Den Haag
Das Erste, was Shannon spürte, war ein stechender Schmerz im Genick. Dann fiel ihr auf, dass etwas anders war. Der Motor des Busses hatte aufgehört zu brummen, sie bemerkte keine Vibrationen mehr. Sie öffnete die Augen. Ihre Lider fühlten sich geschwollen an. Draußen herrschte Nacht. Shannon hörte die Geräusche von Reisenden, die sich erhoben, ihr Gepäck zusammensuchten, zum Ausgang strebten. Langsam streckte sie ihre steifen Gliedmaßen und suchte hinter der Scheibe nach Anhaltspunkten, wo sie sich befanden.
In der Finsternis entdeckte sie ein Schild: Den Haag.
Shannon rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Kurz vor sieben. Der Bus hatte Verspätung. Sie zog ihre Daunenjacke über und sehnte sich nach einer heißen Dusche sowie einem dampfenden Kaffee. Da draußen sah es nicht danach aus, als ob sie das eine oder das andere bekommen würde. Keine Straßenbeleuchtung, dunkle Gebäude, wenige Menschen. Sie wartete, bis alle ausgestiegen waren, dann verließ auch sie den Bus. Sofort spürte sie beißende Kälte auf Wangen, Nase und Ohren. Sie zog die Kapuze ihrer Jacke über und kramte ihre Handschuhe hervor.
Sie versuchte, sich zu orientieren. Wie es schien, war sie auch hier an einem Bahnhof gelandet. Das Gebäude war nicht groß, erinnerte sie an die Stationen in kleineren Städten Frankreichs. Auf ihrer Europareise hatte sie in den Niederlanden nur Amsterdam besucht.
Sie ging zum Hauptgebäude. In der Halle glommen ein paar Notleuchten. Einige Reisende standen ratlos herum, suchten Personal oder warteten an einem der zwei offenen Schalter.
Shannon sprach den Erstbesten auf Englisch an.
»Sprechen Sie Englisch?«
»Ein bisschen.«
»Sind Sie von hier?«
»Ja.«
Sie hielt ihm den Zettel vor die Nase, auf dem sie François Bollards Adresse notiert hatte.
»Wissen Sie zufällig, wo das ist und wie ich hinkomme?«
Der Mann studierte das Papier, dann sagte er: »Das ist etwa eine halbe Stunde zu Fuß von hier. Oder Sie nehmen ein Taxi. Wenn Sie eines bekommen.«
Shannon bat ihn, ihr ungefähr den Weg zu beschreiben. Er nannte ihr ein paar fremd klingende Straßennamen und Abzweigungen, die sie notdürftig auf den Zettel kritzelte. Sie bedankte sich und marschierte los. Nach einem Taxi hielt sie nicht Ausschau, sie musste mit ihrem Geld haushalten. Ihr Magen knurrte. In ihrem Seesack hatte sie ein paar Schokoriegel, von denen sie einen im Gehen aß. Sie wanderte durch Straßen mit netten, alten Backsteinhäusern, ähnlich wie in Amsterdam. Die Straßenlampen erhellten ihr auch hier nicht den Weg. Immer wieder sah sie Licht in Fenstern, schwach, flackernd. Kerzen, vermutete sie. Menschen begegneten ihr kaum, Autos dagegen waren einige unterwegs.
Die Beschreibung des Mannes am Bahnhof war gut gewesen. Sie fand jede Straße, die er genannt hatte. Sie schritt zügig voran, damit ihr nicht kalt wurde, und überlegte, was sie zu François Bollard sagen sollte. Ihr Ausflug kam ihr noch absurder vor als am Abend zuvor, als sie in den Bus gestiegen war. Gleichzeitig trieb sie eine geheimnisvolle Kraft an. Shannon ließ es geschehen.
Nach einer knappen halben Stunde hatte sie ihr Ziel erreicht. Sie blieb vor dem Haus stehen, kontrollierte noch einmal die Adresse auf ihrem Zettel. Der Name neben der Klingel bestätigte, dass sie richtig war. Der Schwiegersohn ihrer Nachbarn lebte mit seiner Familie in einem schmucken Backsteinbau aus dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert, in einer Straße, die ausschließlich aus solchen Gebäuden bestand. Davor parkten deutsche und schwedische Limousinen und Kombis.
Eine Weile lang betrachtete sie die Fassade, suchte nach einem Zeichen, dass jemand da war. Als Kälte durch jede Ritze ihrer Kleidung zu kriechen begann, klopfte sie schließlich fest gegen die Holztür. Sie wartete kurz, dann klopfte sie ein zweites Mal. Da es keine Elektrizität gab, brauchte sie die Klingel gar nicht zu versuchen. Sie klopfte erneut. Lauschte, ob sie von drinnen etwas hörte. Nichts. Klopfte noch einmal. Wartete, horchte.
Nach zehn Minuten gab sie auf. Hier war niemand. Sie spürte einen heißen Schub der Scham ihr Gesicht hochsteigen. Daran hatte sie nicht gedacht, nicht damit gerechnet: François Bollard war nicht daheim. Vielleicht war er mit seiner Familie doch nach Frankreich gefahren. Oder sie waren in ein Hotel gezogen, das eine Notstromversorgung besaß. Mit einem Mal spürte sie die ganze Müdigkeit der letzten Tage, ja, der letzten Jahre, die Kälte, den Hunger und Durst, die Sehnsucht nach einer Dusche. Sie begann zu zittern, Tränen füllten ihre Augen, sie fühlte sich sehr einsam. Ihre Lippen bebten, sie rang nach Luft, atmete tiefer und tiefer, um sich zu beruhigen, bis sie den Zettel wieder aus ihrer Tasche zog und auf der Rückseite nachsah, wo sie die Adresse von Europol notiert hatte.
Brüssel
Angströms Nase war so kalt, dass es fast schmerzte. Sie zog den Schlafsack bis unter die Augen und wartete, bis sich ihre Nase erwärmt hatte. Dann wagte sie es, eine Hand aus dem Schlafsack zu strecken, in den sie sich unter die Decke verkrochen hatte, und betätigte den Schalter der Nachttischlampe. Nichts. Noch immer kein Strom. Sie zog den Arm wieder zurück und dachte über die Konsequenzen nach.
Sie besaß einen elementaren Informationsvorsprung gegenüber den meisten Menschen Europas. Nachdem sich Piero Manzanos Annahmen bestätigt hatten, musste sie davon ausgehen, dass der Ausfall womöglich länger andauerte.
Manzano. Wie es ihm jetzt wohl ging?
Angström überlegte, wie gut sie auf eine solche Situation vorbereitet war. Was würde sie benötigen? Wasser, wie sie gestern Abend schon festgestellt hatte. Lebensmittel. Geld. Sie sollte so schnell wie möglich aufstehen und zusehen, dass sie vielleicht noch einen geöffneten Supermarkt und eine Bank fand.
Sie kroch aus ihrer Schlafstatt, ging auf die Toilette, die sie gestern Abend einmal hatte spülen können. Wasser war keines in den Tank nachgeflossen. Trotzdem setzte sie sich auf die kalte Brille und tat, was sie tun musste. Hoffnungsvoll drückte sie den Knopf, doch nichts. Aus der Küche holte sie eine Mineralwasserflasche und spülte mit dem Inhalt das Klo.
Mit ein wenig Wasser aus einer zweiten Flasche erledigte sie eine notdürftige Morgenwäsche. Das Thermometer vor dem Fenster zeigte vier Grad über null an. Auf ihrer Seite der Scheibe konnte es nicht wärmer als zwölf Grad sein. Nieselregen sprühte gegen das Glas. Sie zog ein frisches T-Shirt an, ein dickes Baumwollhemd und einen Wollpulli. Lange Unterhosen unter die Jeans. Den Anorak, eine warme Wollmütze, Handschuhe, Stiefel.
Normalerweise fuhr sie mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrer Arbeit, da sie in Brüssel kein eigenes Auto besaß. Wenn sie eines benötigte, lieh sie es. Doch heute würden ihr weder ein Leihwagen noch die öffentlichen Verkehrsmittel etwas nützen. Also rollte sie ihr Hollandrad aus dem Flur und sperrte die Wohnungstür hinter sich ab.
In der Straße entdeckte sie kein einziges Licht. Sie rief sich die Supermarktfilialen und Lebensmittelläden der Umgebung in Erinnerung, dann stieg sie auf das Fahrrad und trat ordentlich in die Pedale, um sich aufzuwärmen.
Den Haag
Bollard hatte kaum geschlafen. Noch vor sechs Uhr morgens war er aus dem Bett geschlüpft, hatte sich leise angezogen und aus dem kleinen Apartment in dem Bauernhof gestohlen. Eine halbe Stunde später saß er an seinem Schreibtisch im Statenkwartier. Er war nicht der Einzige. Seine halbe Mannschaft hatte die Nacht im Büro verbracht.
Janis Christopoulos, ein dreiunddreißigjähriger Grieche, begrüßte ihn mit einem Bündel Ausdrucke in der Hand.
»Hier sind endlich die Phantombilder aus Italien und Schweden. Insgesamt sechs Stück.«
Sie gingen zu der großen Wand in der Einsatzzentrale, an der sie alle Informationen ausgedruckt aufhängten. Christopoulos fügte drei Bilder zum schwedischen Komplex hinzu und drei zum italienischen. Die Porträts zeigten durchwegs Männer. Wie üblich wirkten die Gesichter auf den Computerzeichnungen alters- und seelenlos. Es musste etwas mit den Augen zu tun haben, dachte Bollard.
Fünfmal dunkle Haare, zweimal mit schütterem Wuchs, einmal Schnurrbart, zwei Vollbärte. Einer hatte asiatisch anmutende Augen.
»Zwischen zwanzig und vierzig lauten die Aussagen, Körpergrößen stehen dabei«, erklärte Christopoulos. »Vier von den sechs wurden als eher südländische bis arabische Typen beschrieben. Einer meinte auch, vielleicht sei einer südamerikanischer oder asiatischer Herkunft.«
Christopoulos zuckte mit den Schultern.
»Zeugenaussagen eben … In Schweden war allerdings auch ein Blonder dabei.«
Weder in Schweden noch in Italien würde jemand Verdacht schöpfen, wenn ein Servicemitarbeiter mit Migrationshintergrund bei ihm auftauchen würde, dachte Bollard. Ebenso wenig wie in Frankreich.
»Momentan zirkulieren die Bilder bei den Stromversorgern. Aber sie werden wohl niemanden finden. Die Dienstpläne der jeweiligen Versorger zeigen nämlich für die betreffenden Tage und Adressen keine Termine.«
»Das ist immerhin ein Anfang. Die Typen könnten also tatsächlich etwas damit zu tun haben.«
»Wir vergleichen sie bereits mit unseren Datenbanken. Interpol und die USA auch.«
»Das ist alles?«
»Zu diesen Ermittlungen leider. Dann haben wir noch ein paar Meldungen von der IAEO aus Wien. Temelín in Tschechien meldet weiterhin Probleme mit dem Kühlsystem, die Behörden sagen aber nur INES-Stufe 0, dasselbe im finnischen Olkiluoto und im französischen Tricastin.«
Bollard vergegenwärtigte sich die Landkarte seiner Heimat und entspannte sich wieder. Die genannte Anlage lag im Süden, mehr als fünfhundert Kilometer vom Loiregebiet und seinen Eltern entfernt. Er erinnerte sich, dass sie in den vergangenen Jahren mehrmals durch Störfälle in die Schlagzeilen geraten war, obwohl – und weil – diese teilweise hatten vertuscht werden sollen.
»Die beunruhigendsten Nachrichten kommen leider auch aus Frankreich«, fuhr Christopoulos fort. »In Saint-Laurent sind offenbar ernstere Probleme mit den Notkühlsystemen aufgetreten.«
Bollard meinte zu spüren, wie jemand einen breiten Gürtel um seinen Hals zusammenzog. Die Anlage in Saint-Laurent-Nouan lag zwanzig Kilometer vom Haus seiner Eltern entfernt.
»Noch ist die Lage unklar. Die Rede ist von erhöhtem Druck und ansteigender Temperatur.«
»INES-Einstufung?«
»Noch nicht erfolgt.«
»Entschuldigen Sie mich«, sagte Bollard.
Er eilte in sein Büro und schaltete den Computer an. Im Internet suchte er vergeblich nach Berichten über den angeblichen Vorfall. War die Öffentlichkeit noch nicht informiert worden? Er blickte auf die Uhr. Kurz vor acht. Um diese Zeit waren seine Eltern gewöhnlich bereits wach. Bollard wählte die Nummer.
Die Leitung blieb tot. Nervös klopfte Bollard auf die Gabel, versuchte es noch einmal. Wieder nichts. War womöglich die Europol-Anlage defekt? Zur Kontrolle probierte er die Nummer eines Kollegen in Brüssel, von dem er wusste, dass er erreichbar sein musste.
»Guten Morgen, François Bollard hier, entschuldige die Störung, ich musste nur unsere Anlage testen.«
»In Ordnung«, erwiderte der andere, »das Problem hatte ich auch schon.«
Noch einmal wählte er die Nummer seiner Eltern. Aus dem Hörer klang nur ein leises Rauschen. Im Computerverzeichnis suchte er die Nummer ihrer Ansprechperson bei der französischen Atomaufsichtsbehörde.
»Autorité de sûreté nucléaire, bonjour?«
Bollard nannte den Namen seines gewünschten Gesprächsteilnehmers.
»Ist heute leider noch nicht im Haus«, erwiderte die freundliche Telefonistin.
»Dann geben Sie mir seinen Stellvertreter.«
»Leider auch noch nicht da. Der Stromausfall, Sie verstehen. Da haben viele Probleme, zur Arbeit zu kommen.«
Bollard biss die Zähne zusammen, um sie nicht anzuschreien.
Musste er es eben später noch einmal versuchen. Er legte auf. Dann erinnerte er sich daran, dass er eine Verabredung hatte.
Berlin
Viertel vor acht Uhr stand der Kriminalbeamte Hartlandt mit seinem Sparbuch vor der nächsten Filiale seiner Bank. Vor ihm wartete bereits ein Dutzend Leute. Einige Passanten bemühten vergeblich den Geldautomaten neben dem Eingang. Hartlandt stampfte auf und schlug die Arme um den Oberkörper gegen die Kälte. Hinter ihm bildete sich eine längere Warteschlange. Einige der Leute unterhielten sich, tauschten Erfahrungen aus, schimpften auf die Behörden. Hartlandt überlegte, wo er wohl einen offenen Supermarkt oder Lebensmittelladen finden würde. Um Punkt acht Uhr drängten alle in den Schalterraum.
Drinnen war es angenehm warm.
»Wie viel?«, fragte der Angestellte hinter dem Tresen, als Hartlandt ihm das Sparbuch reichte.
»Zehntausend«, erwiderte Hartlandt nicht zu laut.
»Das ist ja fast alles«, bemerkte sein Gegenüber überrascht.
»Ja«, sagte Hartlandt. »Der Geldautomat draußen funktioniert nicht.«
»Ist von unserem Stromnetz abgekoppelt«, erklärte der Mann, während er das Geld Schein für Schein auf den Tresen legte. »Damit die Notstromversorgung hier drinnen länger hält.«
Hartlandt teilte das Bündel, klappte beide Packen zusammen und versenkte sie tief in die vorderen Taschen seiner Jeans. Als er die Bank verließ, war der Schalterraum zwar gut besucht, aber nicht überlaufen.
Wenn die Menschen wüssten, dachte er. Und fragte sich, warum sie eigentlich nichts wussten.
Den Haag
Manzano lungerte auf dem Sofa in seinem Hotelzimmer herum und arbeitete am Laptop, als es klopfte.
Bollard trat ein.
»Haben Sie gut geschlafen?«, fragte der Europol-Mann.
»Und ein anständiges Frühstück bekommen«, antwortete Manzano.
»Gehen wir einkaufen«, schlug Bollard vor.
Manzano kam der Franzose verändert vor. Noch angespannter.
»Haben die Läden wieder offen?«
»Für uns schon.«
Bollard fuhr mit ihm durch die leeren Straßen. Unterwegs zeigte er Manzano einige Sehenswürdigkeiten.
Manzano fragte Bollard, wie er zu Europol nach Den Haag gekommen war.
»Die üblichen Gründe«, erklärte Bollard. »Eine interessante Aufgabe. Karriereperspektiven.«
Sie fuhren an einem großen Modehaus vorbei. Bollard parkte den Wagen in einer Seitenstraße.
»Wir nehmen den Nebeneingang«, sagte er. Aus dem Kofferraum nahm er eine Tasche mit.
Am Lieferanteneingang ließ sie eine Frau mittleren Alters ein, nachdem Bollard ein paar Worte mit ihr gewechselt und ihr einen Ausweis gezeigt hatte.
Drinnen war es so dunkel, dass Manzano kaum etwas sah. Aus seiner Tasche zog Bollard zwei große Taschenlampen. Eine davon reichte er Manzano. Mit der anderen leuchtete er quer durch das riesige Geschoss voller Regale, Tische und Stangen mit Kleidung.
»Suchen Sie sich etwas aus.«
»Ich komme mir wie ein Einbrecher vor«, bemerkte Manzano.
»Damit sollten Sie doch vertraut sein«, erwiderte Bollard.
Manzano verstand die Bemerkung zwar nicht, ihm missfiel jedoch der Ton.
»Als Hacker, meine ich«, fügte Bollard hinzu.
Manzano hatte keine Lust auf diese Diskussion.
Doch Bollard ließ nicht locker. »Da brechen Sie ja auch in fremdes Eigentum ein.«
»Ich bin nicht eingebrochen, ich habe Sicherheitslücken genützt. Und ich habe weder etwas zerstört noch gestohlen«, fühlte sich Manzano nun doch zu einer Rechtfertigung genötigt. Um das Gespräch zu beenden, wechselte er zu einem anderen Tisch, leuchtete über die Hemden.
»Wenn Sie vergessen, Ihre Tür abzuschließen«, blieb Bollard hartnäckig, »fänden Sie es auch in Ordnung, dass Wildfremde einfach in Ihre Wohnung spazieren?«
»Ich wäre nicht böse, wenn mich jemand auf den Sicherheitsmangel aufmerksam macht.«
»Ist bei Ihnen zu Hause schon einmal eingebrochen worden? Kennen Sie das Gefühl, wie das ist, wenn man weiß, dass da jemand war? Man weiß aber nicht, wer es war. Ob er wiederkommt. Ob er beim nächsten Mal etwas Schlimmeres tut. Ich kann Ihnen versichern, es ist ein Scheißgefühl. Selbst wenn nichts zerstört oder gestohlen wurde.«
»Wollen Sie mit mir streiten oder zusammenarbeiten?«, fragte Manzano. Er hielt einen Pullover hoch, legte ihn an seinen Rumpf. »Der könnte passen.«
Auf dem Bildschirm hatte der niederländische Kriminalbeamte beobachtet, wie Bollard mit dem Italiener das Hotelzimmer verließ.
»Dann bin jetzt ich dran«, sagte er zu seinem Partner. »Bis gleich.«
Er verließ den Überwachungsraum und stieg die zwei Stockwerke tiefer. Mit dem Zweitschlüssel kam er problemlos in das Apartment. Manzanos Laptop lag auf dem Schreibtisch. Das Passwort hatten sie auf den Überwachungskameras schon gesehen. Dann steckte er den USB-Stick hinein. Er gab ein paar Befehle ein, bis der Downloadbalken auf dem Bildschirm erschien. Zwei Minuten später war das Programm auf dem Computer installiert. Drei weitere Minuten später hatte er es so gut versteckt und seine Spuren verwischt, dass der Italiener es nicht entdecken konnte. Er schaltete den Computer wieder aus und ließ ihn genauso zurück, wie er ihn vorgefunden hatte. Er ging zur Tür, warf noch einen kontrollierenden Blick zurück, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer so schnell und unauffällig, wie er gekommen war.
Brüssel
Auf ihrer Radtour hatte Angström als Erstes eine geöffnete Bank aufgestöbert. Mit fünfhundert Euro in der Tasche radelte sie weiter, bis sie zwanzig Minuten später einen Supermarkt fand, dessen Eingang sie an das Einflugloch eines Bienenstocks erinnerte, so viele Menschen drängten hinein und heraus. Unter der Notbeleuchtung schoben sich die Menschen zwischen den Regalen hindurch wie an einem Samstagnachmittag vor Weihnachten. Vor den Kassen war das Gedränge am größten.
Angström ergatterte einen der letzten Einkaufswagen. Gezielt schob sie sich zwischen den Massen zur Getränkeabteilung, wo sie von den bereits ziemlich reduzierten Beständen vier Kisten mit Wasserflaschen auflud. Ellenbogen bohrten sich in ihre Seiten, Einkaufswagen rammten in ihren Rücken und ihre Hacken. Um die Tiefkühlabteilung machte sie einen Bogen, dort prügelten sich die Kunden um die Ware, deren Preise das Personal radikal herabgesetzt hatte, bevor sie gänzlich unverkäuflich wurde. Den Rest ihres Wagens füllte sie mit Konserven aller Art, was ihren ganzen Körpereinsatz erforderte. Sie drängte, rempelte, schob.
Die Schlange zur Kasse begann bereits dreißig Meter davor.
»Immer mit der Ruhe!«, hörte Angström eine verzweifelte Stimme. »Wir können ja auch nichts dafür! Bitte stellen Sie sich wieder an! Sonst muss ich den Sicherheitsdienst rufen!«
»Saftladen!«, brüllte eine andere. »Ich werde hier doch nicht den ganzen Tag warten, bis Sie Kopfrechnen gelernt haben!«
»Ruhe, meine Damen und Herren, bitte! Alle kommen dran! Wir geben uns alle Mühe!«
»Davon merke ich nichts!«
»Ja, ich auch nicht!«
»Weitermachen da vorne!«
Angström stellte sich an das Ende der Schlange. Vor ihr warteten mindestens sechzig Menschen. Manche standen geduldig, andere gestikulierten und riefen.
»Was ist denn los?«, fragte eine Frau vor ihr ihren Vordermann.
»Die Scanner und Kassen funktionieren nicht«, erklärte dieser. »Jetzt müssen die alles von Hand zusammenrechnen. Und kennen von den meisten Waren nicht einmal den Preis, sondern müssen ständig nachschlagen. Können wahrscheinlich gar nicht richtig rechnen. Das kann ewig dauern!«
In der Schlange neben ihr bemerkte Angström einen Mann, der ein paar Päckchen in seine Jacke stopfte, den halb vollen Wagen stehen ließ und sich an der Warteschlange vorbeidrängte.
»Lassen Sie mich vorbei! Ich habe nichts dabei.«
Angström zögerte einen Moment, dann rief sie: »He, Sie! Sind Sie sicher?«
Der Mann hielt irritiert inne, drehte sich um und suchte die Rufende.
»Ja, Sie!«, rief Angström.
»Womit soll ich sicher sein?«
»Dass Sie nichts dabeihaben. Sehen Sie doch einmal in Ihren Jackentaschen nach.«
Nun wandten sich auch andere nach ihnen um. Der Mann betastete seine Jacke und spielte den Unschuldigen. Dann kehrte er zu seinem Wagen zurück.
»Ziege«, zischte er Angström zu. »Was geht Sie das an?«
Unauffällig beförderte er den Inhalt seiner Taschen wieder in den Wagen.
»Mama, können wir bald nach Hause?«, jammerte ein Kind hinter ihr. Ein kleines Mädchen an der Hand eines etwas älteren Jungen.
»Dauert noch ein bisschen, Schatz«, erwiderte die Mutter.
»Ich muss aufs Klo!«
Na klar.
»Bitte warte noch kurz.«
»Ich muss aber jetzt!«, quengelte sie.
»Es geht jetzt aber nicht! Du bist doch groß genug, dass du dich noch zurückhalten kannst!«
»Neeein!«
»Bitte, Janina. Du darfst dir dafür vorne auch etwas Süßes aussuchen.«
»Dann will ich aber auch was!«, meldete sich der Junge zu Wort.
»Ja, du bekommst auch was.«
»Aber er muss doch gar nicht aufs Klo!«
»Muss ich doch!«
Angström schloss die Augen und überlegte für einen Moment, den Wagen stehen zu lassen und ohne dessen Inhalt nach Hause zu gehen. Dann fiel ihr ein, dass sie die Waren mit dem Fahrrad gar nicht transportieren konnte, dafür waren es viel zu viele. Sie würde den Wagen nach Hause schieben müssen. Und das Fahrrad? Legte sie entweder quer darüber oder schob es mit der anderen Hand. Nein, für die letztere Variante war der Wagen viel zu schwer. Sie rechnete sich aus, dass es mindestens drei Kilometer bis zu ihrer Wohnung waren, vielleicht mehr als vier.
»Halt! Hiergeblieben!« Angström hörte Fluchen, Schmerzensschreie, ein Handgemenge. Dann herrschte für einen Moment atemlose Stille.
»Aufstehen!«
»Lassen Sie mich los!«
»Nur weil der Strom ausgefallen ist, brauchen Sie nicht glauben, dass Sie hier stehlen und ungestraft hinausmarschieren können.«
Angström fragte sich, wie lange sie hier warten wollte. Die Leute fanden sich nicht mit der Situation ab, sondern wurden immer aggressiver und lauter.
»Wer ohne Einkäufe gehen möchte, bitte die Kasse ganz rechts benutzen!«, wiederholte eine Stimme von vorne einen Aufruf.
Während sie sich quälend langsam der Kasse näherte, beobachtete Angström die Kassiererin. Tatsächlich sah sie die Waren Stück für Stück an, blätterte dann in einem Heft voller Kopien, in dem sie bei diesem schwachen Licht kaum lesen konnte, um den jeweiligen Preis herauszufinden und ihn als Nächstes auf einen Zettel zu notieren, bis sie die Summe zusammenzählen konnte.
Angström nahm sich vor, nicht nachzurechnen, obwohl sie kein Vertrauen in die Frau setzte.
Den Haag
Shannon war eine weitere Dreiviertelstunde durch die Kälte zur Zentrale von Europol marschiert. In der Empfangshalle des Neubaus hatte man ihr mitgeteilt, dass François Bollard nicht im Haus sei. Nach telefonischer Rückfrage hatte der Portier aber erklärt, dass Bollard bald erwartet würde.
Kurzerhand hatte sich Shannon in einer der Sitzgruppen niedergelassen. Hier war es warm, und sie konnte auf die Toilette gehen. Sogar eine notdürftige Wäsche hatte sie durchführen können. Danach fragte sie den Portier, ob es Neuigkeiten zum Stromausfall gäbe. Er kannte keine oder wollte nichts sagen.
Lange musste sie nicht warten. Die Uhr über dem Empfang zeigte kurz nach zehn, als sie Bollard eintreffen sah. Bei ihm befand sich ein schlaksiger Mann mit einer frisch genähten Narbe an der Stirn, der ein paar Einkaufstüten trug.
Shannon fragte sich kurz, woher er die hatte, denn sie war unterwegs an keinem geöffneten Laden vorbeigekommen, sprang auf und ging ihnen entgegen.
»Guten Tag, Herr Bollard«, stellte sie sich vor. »Lauren Shannon, ich bin eine Nachbarin Ihrer Schwiegereltern in Paris.«
Bollard musterte sie aufmerksam.
»Was machen Sie hier? Ist etwas mit meinen Schwiegereltern?«
»Das wollte ich gerne von Ihnen wissen«, entgegnete Shannon.
»Gehen Sie schon einmal weiter«, bat Bollard seinen Begleiter auf Englisch. Als dieser außer Hörweite war, fuhr er fort: »Ich erinnere mich an Sie. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, waren Sie für irgendeinen TV-Sender tätig.«
»Bin ich immer noch. Gestern Nachmittag reisten Ihre Schwiegereltern kopfüber aus Paris ab – die Schwiegereltern des Terrorverantwortlichen bei Europol. Zu Ihren Eltern, Herr Bollard, wenn ich es richtig verstanden habe. Dabei rutschte Ihrer Schwiegermutter eine Bemerkung heraus, die mir keine Ruhe gelassen hat.«
»Offensichtlich, wenn sie Sie mitten in der Nacht von Paris hierhergetrieben hat. Ich wüsste allerdings nicht, was ich damit zu tun haben könnte. Medienvertreter wenden sich bitte an unsere Pressestelle.«
Shannon hatte nicht erwartet, dass er ihr freiwillig etwas erzählte. Das hätte lediglich bedeutet, dass sie wirklich umsonst gekommen war, denn wenn Bollard freimütig geredet hätte, wäre längst auch eine Mitteilung über die internationalen Presseagenturen verbreitet worden.
»Wir müssen also nicht damit rechnen, dass es sich bei den Stromausfällen um Terroranschläge handelt und sie noch länger andauern?«
»Wann der Strom wiederkommt, müssen Sie die Produzenten fragen, nicht mich.«
Er wich ihr eindeutig aus.
»Hinter den Ausfällen stecken also keine Anschläge?«
»Wie gut kennen Sie sich mit der europäischen Energieversorgung aus?«
»Ich sehe und höre, dass sie nicht funktioniert. Das genügt.«
Er hatte recht. Sie hatte keine Ahnung.
»Nicht ganz«, erwiderte er mit einem mitleidigen Lächeln. »Denn dann wüssten Sie, wie komplex diese Systeme sind. Die schaltet man nicht ohne Weiteres aus wie das Licht in Ihrem Wohnzimmer. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Weitere Fragen beantwortet Ihnen gern unsere Pressestelle.«
»Warum fahren Ihre Schwiegereltern dann aufs Land?«, rief sie ihm hinterher. »Zu Bauern, die einen eigenen Brunnen haben, mit Holz im Kamin heizen können und – wie formulierte es Madame Doreuil – einfach ein Huhn im Stall schlachten, wenn sie etwas zum Essen brauchen.«
Er wandte sich um, kehrte zu ihr zurück.
Sie fuhr fort: »Für mich klingt das nach jemandem, der jetzt schon weiß, dass dieser Zustand länger andauern wird. Und von wem könnte sie das wohl erfahren haben?«
Wieder bedachte Bollard sie mit diesem nachsichtigen Blick, den Erwachsene gern aufmüpfigen Jugendlichen schenkten.
»Ihre Fantasie und Ihr Engagement in Ehren, Frau …«
»… Shannon. Lauren Shannon.«
»… aber ich habe zu tun. Wenn auch nicht, was Sie denken. Kehren Sie nach Paris zurück.«
Shannon schaute ihm nach, bis er am Treppenaufgang verschwunden war. Dabei rekapitulierte sie das Gespräch. Ihre Frage nach Anschlägen hatte er nicht rundweg als lächerlich abgetan, dachte sie. Statt eines eindeutigen Dementis hatte er sie über die Komplexität der Energieversorgung belehrt. Sie ging zu der Sitzgruppe, an der ihr Seesack lehnte. Schon wieder spürte sie Hunger. Aus der Seitentasche holte sie ihren letzten Riegel.
Und jetzt?
»Ich bringe meine Einkäufe jetzt ins Hotel«, sagte Manzano.
Bollard nickte.
»Sobald die Listen mit den SCADA-Produzenten da sind, gebe ich Bescheid. Sind sie woanders weitergekommen?«
»Noch keine Durchbrüche.«
Manzano studierte das Diagramm an der Wand. In dem Raum, der Bollards Einsatzzentrale bildete, hatten sie begonnen, über die ganze Längswand Informationen zu verteilen. Da hingen an einer Stelle Notizen mit den Codes in den italienischen Stromzählern, daneben alles, was sie bis jetzt von den Italienern zu den Wohnungen bekommen hatten, in deren Zähler die Codes eingespeist worden waren. Dazu gehörten Personendaten aller Eigentümer und Bewohner aus den letzten Jahren, Befragungen der Nachbarn und von Arbeitskollegen, so die italienischen Behörden welche gefunden hatten. An anderer Stelle waren die vergleichbaren Informationen aus Schweden. Dazu jeweils drei Phantombilder.
Weitere Inseln bildeten der Komplex des französischen CNES und Netzleitstellen in weiteren Staaten, die am Vortag ausgeschaltet worden waren. Schlauer waren sie dadurch bislang nicht.
Draußen war es etwas wärmer geworden. Ein paar Tropfen fielen vom Himmel. Manzano beeilte sich, ins Hotel zu kommen, bevor der Regen heftiger wurde. Unterwegs beobachtete er die Menschen, die ihm entgegenkamen, in den Autos an ihm vorbeifuhren. Noch ahnten sie nicht, was ihnen bevorstand. Endlich erreichte er den warmen Hoteleingang.
»Entschuldigen Sie, habe ich Sie vorhin nicht mit François Bollard gesehen?«, sagte eine weibliche Stimme auf Englisch.
Hinter ihm stand eine junge Frau, dick vermummt in einer Steppjacke, mit einem kleinen Seesack. Außer ihnen und dem Portier war niemand in der Lobby. Das Gesicht kam ihm bekannt vor.
»Ja. Sie sind die Frau aus der Eingangshalle bei Europol«, sagte er, ebenfalls auf Englisch.
»Ich bin die Nachbarin von Bollards Schwiegereltern in Paris«, erwiderte sie. In Manzanos Ohren klang sie wie eine US-Amerikanerin.
»Was tun Sie hier?«
»Das ist ein Hotel. Ich suche ein Zimmer.«
»Ich fürchte, das Haus ist voll.«
»Und was tun Sie hier? Sie sind nicht von Europol? Oder warum wohnen Sie hier?«
»Im Moment haben sich viele Ersatzquartiere besorgt, wenn sie die Chance dazu hatten. Dieses Hotel hier hat eine funktionierende Notstromversorgung. Ich meinte aber: Was machen Sie in Den Haag?«
»Ich bin Journalistin. Ich habe mitbekommen, wie Bollards Schwiegereltern gestern Nachmittag fluchtartig Paris verließen. Ich glaube nicht, dass die Schwiegereltern des Terrorverantwortlichen bei Europol so eine Reise zufällig während des größten Stromausfalls in der Geschichte Europas unternehmen. Bollard wollte mir nichts sagen.«
»Sie sind mir von Europol hierhergefolgt.«
»Ich muss wissen, was los ist. Ich habe deshalb die ganze Nacht in einem Bus verbracht.«
»So sehen Sie auch aus.«
»Wie charmant, danke.«
Sie war eine kleine, schlanke Person mit einem runden Kopf und halblangen brünetten Haaren. Die Augen blitzten frech, der kleine Mund verriet Entschlossenheit.
»Die ganze Nacht im Bus? Und kein Zimmer? Haben Sie schon gefrühstückt?«
»Ein paar Schokoriegel.«
Manzano ging zum Portier.
»Ist noch ein Zimmer frei?«
»Nein«, antwortete der Mann.
Manzano wandte sich wieder zu der jungen Frau.
»War zu erwarten. Das wird ungemütlich für Sie. Sie sollten den nächsten Bus nach Hause nehmen.«
»Dort gibt es auch keinen Strom.«
»Aber ein Dach über dem Kopf.«
Die junge Frau zuckte mit den Schultern.
»Haben Sie auch einen Namen?«, fragte Manzano.
»Lauren Shannon.«
»Das klingt nicht französisch.«
»Ich bin Amerikanerin.«
»Eine Amerikanerin in Paris, wie hübsch. Fehlt nur noch, dass Sie wie Gene Kelly tanzen.«
»Da muss ich Sie enttäuschen. Und Sie?«
»Piero Manzano.«
»Auch kein Franzose.«
»Ich bin Italiener.«
»Ein internationales Städtchen, dieses Den Haag.«
»Eine ganze Nacht im Bus«, bemerkte Manzano. »Sie haben sicher Lust auf eine Dusche.«
»Und wie!«, seufzte sie.
»Dann kommen Sie. Ich lade Sie auf eine ein.«
Sie beäugte ihn misstrauisch.
Manzano musste lachen.
»Nicht was Sie denken! Ich esse lieber mit sauberen Personen zu Mittag. Sie haben doch sicher Hunger.«
Ihr Blick blieb zögerlich.
Manzano wandte sich zu den Treppen.
»Wie Sie wollen. Dann wünsche ich Ihnen noch viel Erfolg.«
Er begann die Stufen hinaufzusteigen.
»Warten Sie!«, rief die Amerikanerin.
Manzano hielt inne, bis sie ihn eingeholt hatte.
»Sie haben nichts zum Grund meiner Reise nach Den Haag gesagt.«
»Was soll ich sagen?«
»Ob ich recht habe.«
»Womit?«
»Dass hinter den Stromausfällen mehr steckt als menschliches Versagen oder technische Gebrechen.«
»Warum sollte ich das wissen?«
»Weil Sie mit Bollard unterwegs waren.«
»Sie werden so hartnäckig bleiben, nicht wahr?«
»Das ist mein Job.«
»Und mein Job unterliegt einer Geheimhaltung. Selbst wenn ich etwas wüsste, dürfte ich es nicht sagen.«
»Das heißt, Sie wissen etwas.«
»Hier ist mein Zimmer.«
Manzano hielt die Plastikkarte gegen das elektronische Schloss. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf, es knackte, und die Tür ließ sich öffnen. Manzano fragte sich, was mit diesen Schlössern geschah, wenn der Notstrom nicht mehr floss.
Shannon stellte ihren Seesack im Flur ab.
»Nehmen Sie Ihre Dusche«, sagte Manzano, »dann gehen wir unten Mittag essen. Ein Luxus in einer Situation wie dieser.«
Während seine neue Bekanntschaft im Bad zugange war, stapelte Manzano seine Einkäufe in den Schrank. Dann las er im Internet die neuesten Nachrichten. Das Hotel besaß wie Europol eine besondere Leitung, die direkt mit dem Backbone des Internets verbunden war, welches nach wie vor gut funktionierte. Erste Gerüchte waren aufgetaucht, über Polizeieinsätze in Italien und Schweden, die mit den Stromausfällen in Zusammenhang stehen sollten. Ein paar Experten äußerten bereits Zweifel, dass die Stromausfälle auf die üblichen Ursachen zurückzuführen waren. Von offiziellen Stellen gab es dazu keine Kommentare. Manzano fand diese Strategie nicht richtig. Die Regierungen wussten mittlerweile, dass es sich um einen Angriff handelte. Ihnen musste klar sein, dass weite Teile der Bevölkerung womöglich noch tagelang ohne Strom auskommen mussten.
Shannon kam aus dem Bad, im Bademantel, rubbelte sich die Haare trocken.
»Das war fantastisch, vielen Dank!«
»Keine Ursache.«
»Gibt es Neuigkeiten?«
»Nicht wirklich.«
»Sie haben recht!«, rief sie, »ich habe einen Riesenhunger!«
Zehn Minuten später saß Shannon mit Manzano im Speisesaal des Hotels. Die Hälfte der Tische war besetzt. Seltsamer Typ, ihr Gegenüber. Sie wusste nicht genau, was sie von ihm halten sollte. Bislang war er nett gewesen, nicht aufdringlich, und er hatte ihr Hoffnungen gemacht, dass er etwas wusste. Sie blieb jedoch auf der Hut.
»Wir haben eine reduzierte Karte«, erklärte der Kellner.
»Besser als nichts«, erwiderte Manzano. Er bestellte ein Clubsandwich. Shannon wollte einen Hamburger.
»Wogegen sind Sie denn gelaufen?«, fragte sie mit einer Geste auf die Nähte an seiner Stirn.
»Autounfall, als die Ampeln erloschen.«
»Arbeiten Sie bei Europol?«
»Ich arbeite für Europol. Bollard hat mich engagiert.«
»Wofür?«
»Für welche Medien arbeiten Sie?«
»CNN.« Sie zeigte ihm einen Ausweis.
»Haben die keine Leute hier?«, wollte Manzano wissen.
»Ich bin ja da.«
»Und wie berichten Sie? Ohne Strom? Wie bekommen Sie Ihr Material zum Sender? Wie bringen Sie es auf die Bildschirme? Abgesehen davon, dass kaum noch jemand fernsehen kann.«
»In Europa nicht«, gab sie zu bedenken. »Ich stelle die Nachrichten online. Solange Teile des Internets noch funktionieren.«
»Was nicht mehr lange der Fall sein wird«, sagte Manzano. Er sah sich um, als habe er Sorge, beobachtet zu werden. Von den anderen Gästen interessierte sich niemand für sie. Er senkte seine Stimme: »Ich bin selbst erst seit gestern hier. Darüber, was ich hier mache, darf ich nicht sprechen, ich musste eine Geheimhaltungsklausel unterschreiben.« Er grinste sie an. »Aber niemand kann mir verbieten zu erzählen, was ich davor entdeckt habe.«
Nachdem er geendet hatte, hielt es Shannon kaum auf ihrem Platz.
»Warum wurde das den Menschen noch nicht mitgeteilt?«, flüsterte sie aufgeregt.
»Die Behörden haben Angst vor einer Panik.«
»Aber die Bevölkerung hat ein Recht darauf, das zu wissen!«
»Das sagen Journalisten immer, um ihre Arbeit zu rechtfertigen.«
»Journalistische Ethik können wir ein anderes Mal diskutieren! Außerdem haben Sie mir nicht davon erzählt, damit ich den Mund halte.«
»Nein.«
»Sie haben einen Internetanschluss in Ihrem Zimmer. Darf ich den benutzen?«
»Wenn er funktioniert. Würde mich wundern, wenn Europol den nicht überwacht.«
»Na und? Meinen Beitrag habe ich hochgeladen, bevor die überhaupt merken, was los ist.«
»Ist gar nicht notwendig. Im ganzen Hotel gibt es WLAN. Das Hotel hat eine direkte Verbindung zum Backbone des Internets, weil es häufig von Europols Gästen und Diplomaten genutzt wird.«
»Dafür braucht man sicher einen Code, den nur Hotelgäste bekommen.«
»Sie kriegen meinen.«
»Haben Sie keine Angst, dass man Sie hinauswirft?«
»Die wollen etwas von mir, nicht umgekehrt.«
»Danach vielleicht nicht mehr.«
»Das lassen Sie meine Sorge sein.«
»Glauben Sie das auch – das mit der Panik?«
»Interessanter Gedanke«, erwiderte er. »Einen ganzen Kontinent in Panik zu versetzen … Glauben Sie es denn?«
Shannon zögerte. Sie wusste, die Chance zu so einer Story bekam eine Journalistin, wenn überhaupt, genau einmal im Leben.
»Ich denke, wir unterschätzen die Menschen da draußen«, antwortete sie schließlich. »Im Gegensatz zu reißerischen Katastrophenfilmen fanden bislang praktisch kaum Unruhen und Plünderungen statt, im Gegenteil, die Leute helfen sich gegenseitig, sind friedlich.«
»Noch haben sie Vorräte in der Speisekammer.«
»Wissen Sie was? Ich glaube, die Nachricht von einer böswilligen Sabotage der Stromsysteme wird die Menschen noch näher zusammenrücken lassen. Gegen einen gemeinsamen Feind muss man schließlich zusammenhalten!«
»An Ihnen ist ein Propagandaminister verloren gegangen.«
»Wir wissen nicht, worüber sie gesprochen haben«, sagte der Polizist zu Bollard. »Es war zu laut.«
Bollard starrte gedankenverloren auf den Bildschirm des Laptops, der die Bilder von Manzanos Zimmerkamera zeigte. Der Italiener saß auf seinem Bett, den Laptop vor sich. Er schien zu arbeiten.
»Wo ist sie jetzt?«
»Unten im Restaurant, mit ihrem Laptop. Schreibt.«
Bollards Gedanken schweiften ab. Noch immer hatte er seine Eltern nicht erreicht. Weder von der IAEO noch von den französischen Behörden gab es neue Meldungen an Europol über die Situation im Kernkraftwerk Saint-Laurent. Er zwang sich zur Konzentration.
»Und natürlich wissen wir auch da nicht, was sie schreibt.«
»Luc ist gerade dabei, es herauszufinden. Er zapft das WLAN an.«
Bollard stand auf.
»Ihr haltet mich auf dem Laufenden.«
Unser Korrespondent in Stockholm hat tatsächlich eine Bestätigung für die Sabotage erhalten, las Shannon Eric Laplantes Antwort im E-Mail. Das Pariser Büro erreichte sie über dessen Satellitenverbindung.
Shannon klapperte mit fliegenden Fingern auf der Tastatur.
Habe ich euch doch gesagt. Ich sitze hier an der Quelle. Wenn ich weitermachen können soll, muss der Sender die Spesen für ein Quartier und einen Leihwagen übernehmen. Falls ich auch nur eines davon überhaupt noch bekomme.
Okay, kam die Antwort. Dazu fügte Laplante die Daten einer Firmenkreditkarte.
Gute Arbeit, Lauren.
Shannon ballte triumphierend die Faust. Sie ging zum Portier.
»Haben Sie noch immer kein Zimmer frei?«
»Tut mir leid.«
»Können Sie mir woanders eines besorgen?«
»Haben wir schon für Stammgäste versucht. Jedes Haus mit Notversorgung in der Stadt ist restlos ausgebucht.«
»Und Mietwagen?«
»Können wir versuchen. Bevorzugen Sie einen bestimmten Anbieter?«
»Den, der einen Wagen mit vollem Tank hat.«
Der Portier musste minutenlang probieren, bevor er ein kurzes Telefonat führen konnte. Er legte die Hand auf die Muschel und sagte ihr: »Ich habe nur einen erreicht. Er hätte noch genau einen Wagen. Ist aber nicht billig.«
»Wie viel?«
»Hundertfünfzig Euro. Pro Tag.«
»Was ist das? Ein Ferrari?«
»Ein Porsche.«
»Ist nicht Ihr Ernst.«
»Wahrscheinlich der letzte freie Leihwagen mit vollem Tank in ganz Den Haag und Umgebung, den Sie noch bekommen. Die billigen Wagen sind alle schon weg oder die Verleihstationen überhaupt geschlossen.«
Shannon zuckte mit den Schultern. Laplante würde toben.
»Na dann.«
»Und Sie müssen bar zahlen.«
Shannon erstarrte. Laplante würde vorerst nicht toben. Wenn sie den Wagen haben wollte, musste sie die Gebühr von ihren Barreserven vorstrecken.
Und wenn schon! War jetzt auch schon egal! Sie ließ sich den Weg beschreiben.
Eine Stunde später schob sie den Zündschlüssel in das Schloss des silbernen Sportwagens, über dessen Karosserie sich bunte Streifen zogen wie bei einem Rennauto. Vorsichtig versuchte sie sich an Kupplung und Schaltung. Der Motor heulte auf. Der Angestellte des Verleihs sah ihr besorgt zu. Sie winkte ihm und rollte zur Ausfahrt der Garage.
Bis sie zurück im Hotel war, beherrschte sie den Boliden immerhin für den Stadtverkehr.
Sie klopfte an Manzanos Zimmertür, und als dieser öffnete, gestand sie ihm: »Ich habe ein Problem. Ich muss über Nacht bleiben. Aber in der ganzen Stadt ist kein Zimmer aufzutreiben. Und ich dachte, weil Sie mir schon so geholfen haben, vielleicht …«
»Was? Dass Sie bei mir unterschlüpfen können?«
»Ich kenne sonst niemanden.«
»Was ist mit dem Schwiegersohn Ihrer Pariser Nachbarn, Herrn Bollard?«
»Der will nicht einmal mit mir reden.«
»Sie haben ein Vertrauen in die Menschen«, schnaubte Manzano kopfschüttelnd. »Wollen mit einem wildfremden Mann das Bett teilen.«
»Das Zimmer!«
»… hat nur ein Doppelbett. Das Sofa ist zu klein, um darauf zu schlafen.«
»Ich bleibe auch auf meiner Seite«, versprach Shannon.
»Wehe, Sie schnarchen«, sagte Manzano.
Berlin
In der Kaserne am Treptower Park herrschte Hochbetrieb. Den ganzen Tag lang hatten Hartlandt und seine Kollegen die Daten der vergangenen Jahre gesichtet, dazu die laufend neu eintreffenden Informationen gesammelt, analysiert, kategorisiert. Sofern Informationen eintrafen. Die erst in den letzten Jahren erfolgte Umrüstung von analogem auf digitalen BOS-Funk hatte tatsächlich seit der ersten Nacht einen entscheidenden Unterschied gemacht. Jahrzehntelang hatten sich die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, kurz BOS, in Deutschland bei Notfällen über ein analoges Funksystem verständigt. Wegen dessen schlechter Verschlüsselbarkeit waren seit den Achtzigerjahren digitale Systeme entwickelt worden, die mittlerweile in den meisten Ländern zum Einsatz kamen. Doch während die USV, die unterbrechungsfreie Stromversorgung der analogen Stellen, noch einen Betrieb von vier bis acht Stunden garantiert hatte, schaffte die batteriegestützte Überbrückung der digitalen TETRA-Geräte lediglich zwei Stunden. Seit Samstagmorgen waren alle Anstrengungen unternommen worden, die Sendestationen mit Notstrom und die Geräte mit zusätzlichen Batterien auszurüsten. Trotzdem konnten viele regionale Dienststellen der beteiligten Behörden und Organisationen sich nur zeitweise oder gar nicht untereinander und mit den Zentralen verständigen.
Gemeinsam mit drei Kollegen analysierte Hartlandt die Nachrichten der Energie erzeugenden und verteilenden Industrie.
Da draußen waren gerade Tausende Ingenieure damit beschäftigt, Fehler und Ursachen für den Stromausfall zu suchen, während Dutzende Servicetrupps die wichtigsten Leitungsstraßen prüften.
»Viel zu viele Kraftwerke haben Probleme, wieder zu starten«, stellte einer von ihnen über einen Stapel Ausdrucke gebeugt fest. »Deshalb können zu wenige Inseln aufgebaut und Netze synchronisiert werden.«
»Zwei Schäden bekamen wir allerdings schon gemeldet«, bemerkte Hartlandt bei Durchsicht seiner Listen.
»In den Schaltanlagen Osterrönfeld und Lübeck-Bargerbück in Schleswig-Holstein haben Brände mehrere Transformatoren zerstört.«
»Na, fabelhaft«, konstatierte Hartlandts Gegenüber, »das heißt, die sind gleich für die nächsten Monate lahmgelegt.«
Was noch nicht so dramatisch war, wie Hartlandt sich gemerkt hatte. Deutsche Regionalnetze waren üblicherweise von mehreren Seiten speisbar. Fiel eine Versorgungsleitung aus, existierte immer noch eine andere, die es belieferte. Der Ausfall zu vieler Schaltanlagen oder strategisch besonders wichtiger wäre allerdings wirklich schmerzhaft, zumal in der gegenwärtigen Situation.
»Hoffentlich nur die zwei?«
Doch Hartlandt hörte nicht mehr zu. Eben war eine neue Nachricht eingetroffen. Mitgeschickt hatte der Absender, einer der großen Netzbetreiber, einige Bilder.
»Seht euch das an«, forderte Hartlandt seine Kollegen auf.
Auf den Bildern lag das krakelige Gerüst eines Hochspannungsmasts quer über einem braunen Feld und erinnerte Hartlandt an das Untergestell einer Achterbahn. Einige seiner Arme ragten stummelig in den grauen Winterhimmel, von ihren Spitzen hingen die Kabelreste wie die abgerissenen Fäden einer gigantischen Marionette.
»Dieser Mast wurde durch eine Sprengung gestürzt«, stellte Hartlandt fest.
Den Haag
»Das heißt«, erklärte Bollard der Runde im Lagezentrum bei Europol, »dass da draußen jemand das Chaos des Stromausfalls nutzt, um nach der Software auch die Hardware des Stromversorgungssystems anzugreifen.« Er zeigte auf die Karte. »Gerade kam eine Meldung aus Spanien. Ebenfalls ein gesprengter Hochspannungsmast. Und wir wissen nicht, ob nicht bereits viel mehr Sabotageakte stattgefunden haben. Die Netzbetreiber und Stromversorger haben bei Weitem nicht genug Servicemannschaften zur Verfügung, um alle Anlagen und Trassen ausreichend zu kontrollieren. Bislang wurde erst ein verschwindend geringer Bruchteil davon untersucht.«
»Könnten es Trittbrettfahrer sein?«, schlug jemand vor.
»Oder jemand geht konsequent vor, um den größtmöglichen Schaden anzurichten«, entgegnete Bollard. »Die Attacken auf die Software waren vielleicht erst der Anfang. Zwar wissen wir noch nicht, wie sie genau ausgeführt wurden oder wer alles davon betroffen ist. Aber das sagen alle Studien zu dem Thema: Nach ein paar Tagen sollte es möglich sein, die Versorgung wieder rudimentär aufzubauen. Ganz anders dagegen sieht es aus, wenn strategisch wichtige Anlagen wie Schaltwerke oder Übertragungstrassen physisch zerstört werden. Manche dieser Elemente sind nicht so schnell zu reparieren, was die Wiederherstellung der Stromversorgung erschwert.«
Ratingen
»Die Argumente sind Quatsch«, ereiferte sich Wickley in der Talaefer-Zentrale. »Die Produzenten werden den Anwendern andere liefern müssen.«
An die Wand projiziert stand eine Reihe von Schlagworten:
• Wäschewaschen, wenn Tarife billig
• Geld verdienen mit der Autobatterie
• Individuelles Energiemanagement
»Ich möchte die Hausfrau und noch viel mehr die berufstätige Mutter sehen«, wetterte Wickley, »die ihre Waschmaschine nur bei besonders günstigen Tarifen einschaltet – oder vom System einschalten lässt. Das ist dann um zwei Uhr nachts, danach liegt die Wäsche noch vier Stunden feucht herum und müffelt bereits, wenn sie am Morgen aufgehängt wird. Weil man ja in der Früh nichts anderes zu tun hat, als Wäsche aufzuhängen …«
Zwei der Zuhörer im Raum nickten zustimmend, die anderen saßen abwartend da. Zur Durchsicht der Präsentationen hatte Wickley nicht nur Vertriebs- und Technikvorstand, Entwicklungschef und Leiter der Konzernkommunikation gebeten, sondern weitere Führungskräfte. Vier Mitglieder der Kommunikationsagentur waren ebenfalls anwesend. Für diesen Montagnachmittag hatten sie einen Termin vereinbart. Absagen war wegen der fehlenden Telefon- und Internetverbindungen nicht möglich gewesen. Deshalb hatten sich die vier aus Düsseldorf nach Ratingen bemüht.
»Außerdem werden die Konsumenten ganz schnell anfangen zu rechnen und dahinterkommen: Die Tarifunterschiede während des Tages sind so gering, dass es sich nicht auszahlt, seinen Lebensrhythmus davon bestimmen zu lassen. Ganz schnell werden sie beschließen: Wegen der fünf Euro Ersparnis pro Jahr tu ich mir das nicht an. Wir kennen das jetzt auch: Jeder weiß mittlerweile, dass der Stand-by-Betrieb von Fernsehern, Computern, Hi-Fi-Anlagen und anderen Geräten Strom frisst und Geld kostet. Von mehreren Dutzend Euro pro Haushalt pro Jahr ist die Rede. Und? Schalten die Leute deshalb aus? Nein. Die Bequemlichkeit siegt. Aber eigentlich ist das nur ein kleines Schlachtfeld im Gesamtkriegsschauplatz: individuelles Energiemanagement. Mit der großen neuen Freiheit will man den Konsumenten den Umstieg auf die neuen Technologien schmackhaft machen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Der Strom kommt aus der Steckdose. Seit Generationen. Darüber denken die Menschen nicht einmal nach. Sie erwarten es. Und sind glücklich darüber. Den Kopf zerbrechen müssen sie sich schon über genug andere Probleme: Wie bekomme ich meine Kinder morgens rechtzeitig in die Schule und schaffe es pünktlich zur Arbeit? Wer holt die Kinder nachmittags ab, geht mit ihnen zum Arzt, während mein Arbeitgeber von mir noch ein paar unbezahlte Überstunden verlangt? Wann gehe ich einkaufen, kümmere mich um die gebrechlicher werdenden Eltern, wie sorge ich für meine Rente vor, wie bezahle ich meine Kredite, ganz zu schweigen von allen Schwierigkeiten am Arbeitsplatz? Heutzutage einen ganz normalen Familienalltag zu managen erfordert Fähigkeiten, von denen sich viele unserer Vorstandskollegen eine Scheibe abschneiden könnten. Nur dass man dafür nicht so exorbitant bezahlt wird wie wir. Und die Senioren? Können nicht einmal ihr Handy oder ihren Computer ordentlich bedienen. Diesen Leuten will man jetzt auch noch zumuten, ihren Stromverbrauch per Mobiltelefon oder Computer aktiv zu managen? Wissen Sie, was ich an deren Stelle antworten würde? Sie können mich – na, Sie wissen schon. So etwas finden nur ein paar technikverliebte Ingenieure toll. Für den Rest der Menschheit ist das ein Albtraum!«
Den Umstand, dass die Smart Meter großartige Überwachungsinstrumente abgeben und zu wunderbaren Datensammlern werden konnten, weshalb Datenschützer schon Bedenken angemeldet hatten, sprach er lieber gar nicht an. Er stützte sich auf den Tisch ab, blickte in die Runde.
»Wir verlangen von den Menschen nicht weniger als einen Paradigmenwechsel. Der muss zuerst in den Köpfen stattfinden. Sonst wird die Energierevolution scheitern. Und mit ihr unsere Gewinnmöglichkeiten am Markt. Kein Mensch versteht heute, warum er sich plötzlich Arbeit mit etwas machen soll, was bis jetzt problemlos aus der Wand kam – und warum sie oder er dafür auch noch mehr bezahlen soll! Weder die Energieindustrie noch die Behörden haben bislang wirklich attraktive Argumente dafür. Und vielleicht ist es auch das falsche Konzept. Ich glaube, wir müssen unseren potenziellen Kunden in der Industrie mehr anbieten als nur Produkte. Sie brauchen die geeigneten Verkaufsargumente für die Konsumenten gleich dazu. Und zwar bessere, als wir sie heute hören und lesen. Das«, sagte er zu Hensbeck, »wird Ihre Aufgabe der nächsten Tage. Sie kennen unsere Produkte, sie kennen die Präsentationen. Schaffen Sie überzeugende Argumente, arbeiten Sie den wahren Nutzen für die Menschen heraus. Denn, glauben Sie mir, jene gern bemühte Freiheit der Wahl und des Selbstmanagements, die letztlich bei Warteschleifen und inkompetenten Beratern in Callcentern endet, die ist es nicht.«
Hensbeck nickte. Was hätte er auch sagen sollen? Die Aufgabe war klar.
Wickley wandte sich zu den Zeilen an der Wand um.
»Und was diese Präsentationen betrifft …«
Der Text verschwand. Im Raum war es so dunkel wie seit einer Stunde vor den Fenstern.
»Was ist jetzt …?«
Einer seiner Mitarbeiter nestelte an der Fernsteuerung für den Beamer. Ein anderer sprang auf und eilte zu den Lichtschaltern neben der Tür. Ihr Klacken blieb folgenlos. Wickley griff zum Hörer der Telefonanlage am Tisch, wählte die Nummer seiner Sekretärin. Kein Freizeichen erklang. Er versuchte es noch einmal. Die Anlage blieb tot.
Wickley stürmte aus dem Raum. Im Flur war es noch dunkler. Nirgends sah er Licht. Er hastete zu seinem Büro. Im Vorraum erkannte er die Silhouette seiner Sekretärin, die nervös auf dem Telefon herumtippte.
»Nichts geht«, erklärte sie.
»Zünden Sie Kerzen an!«
Sie schwieg.
»Wir haben keine«, gestand sie schließlich.
Wickley unterdrückte ein Fluchen. Der gesamte Kontinent hatte sich mittlerweile auf die Verhältnisse eingestellt, nur sie nicht!
»Dann besorgen Sie welche!«, bellte er und verließ das Zimmer wieder. Im Flur hörte er Stimmen. Die Besprechungsteilnehmer hatten den Konferenzsaal verlassen und irrten ziellos umher. Wickley ignorierte sie, steuerte die Fahrstühle an. Einige Personen schienen ihm zu folgen.
»James?«
Wickley erkannte die Stimme des Vertriebsvorstands.
»Ich such Lueck«, erklärte Wickley.
»Wir helfen dir.«
Natürlich waren auch die Fahrstühle außer Betrieb. Durch das stockdunkle Treppenhaus stieg er in den vierten Stock, wo das Gebäudemanagement saß. Hinter sich das Getrappel mehrerer Fußpaare.
Auf dem langen, finsteren Flur waren einige Menschen unterwegs, die er hörte, aber praktisch nicht sah.
»Wo ist Lueck?«, brüllte er in die Dunkelheit.
»Unten!«, kam es von einer Männerstimme zurück. »Im Keller, bei den Notgeneratoren!«
Wickley stieg weiter hinab. Unterwegs stieß er auf andere Mitarbeiter.
»Hat jemand Lueck gesehen?«
»Ich sehe seit ein paar Minuten gar nichts«, antwortete eine Frauenstimme.
Wickley ärgerte sich über die Frechheit, bis ihm klar wurde, dass ihn nicht jeder nur an der Stimme erkannte. Außerdem musste er sich eingestehen, dass er keine Ahnung hatte, wo sich die Notstromgeneratoren befanden. Inzwischen hatte er auch die Übersicht verloren, in welcher Etage er sich befand. Er ging einfach immer weiter, bis die Treppen zu Ende waren. Er tastete nach einer Tür, hinter der es nachtschwarz war.
»Lueck?«, brüllte er.
Keine Antwort. Wickley rief noch einmal.
Aus einer Tür am Ende des Flurs leuchtete der Strahl einer Taschenlampe.
»Hier«, hörte Wickley, da war er schon mit langen Schritten unterwegs.
Er fand Lueck, Bereichsleiter Katastrophenmanagement, in einem weitläufigen, beklemmend niedrigen Raum, der vollgestopft war mit Maschinen, Kabeln und Rohren, die im Schein der Taschenlampe lebendig schienen. Bei ihm waren zwei Männer in grauen Arbeitsanzügen mit dem Talaefer-Logo auf dem Rücken.
Lueck war ein drahtiger, kleiner Mann mit schütterem Haar und großer Brille.
»Was, zum Teufel, ist hier los?«, zischte Wickley, um Beherrschung bemüht. Im Licht von Luecks Taschenlampe sah er hinter sich Vertriebs- und Technikvorstand eintreten, ihnen folgten drei weitere, darunter Hensbeck und eine seiner Mitarbeiterinnen.
Lueck leuchtete auf einen großen Kessel im Hintergrund des Raums.
»Das Notstromaggregat ist kaputt«, erklärte er.
Wickley spürte, wie die Wut seine Schläfen erreichte.
»Wir sind einer der wichtigsten Ausrüster der Energieindustrie und haben selbst keinen Strom! Ist Ihnen klar, dass wir uns lächerlich machen?« Seine Stimme hallte zwischen all den Metallkonstruktionen wider.
»Die Notstromversorgung ist – war – für drei Tage angelegt. Wahrscheinlich wurde sie überlastet. Aber der Diesel war ohnehin fast alle«, erwiderte Lueck. »Die Einrichtung einer langfristig autonomen Energieanlage wurde vor drei Jahren abgelehnt. Aus Kostengründen, wenn ich mich recht erinnere.«
Dass der Kerl wagte, ihn darauf hinzuweisen! Leider erinnerte Wickley sich nur zu gut an die Vorstandssitzung, in der sie die fünf Millionen Euro für eine solche Anlage als hinausgeworfenes Geld betrachtet hatten. Nur der Vorstand, in dessen Bereich Sicherheitsfragen fielen, hatte dafür gestimmt. Er war nicht mehr im Unternehmen. Sonst hätte Wickley ihn jetzt fertiggemacht dafür, dass er seinerzeit nicht nachdrücklich genug für das Projekt eingetreten war. Das war schließlich seine Aufgabe als Führungskraft, strategisch wichtige Vorhaben auch gegen Widerstände durchzusetzen. Gut, dass sie sich von dem Versager getrennt hatten.
»Ich habe Ihnen am Samstag die Verantwortung dafür übertragen, wenigstens eine Grundversorgung zu sichern, bis die Stromnetze wieder liefern!«
»Wir brauchen Ersatzteile und Diesel«, entgegnete Lueck. »Weder die einen noch den anderen bekommen wir momentan.«
»Dann besorgen Sie mobile Notstromgeräte!«
»Die werden ebenso wie die Tanklaster woanders gebraucht.«
»Wer, bitte schön, soll wichtiger sein als eines der größten Unternehmen der Region?«
»Krankenhäuser, Notquartiere, Rettungsdienste, Technisches Hilfswerk …«, wandte Lueck mit provozierender Ruhe ein.
Wickley hasste Lueck dafür, dass er ihn gegen eine Wand von Argumenten laufen ließ, gegen die er nichts einwenden konnte. Aber im Augenblick war er auf den Mann angewiesen. Sobald das alles vorbei war, würde er sich den Typ vorknöpfen. »Sagen Sie den Behörden, dass wir unsere Mitarbeiter nach Hause schicken müssen.«
»Ein Viertel der Leute ist heute ohnehin nicht erschienen«, teilte Lueck ihm ungerührt mit. »Sie haben kein Benzin, und die öffentlichen Verkehrsmittel funktionieren nicht.«
Wickley überlegte kurz, dann sagte er, zu allen gewandt: »Heute wird das nichts mehr. Wir machen morgen weiter. Sagen wir vierzehn Uhr. Und Sie«, er wandte sich an Lueck, »sorgen dafür, dass hier morgen früh alles wieder läuft. Sonst sorgen Sie zukünftig bei Talaefer für gar nichts mehr.«
Berlin
Michelsen trank den fünfzehnten Kaffee an diesem Tag. Wie schon in den Nächten davor hatte sie auch in der letzten so gut wie nicht geschlafen. Seit der Bundeskanzler am Vorabend den Katastrophenfall erklärt hatte, kam sie kaum zum Essen. In der Einsatzzentrale drängten sich die Menschen, nachdem sie die Mannschaft deutlich erweitert hatten. Sie mussten alle rekrutieren, die sie erwischen konnten. Einige Mitarbeiter waren nicht mehr erschienen.
Michelsen telefonierte die meiste Zeit mit Verantwortlichen von Hilfsdiensten. Die Luft fühlte sich an wie feuchter Brei. In dem Stimmengewirr konnte Michelsen kaum ihre eigenen Worte verstehen. Das Technische Hilfswerk und die Bundeswehr hatten mit der Einrichtung von Notunterkünften begonnen. In allen deutschen Großstädten rüsteten sie Turnhallen, Veranstaltungszentren und andere geeignete Örtlichkeiten mit Matratzen, Feldbetten, Decken, mobilen Sanitäranlagen, medizinischer Grundversorgung und Lebensmitteln aus. Das konnte sie in ihrer Liste unter dem Punkt »Unterkunft« als positiv notieren.
In den betroffenen Gebieten war die Polizei mit Lautsprecherwagen unterwegs und forderte die Menschen auf, zu den Lagern zu kommen. Familien mit Kindern, Kranke und Alte genossen Vorrang. Vor allem die zweite und dritte Gruppe mussten die Beamten jedoch erst einmal finden. Viele alleinstehende Alte hörten die Lautsprecherwagen nicht. Oder sie waren zu schwach, ihre Wohnungen zu verlassen, erst recht nach zwei Tagen der Kälte, vielleicht ohne Nahrung und Wasser, ohne Fahrstühle. Wer keine Verwandten oder Nachbarn hatte, die sich kümmerten, war darauf angewiesen, dass Polizisten, die von Tür zu Tür gingen, sie fanden und ihnen erklärten, was sie tun sollten, oder einen der Rettungsdienste für einen Transport verständigten.
Zur gleichen Zeit installierte das Technische Hilfswerk im gesamten Bundesgebiet Notstromaggregate für neuralgische Einrichtungen wie lokale Behörden, große Arztpraxen, Landwirtschaftsbetriebe, doch sie hatten viel zu wenige davon, auch nur für die wichtigsten. Minuspunkte auf ihrer Liste bei »medizinische Versorgung« und »andere Infrastrukturen«. Die Brennstoffvorräte des Bundes wurden verteilt, viele Krankenhäuser standen bereits kurz davor, den Betrieb einstellen zu müssen, weil die Dieselvorräte für ihre Ersatzsysteme verbraucht waren.
Mit über fünfundzwanzig Millionen Tonnen strategischer Ölreserve lagerte die Bundesregierung ausreichend Rohöl und Erdölprodukte, um den deutschen Ölbedarf für etwa neunzig Tage zu decken. Während das Rohöl sich überwiegend in aufgelassenen Salzstöcken Niedersachsens befand, warteten die Fertigprodukte über das Bundesgebiet verteilt in überirdischen Tanks. Das bot den Vorteil, dass die Tanklastwagen die Schwerkraft zum Befüllen nutzen konnten, statt auf Pumpen angewiesen zu sein. Ihr Problem in den kommenden Tagen würde weniger die Menge des verfügbaren Treibstoffs sein als die Mittel – Tankwagen und Fahrer –, diesen auch rechtzeitig dort hinzubringen, wo er benötigt wurde.
Auch unter »International« hatte Michelsen wenig Erfreuliches festzuhalten. Im übrigen Europa ging es nicht anders zu. Noch schlimmer musste es für die Skandinavier sein. Während die Temperaturen in Deutschland rund um den Nullpunkt pendelten, hatte sich ein eisiges Russlandtief über den Norden gelegt. Stockholm etwa zählte achtzehn Grad unter null. Erst südlich der Alpen kletterte die Temperatur in den positiven Bereich. Im Kernkraftwerk Saint-Laurent waren die Notkühlsysteme fast oder ganz ausgefallen, so genau wusste das keiner. Bislang vor der Öffentlichkeit verborgen hatte die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien das Ereignis mittlerweile auf INES 2 hochgestuft. Es hieß, das Kraftwerk habe bereits radioaktiven Dampf ablassen müssen, um den Druck im Reaktor zu senken. Michelsen schob den Gedanken beiseite, dass bei Dieselmangel in ein paar Tagen zahlreichen Kraftwerken in ganz Europa diese Aussichten blühten. Ein Horrorszenario.
Deutsche Betreiber hatten angegeben, dass ihre Anlagen für mindestens drei weitere Tage ausreichend versorgt seien. Um Ersatzdiesel würden sie sich derzeit kümmern. Bei Bedarf würden sie auf den Bund zukommen. Wie zuverlässig diese Angaben waren, konnte Michelsen nicht sagen. Die Verbindung zu den örtlichen Behörden war weiterhin lückenhaft.
Auch die Punkte »Transport« und »Kommunikation« machten Michelsen keine Freude. Die Bahn kämpfte nach wie vor mit der Bergung liegen gebliebener Züge, manche wichtigen Strecken für Versorgungsfahrten waren immer noch nicht frei. Stellwerke und Weichen konnten nur händisch bedient werden. Personenverkehr hatte sie bis auf Weiteres eingestellt. Selbst in den Strominseln kam es zu zahlreichen Ausfällen und langen Verspätungen. Außerdem störte Michelsen die Tatsache, dass die Bevölkerung noch immer nicht über den Angriff auf die Stromsysteme informiert worden war. Bislang hatte man das Geheimnis gut hüten können, doch früher oder später würde die Bombe platzen.
Einen Lichtblick bildete die öffentliche Ordnung. Trotz der grauenhaften Zustände waren ihnen keine schweren Zwischenfälle gemeldet worden. Große Plünderungen oder massiv angestiegene Kriminalität blieben bislang aus. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass über die rudimentären Kommunikationsnetze längst nicht alle Informationen zu ihnen gelangten. Bei »Information« hatte sie vermerken müssen, dass Behörden und Hilfsdienste in rund vierzig Prozent des Bundesgebiets nicht, kaum oder nur mangelhaft untereinander und mit dem Krisenzentrum des Bundes kommunizieren konnten.
Verhältnismäßig gut funktionierte die Geldversorgung. Was wenig half, da fast alle Geschäfte geschlossen blieben. Michelsen befürchtete die Entstehung von Schwarzmärkten. Sie würden das Vertrauen in die offiziellen Stellen zusätzlich untergraben.
»Verdammt«, hörte sie Torhüsen aus dem Gesundheitsministerium neben sich fluchen. Sie sah, wie er sich aufrichtete und auf die Leiste mit den Bildschirmen starrte, über die einige der noch funktionierenden TV-Sender flimmerten. Erst jetzt bemerkte sie, dass auch die meisten anderen im Raum ihre Tätigkeiten unterbrochen hatten. Im Raum war es deutlich leiser geworden. Jemand drehte den Ton lauter.
»Da schau«, sagte Torhüsen, »auf CNN.«
Der Monitor zeigte eine junge Frau mit brünetten Haaren, die in die Kamera sprach. Die Einblendung stellte sie als Lauren Shannon, Den Haag, vor.
Im Tickerband am unteren Bildrand lief der immer gleiche Satz vorbei:
Europaweite Stromausfälle – Terrorangriff vermutet. Italien und Schweden bestätigen Manipulation ihrer Stromnetze.
Michelsen spürte, wie etwas in ihr brach. Jetzt erfuhren die Menschen die Ursache der Misere zuerst von einem Fernsehsender statt von den Behörden oder vom Bundeskanzler. Damit hatten die öffentlichen Stellen eine gewichtige Portion Vertrauen eingebüßt. Hoffentlich rächte sich das nicht in den kommenden Tagen.
»Zum Glück kann kaum noch jemand seinen Fernseher einschalten«, flüsterte Torhüsen.
»Diese Nachricht erfährt trotzdem jeder Mensch in diesem Land noch vor Mitternacht«, erwiderte Michelsen, ohne ihren Blick von den Bildern zu lösen. »Da kannst du sicher sein. Und ich will gar nicht wissen, was die stille Post daraus macht, bis sie bei der Mehrheit angekommen ist.«
Jetzt fehlte bloß noch die Berichterstattung über das havarierte französische Kernkraftwerk, dachte sie.
Düsseldorf
Der Bedienstete brachte Wickley zu Siegmund von Balsdorff, dessen Haus nach wie vor warm und hell war.
»Alter Freund«, begrüßte er Wickley mit ausgebreiteten Armen. »Welch überraschender Besuch.«
»Ich habe die Nachrichten gehört«, sagte Wickley.
»Wir alle haben das«, erwiderte von Balsdorff ernst.
»Wie lange weißt du schon Bescheid?«
»Seit gestern. Am Abend fand eine Sitzung der Regierung und des Krisenstabs statt. Einige von uns wurden per Satellit zugeschaltet.«
»Wie sieht es aus?«
Von Balsdorff starrte an ihm vorbei, überlegte.
»Sie wissen es nicht.«
»Hat es euch auch erwischt?«
»Ich habe es am Mittag erfahren, während ihr alle hier wart. Die meisten Netzbetreiber, die uns gehören oder an denen wir beteiligt sind. Auch Kraftwerke.«
»Die zwei Männer mit den Koffern, die nach deiner Kellerführung so dezent aufgetaucht sind?«
»Das Satellitentelefon. Für die Verbindung zur Zentrale und nach Berlin.«
»In den Nachrichten war von Italien, Schweden und einer noch unbekannten Anzahl von Netzbetreibern die Rede. Weiß man Genaueres?«
»Wen es erwischt hat, ja, im Wesentlichen. Wie genau, das schauen sich die Experten gerade an. Auch Kraftwerke melden ungewöhnliche Schwierigkeiten …«
Wickley spürte seinen Magen.
»Wir wurden nicht kontaktiert.«
»Einige haben wohl Schwierigkeiten beim Wiederhochfahren.«
»Unsere Techniker stehen bei Bedarf bereit, dafür haben wir gesorgt. Weiß man, wer hinter alldem steckt?«
»Großes Rätsel.« Er bemerkte Wickleys skeptischen Blick, zuckte mit den Schultern. »Scheinbar weiß es wirklich niemand.«
»Ein Ende absehbar?«
»Nicht wirklich.«
Den Haag
»Ich sollte den Vertrag mit Ihnen sofort auflösen!«, tobte Bollard. Vom Sofa in Manzanos Zimmer verfolgte Shannon die Diskussion.
»Ich habe kein Wort über meine Arbeit hier erzählt«, erklärte Manzano. »Wie es unsere Vereinbarung vorsieht. Ihre eigene Pressestelle hat Shannon einen Verdacht bestätigt.«
»Nachdem Sie ihr von den Codes in den italienischen Zählern erzählt hatten«, erregte sich der Franzose.
»Die habe ich schon vor unserer Zusammenarbeit entdeckt. Hätten die Journalisten etwas genauer recherchiert, hätten sie das auch schon früher gewusst. Ich hatte bereits in der ersten Nacht eine Anfrage in einem Technikforum im Internet gestellt. Das haben durchaus ein paar Leute diskutiert. Nur bis zu den Mainstreammedien und der breiten Öffentlichkeit ist es nicht durchgedrungen«, fuhr Manzano fort, »oder bestenfalls als entstelltes Gerücht. Die Dementis der Behörden taten das Übrige.«
»Damit ist es nun vorbei. Die meisten Regierungen und einige Elektrizitätsgesellschaften haben nach den Anfragen Ihrer Freundin« – er zeigte auf Shannon – »mittlerweile bestätigt.«
Über den Bildschirm des Fernsehers liefen die Bilder der Berichterstatter, die Shannons Geschichte aufgegriffen hatten. Seit dem späten Abend brachte fast jeder Kanal eine Sondersendung. Manzano fragte sich, wer die Programme noch sehen konnte. Zum Glück nur sehr wenige Menschen. Shannon hatte im Vorfeld ihre Kollegen gebeten, auch darüber zu berichten, dass es bislang nirgends in größerem Ausmaß zu sozialen Unruhen gekommen war.
»Alle erwarten jetzt Straßenkriegsbilder«, hatte sie ihnen erklärt. »Nachrichten von Mitmenschlichkeit sind die größere Überraschung und haben mehr Neuigkeitswert. Ganz abgesehen davon tun sie den Menschen besser als Aufnahmen von Randalierern.«
Doch die meisten Reportagen illustrierten mögliche Szenarien anschaulich mit Bildern vergangener Ereignisse oder aus Katastrophenfilmen. Dabei stürzten sie sich besonders auf die negativen Möglichkeiten wie Unruhen und Plünderungen, Tierkadaver und Menschenleichen.
Bollard seufzte.
»Was mache ich jetzt mit Ihnen?«
»Sie lassen mich weiterarbeiten. Oder schicken mich nach Hause.«
Bollards Kiefer mahlten.
»Wenigstens ist jetzt Schluss mit der Geheimnistuerei«, sagte er schließlich und verabschiedete sich mit diesen Worten.
»Da haben wir was losgetreten«, stellte Manzano fest. Er musste an Bondoni denken. Wie es ihm und den drei Frauen in den Bergen wohl erging? »Ich bin müde«, erklärte er.
»Ich auch.«
»Geh ruhig zuerst ins Bad.«
Während Shannon sich schlaffertig machte, verfolgte Manzano nachdenklich die Fernsehberichte. In T-Shirt und Shorts kam die Amerikanerin zurück. Manzano fragte: »Müsstest du nicht da draußen weiter Material sammeln?«
»Das Wichtigste habe ich getan«, antwortete sie. »Den Rest sollen erst einmal andere besorgen. So wie es aussieht, werden wir alle in den kommenden Tagen genug zu berichten haben. Wenn es dann noch jemand sehen kann.« Sie schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Danke. Dass ich hierbleiben kann. Und dass du mir heute alles erzählt hast.«
»Keine Ursache.«
Er wunderte sich immer noch ein wenig, dass sie so bedenkenlos die Nacht in einem Zimmer mit einem fremden Mann verbringen wollte. Sie könnte fast meine Tochter sein, überlegte er. Und sie sah gut aus.
Manzano ging ins Bad. Er spürte die Müdigkeit und fragte sich, wie lange die Notaggregate des Hotels noch Strom und eine heiße Dusche liefern würden.
Als er zurück ins Zimmer kam, lag Shannon bereits auf ihrer Seite des Bettes unter der Decke. Sie atmete tief und gleichmäßig. Leise schaltete Manzano den Fernseher aus, legte sich hin und fiel sofort in einen traumlosen Schlaf.