen, unter den Achseln, ihn schwindelte. Fast wünschte er sich eine Ohnmacht, um nicht mitzuerleben, was ihn erwartete. Stattdessen humpelte er zu dem Zusammengeschlagenen, kniete neben ihm nieder, sagte auf Englisch: »Kommen Sie, ich helfe Ihnen.«

Er zog ihm die Hose hoch, doch der Mann wehrte sich, fürchtete wohl, erneut misshandelt zu werden. Manzano redete beruhigend auf ihn ein. Ein anderer aus ihrer Gruppe beugte sich nun gleichfalls herab und half ihm.

Der Anführer der Gang packte Manzano am Kragen und schleuderte ihn hoch, als wäre er ein Spielzeug. Er brüllte ihn an, lachte höhnisch. Manzano verstand nur »Samariter«. Der Kerl entdeckte die Wunde an Manzanos Kopf, schlug mit der freien Hand darauf, fragte ihn etwas.

»Sorry, I don’t understand you«, erwiderte Manzano und versuchte seine Schmerzen nicht zu zeigen. Überrascht blickte ihn sein Gegenüber an, wandte sich zu seinen Kumpanen um, die ihre Durchsuchungen unterbrochen hatten, grölte etwas. Sie lachten.

»I have nothing«, sagte Manzano und zeigte auf seine ausgestülpten Hosentaschen.

Der Mann stieß Manzano zwischen seinen Trupp, der sofort mit ihrer Behandlung begann. Als einer Manzanos Hose herunterriss und dabei heftig gegen das verletzte Bein schlug, knickte er ein. Die Männer zogen ihn wieder hoch, entdeckten den Verband an seinem Bein, auf dem sich ein Blutfleck ausbreitete.

»What ist that?«, fragte einer.

»Police shot me«, antwortete Manzano.

Der Mann starrte ihn an, stieß ihn von sich, aber nicht so brutal, dass Manzano abermals hinfiel. Dann gab er ihm ein Zeichen, mit dem er Manzano weiterwinkte. Ohne von den anderen erneut angegriffen zu werden, stolperte Manzano davon.

Während die Schlägerbande die anderen Neuankömmlinge weiterhin drangsalierte, suchte Manzano sich ein freies Fleckchen auf dem Boden. Sein Bein tat ihm weh, er fühlte sich müde und zerschlagen, musste an Angström und Shannon denken und hoffte, dass es im Frauentrakt weniger brutal zuging. Kurz überlegte er auch, Widerstand gegen den Terror zu organisieren, schließlich standen hier mehrere hundert Männer gegen das Dutzend Muskelprotze. Doch er musste sich eingestehen, dass seine Angst zu groß war, von den Schlägern dabei erwischt zu werden, bevor er ausreichend Leute zusammenhatte. In den vergangenen Tagen hatte er oft genug den Helden gespielt. Eine Schusswunde reichte ihm. Auf ausgeschlagene Zähne oder gebrochene Glieder konnte er gut verzichten. So verhielt er sich still und spielte lediglich in Gedanken durch, was er mit den Mistkerlen anstellen würde, wenn er die Möglichkeit dazu bekäme.