Rom
Auch in der vergangenen Nacht hatte Valentina Condotto kein Auge zugetan. Nun saß sie im Kontrollzentrum, nachdem die IT-Forensiker die Arbeitsplätze für einsatzbereit erklärt hatten. Noch war es draußen dunkel, doch aus den meisten Kraftwerken, die deaktiviert worden waren, kam die Meldung der Fehlerbehebung. Sie waren startbereit. Zudem stellten benachbarte Übertragungsnetzbetreiber in Österreich und der Schweiz an den internationalen Kuppelnoten schon Spannung bereit. Sie mussten ihre Netze nicht einmal schwarzstarten. Auf der großen Tafel färbten sich die ersten Linien an den nördlichen Grenzen grün. Von Knoten zu Knoten wurden die Leitungen zugeschaltet, ersetzte eine grüne Linie nach der anderen eine rote. Gleichzeitig breiteten sich die grünen Strahlen von einzelnen Kraftwerken aus und überzogen das ganze Land wie schnell wachsende Wurzeln.
Den Haag
»Die sind hier gut ausgerüstet«, erklärte Bollards Stimme, während seine Helmkamera die Bilder aus der Istanbuler Kommandozentrale übertrug. »Tatsächlich haben wir alle Verhafteten und die Toten auf unserer Liste. Einige von den Kontakten fehlen allerdings.«
Bollard las die Namen vor. Manzano und Shannon hörten ihm zu, wenn auch nicht ganz so aufmerksam wie Christopoulos und die übrigen Mitarbeiter in der Europol-Zentrale.
»Sagen sie denn etwas?«, fragte Christopoulos, betroffen darüber, dass sich zwei Landsleute unter der international besetzten Terroristengruppe befanden.
»Manche reden nur zu gern«, erwiderte Bollard. »Wenn auch wirres Zeug. Manches fanden wir ja schon in den diversen Veröffentlichungen. Es läuft darauf hinaus, dass sie eine neue Weltordnung aufstellen wollen, menschlicher, gerechter, fairer. Sie sind aber der Ansicht, dass diese nicht aus den bestehenden Verhältnissen geschaffen werden kann, sondern nur durch einen großen Knall. Anders würden die trägen, eingelullten, bequemen Menschen vor allem im Westen nicht zu aktivieren sein. Wir werden wohl noch eine ganze Weile brauchen, bis wir …«
»Seht hinaus!«, rief einer der Männer.
Marie Bollard starrte gedankenverloren in den winterlichen Garten, als der Kühlschrank plötzlich ein müdes Brummen von sich gab. Das Geräusch hielt an. Verwundert drehte sie sich um, dann näherte sie sich ungläubig dem Gerät, öffnete es. Drinnen leuchtete es. Hektisch drückte sie den Lichtschalter an der Wand daneben. Die Deckenlampe sprang an.
»Maman!«, hörte sie ihre Kinder aus dem Wohnzimmer rufen. »Maman!«
Sie lief hinüber. Die Stehlampen neben den Sofas strahlten. Georges betätigte die Fernbedienung des TV-Geräts. Auf dem Bildschirm erschien graues Rieseln, aus den Lautsprechern klang Rauschen. Bernadette spielte mit dem Lichtschalter für den Kronleuchter herum, knipste ihn ein und aus, ein und aus.
»Papa hat recht gehabt!«, rief Georges. »Der Strom ist wieder da!«
Hoffentlich bleibt das auch so, dachte Bollard. Im Haus gegenüber sah sie gleichfalls Lichter an- und ausgehen. Sie eilte zum Fenster, die Kinder folgten ihr, pressten ihre Gesichter gegen die Scheibe. So weit sie sehen konnten, flackerte es in den Häusern.
Bollard spürte, wie in ihrem Inneren ein großer, dunkler Stein zerbarst, sich in seine Bestandteile auflöste und verschwand, bis auf wenige Krümel des Zweifels, ob es wirklich vorbei war.
Aus den Häusern traten Menschen, sahen sich um, als sei eine Bedrohung, ein Feind verschwunden, obwohl doch im Gegenteil etwas zurückgekehrt war. Bollard erkannte Nachbarn, die sich um den Hals fielen. Mit jedem Arm umfasste sie eines ihrer Kinder, drückte sie fest an sich, spürte, wie die beiden sie an den Hüften umarmten.
»Kommt Papa jetzt auch nach Hause?«, fragte Bernadette, sah zu ihr hoch. Bollard drückte sie noch fester.
»Ja, das tut er. Sicher ruft er bald an.«
»Dann können wir endlich zu Oma und Opa nach Paris fahren«, sagte Georges.
»Ja, auch das werden wir tun.«
Manzano war mit den anderen zu den Fenstern gestürzt. Am Himmel hingen schwere Wolken und verdunkelten den Tag. Doch einige Fenster nahe liegender Häuser leuchteten auf. Niemand hörte mehr Bollard auf dem Bildschirm zu, nur Christopoulos rief ins Computermikro: »Der Strom ist zurück! Bei uns ist der Strom zurück!«
Immer mehr Fenster erstrahlten, in manchen ging das Licht wieder aus, blieb jedoch in anderen Fenstern desselben Hauses an, als ob die Menschen jeden Lichtschalter ausprobieren müssten, weil sie nicht glauben konnten, dass die Energie tatsächlich wieder floss. Für Minuten verwandelten sich die Straßen in willkürlich blinkende und flackernde Zeilen, die zunehmend heller wurden, doch Manzano konnte verstehen, dass die Menschen sich ihrer wiedergekehrten Welt erst versichern mussten.
Shannon war ebenfalls zum Fenster gestürzt und filmte das Ganze.
Reglos stand das Europol-Team da und verfolgte das Spektakel, bis Christopoulos Manzano umarmte und mit ihm singend durch den Raum zu tanzen begann. Auch andere Mitarbeiter drückten sich, schlugen sich auf die Schultern, jemand jubelte. Manzano beendete den Tanz lachend mit einem Hinweis auf sein verletztes Bein, in einem bunten Durcheinander umarmten sich alle. Niemand schien mehr die Müdigkeit zu spüren, sie benahmen sich wie Irre.
Nach vielleicht zehn Minuten endete das Lichterflackern draußen, stattdessen strömten die ersten Menschen aus den Häusern auf die Straße, fanden sich in Gruppen zusammen, unterhielten sich, gestikulierten aufgeregt.
»Großartig«, stammelte Shannon wiederholt, die Kamera beständig auf die Szenen gerichtet. »Ich muss raus«, sagte sie schließlich. »Das brauche ich aus der Nähe!«
Brüssel
Angström stand mit den anderen am Fenster und schaute auf die Stadt. In den Bürotürmen leuchteten vereinzelt Lichter auf, ebenso in den kleineren Wohnhäusern, die nicht evakuiert worden waren oder deren Bewohner sich geweigert hatten, sie zu verlassen. Leuchtreklamen sprangen an, die Schmuckleuchten an den Fassaden der Bürogebäude strahlten wieder. Ihre Kollegen lachten, redeten wild durcheinander. Telefone läuteten, doch für ein paar Minuten hob niemand ab. Angström musste an ihre Nacht im Gefängnis denken, an die amerikanische Journalistin und Piero Manzano. Seit ihrer Abreise nach Den Haag hatte sie nicht mehr mit ihnen gesprochen. Sie hatten nur eine Nachricht hinterlassen, dass sie gut angekommen waren, aber da hatte Angström zu Hause geschlafen. Heute Morgen hatte sie im Internet einen kurzen Exklusiv-Bericht von Shannon über die Ereignisse in Istanbul gesehen. Auch Manzano war kurz am Bildrand aufgetaucht. Abwesend klopfte Angström noch einer Kollegin, die sie umarmte, auf die Schulter, dann setzte sie sich an den nächstbesten Schreibtisch und wählte die Nummer ihrer Eltern in Göteborg. Die Leitung war besetzt. Sie versuchte ihre Schwester. Landete auf einem Anrufbeantworter, hinterließ eine kurze Nachricht.
Mehr und mehr Kollegen kehrten an ihre Arbeitsplätze zurück, begannen ebenfalls zu telefonieren. Wie Angström den Gesprächen entnahm, meistens mit Verwandten oder Freunden. Jeder wollte nun die erreichen, die ihm am wichtigsten waren. Auch sie wollte noch von einigen erfahren, ob bei ihnen alles in Ordnung war. Sie ging wieder in ihr eigenes Büro. Dort klingelte gleichfalls das Telefon. Sie hob ab.
»Hey«, hörte sie Piero Manzanos Stimme. »Wie geht es dir?«
Berlin
»Das große Aufräumen beginnt«, stellte Staatssekretär Rhess fest. Die Aufmerksamkeit der Runde hatte er. »Vorrangig ist dabei der Aufbau der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln und Medizin. Bei allen wird es nicht von heute auf morgen gehen, aber mehr dazu erklärt Ihnen die Kollegin Michelsen.«
Und ich darf wieder die schlechten Nachrichten überbringen, dachte diese.
»Mit einer einigermaßen stabilen Energieversorgung sind die Grundvoraussetzungen gegeben«, begann sie.
»Wieso nur einigermaßen?«, rief der Verteidigungsminister dazwischen. Er hatte seine Niederlage im Kampf um die Deutungshoheit noch nicht verwunden und behinderte die Arbeit, wo er konnte.
Michelsen ließ sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Bundeskanzler den Querulanten aus dem Kabinett beförderte.
»Weil durch den Stromausfall einige Anlagen schwer beschädigt wurden. Dadurch fehlen Kapazitäten. Andererseits ist die Nachfrage noch längst nicht so hoch wie vor dem Stromausfall, da viele Industriebetriebe ihre Produktion erst im Lauf der kommenden Tage und Wochen wieder werden aufnehmen können.«
Sie rief das Bild eines einfachen Wasserhahns, wie er in Millionen Haushalten zu finden war, auf die Monitorwand.
»In etwa siebzig Prozent des Bundesgebiets brach die Wasserversorgung völlig zusammen.«
Sie hatte das Bild einer Waschmittelwerbung gefunden, die den Schmutz in Toiletten als gruslige Comicfiguren darstellte, und blendete es nun ein.
»Wasser konnte nicht mehr verteilt und zu den Abnehmern gepumpt werden. Dadurch kommt es zu Lufteinschlüssen in den Leitungen, oder diese fallen überhaupt trocken. Das führt in verhältnismäßig kurzer Zeit zu einer Verkeimung der Leitungen. Soll heißen, Wasser, das nun durch diese Leitungen gepumpt würde, wäre gesundheitsgefährdend. Bevor das Wasserversorgungssystem in diesen Gebieten wieder verwendet werden kann, sind umfangreiche Reinigungsmaßnahmen nötig. Diese sind zeit- und personalintensiv, werden voraussichtlich mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Währenddessen muss die betroffene Bevölkerung weiterhin über Ausgabestellen versorgt werden.«
Von überquellenden Toiletten waren in den ersten Tagen des Ausfalls genügend Bilder gemacht worden, von denen sie nun eines aufrufen konnte. Einige Anwesende quittierten es mit Äußerungen des Ekels.
»Nicht besser sieht es mit der Entsorgung aus«, fuhr Michelsen ungerührt fort. Nur durch solche Bilder konnten sie den Leuten, die selbst in den vergangenen zwölf Tagen einigermaßen versorgt gewesen waren, deutlich machen, womit die Menschen im Land kämpften.
»Die meisten Toiletten konnten von der ersten Nacht an nicht mehr gespült werden. Zwar konnte man Wasser aus Flaschen, Regenwasser oder geschmolzenem Schnee nachschütten, doch spätestens in der Kanalisation reichte die Wassermenge nicht zum Weitertransport aus. Dadurch kam es sowohl zu Verstopfungen im häuslichen Bereich wie in der Kanalisation, die mittlerweile ebenfalls eingetrocknet sind. Hier wird es ordentliche Spül- und Reinigungsmaßnahmen erfordern, um die Systeme wieder problemlos einsetzen zu können. Die Verantwortlichen rechnen dafür – je nach Gebiet – mit wenigen Stunden bis zu ein paar Tagen, in seltenen Fällen vielleicht sogar Wochen.«
Bild einer Kläranlage.
»In der Abwasserwiederaufbereitung ist man auf kürzere Stromausfälle eingestellt. Die Hauptarbeit in den Kläranlagen leisten Bakterienkulturen. Sie sind starke Schwankungen gewohnt, nach einer so langen Periode sind ihre Bestände aber stark dezimiert und müssen neu in die Becken eingebracht werden. Angesichts der notwendigen Menge wird das ebenfalls ein paar Tage bis Wochen dauern.«
Aufnahmen verwüsteter, leer geräumter Supermärkte.
»Auch die Lebensmittelversorgung kann nicht so schnell wieder problemlos hergestellt werden. Die Bestände an Tiefkühlwaren sind verdorben, praktisch alle Frischware wurde während des Ausfalls ausgegeben oder geplündert. Konserven und länger haltende Nahrungsmittel sind nur beschränkt vorhanden. Viele Supermarktfilialen werden in den nächsten Tagen wieder öffnen, allerdings nach den notwendigen Aufräum- und Instandsetzungsarbeiten vorerst nur ein sehr beschränktes Sortiment anbieten. Auch in diesem Bereich werden die öffentlichen Stellen mit Unterstützung der Hilfsdienste noch für mehrere Wochen die Versorgung vieler Gebiete sicherstellen müssen.«
Bilder einer Geflügelfarm.
»Mindestens ebenso wichtig ist es aber nun, sich über die mittel- und langfristigen Folgen Gedanken zu machen und schnell Lösungen zu finden. Viele produzierende Unternehmen haben alles verloren, beispielsweise Viehzüchter. Abgesehen von den hygienischen Problemen, die bei der Entsorgung von Abermillionen Kadavern noch auf uns zukommen, werden wir in puncto Fleisch mehrere Jahre lang auf Importe angewiesen sein. Gleichzeitig müssen aber die heimischen Unternehmen unterstützt werden, um eine eigene Produktion wieder aufnehmen zu können. Dasselbe gilt zum Teil für die Glashauszucht von Obst und Gemüse. Deutschland ist hier nicht ganz so schlimm betroffen wie andere Staaten, etwa die Niederlande oder Spanien, nichtsdestotrotz gibt es auch bei uns zahlreiche Geschädigte. Sie sehen, wir stehen weiterhin vor gewaltigen Aufgaben. In vielen Fällen wäre es von Vorteil, wenn die Menschen so lange in den Notquartieren blieben, bis die reguläre Versorgung in ihren Wohngebieten angelaufen ist. Ganz wichtig wird in diesem Zusammenhang die Kommunikation mit der Bevölkerung sein. Denn sie wird eine normale Versorgung wie vor dem Stromausfall wesentlich schneller erwarten. Die Psychologie dürfen wir nicht unterschätzen: Der Strom ist zurück, also muss unser altes Leben doch auch wieder funktionieren. Wir bereiten umfangreiche Kommunikationsmaßnahmen vor, um die Bevölkerung über die wahre Lage aufzuklären und sie zu beraten, wie sie sich verhalten soll, bis der Normalzustand tatsächlich wiederhergestellt ist.«
Michelsen fragte sich, wer das alles finanzieren sollte. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise waren praktisch alle europäischen Staaten hoch verschuldet bis bankrott. Für staatliche Unterstützungs- und Förderprogramme existierte eigentlich kein Geld. Die Folgen für die Finanzwirtschaft waren noch nicht abzusehen. Doch die würde später noch der Kollege vom Finanzministerium erläutern.
Den Haag
»Die Terroristen sind gefasst«, verkündete Shannon auf dem Bildschirm. »Noch kann niemand die Folgen des Angriffs abschätzen. Aber schon jetzt steht fest, dass es sich um den schwersten Terroranschlag der Geschichte handelt. Die Opferzahl in Europa und den USA geht in die Hunderttausende, vielleicht Millionen. Die wirtschaftlichen Schäden betragen Billionen, an ihnen werden die betroffenen Volkswirtschaften noch lange zu tragen haben.«
Shannon hatte sie auf Kosten des Senders in einem der besten Hotels Den Haags einquartiert. Jeder von ihnen in einem eigenen Zimmer. Manzano genoss die frische Bettwäsche, das Bad, Momente der Ruhe. Nun lag er auf dem Bett, frisch geduscht, in den weichen Bademantel gehüllt, den das Hotel überraschend schnell zur Verfügung gestellt hatte, und freute sich für Shannon. Das war ihr Moment. Als erste Journalistin der Welt konnte sie von der Verhaftung berichten und dazu exklusives Hintergrundmaterial liefern. Er war fasziniert von ihrer Erscheinung. Obwohl sie seit Nächten kaum geschlafen und die vergangene durchgearbeitet hatte, sah sie aus wie nach einem Wellnessurlaub. Oder hatte ihr eine Stylistin geholfen?
»Wer sind die Verbrecher, auf deren Konto so viel Leid und Elend geht? Was sind ihre Motive?«
Hinter ihr wurden nacheinander die Porträts der Verhafteten und Toten gezeigt, die während der Ermittlungen in Bollards Kommandozentrale gehangen hatten, nur jetzt mit schwarzen Balken vor den Augen.
»Noch nennen die Behörden keine Namen« – und Shannon tat es auch nicht, obwohl sie könnte, dachte Manzano –, »doch erste Spuren deuten auf einen eigenartigen Mix radikaler Anarchisten, die im Kapitalismus, in der modernen Technik und unfähigen, korrupten Politikern die Totengräber von Menschlichkeit, Gerechtigkeit und Umwelt sehen. Geeint wurden sie wohl von einem fanatischen Hass auf unser Gesellschaftssystem, wobei es scheinbar gleichgültig war, woher dieser stammte, und dem Drang, es zu vernichten. Ich bin jetzt mit dem leitenden Ermittler von Europol verbunden, der an der Verhaftung der Täter teilgenommen hat.«
In einem Fenster wurde Bollard aus Istanbul zugeschaltet.
»Herr Bollard, was sind das für Menschen, die so etwas tun?«
»Das werden unsere Untersuchungen in den nächsten Tagen ergeben. Unter den Verhafteten finden sich Personen, die man gemeinhin sowohl dem linksradikalen Spektrum zurechnen würde, als auch solche, die ganz weit rechts eingeordnet werden könnten. Die Mehrzahl kommt aus Elternhäusern, die man in der Mitte der Gesellschaft ansiedeln würde, alle besitzen einen hohen Bildungsgrad.«
»Zeigen diese Profile vielleicht, dass so ein Schubladendenken längst überkommen ist und gesellschaftliche Wirklichkeiten nicht mehr abbildet?«
»Vielleicht. Unter Terroristen aller Lager findet man einen Typ besonders häufig, unabhängig von weltanschaulichen Präferenzen: Wir nennen ihn den Typ des ›Gerechten‹. Er oder sie – zu den Attentätern zählen auch Frauen – ist der festen Überzeugung, im Besitz der allein selig machenden Wahrheit zu sein. Was eigentlich nicht so schlimm wäre, jeder von uns kennt jemanden, der so denkt. Explosiv wird diese Eigenschaft, wenn solche Menschen zudem überzeugt sind, ihre Wahrheit mit jedem nur denkbaren Mittel durchsetzen zu dürfen. Zur Erreichung ihres vermeintlich höheren Ziels nehmen sie auch unschuldige Opfer in Kauf.«
»Wurden alle Täter verhaftet, wie viele sind es, und wo und wann werden sie vor Gericht gestellt?«
»Dazu kann ich Ihnen jetzt noch keine Antworten geben. Ich vermute, jedes betroffene Land wird sie anklagen. Wo tatsächlich Prozesse stattfinden werden, ist heute noch nicht absehbar.«
»Vielleicht ja sogar hier in der nächsten Nachbarschaft von Europol, beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag.«
»Wer weiß.«
Istanbul
Die Fernseher am Flughafen hatten ihm alles verraten. Nur wenige Stunden nach dem Sturm auf das Gebäude brachten die ersten Sender Bilder. Zu seiner Enttäuschung auch aus Mexico City. Damit nicht genug, war in weiten Teilen Europas und der USA der Strom zurück. Nun, sie würden sich noch wundern.
Jetzt saß er, nur ein paar Stunden nach Ende des Ausfalls, in einem Flugzeug von Istanbul nach Den Haag. Die Fluggesellschaften hatten ihre Linienflüge nach Europa, wenn auch nicht alle, so schnell wie möglich wieder aufgenommen.
Sie hatten es anders geplant. So, wie es begonnen hatte. Kein Strom mehr, nirgends. Mindestens drei bis vier Tage hatte er gerechnet, bis in dem Chaos jemand die Ursache der Ausfälle herausfinden würde. Mindestens zwei Wochen, bis die Leitstellen der Netze nach den Blue Screens wieder einsatzbereit wären. Für die Entdeckung der SCADA-Manipulationen hatte er mehrere Wochen veranschlagt. Wenigstens einen Monat lang sollte Europa nach der ersten Welle ohne Strom sein. Wäre dieser Italiener nicht gewesen. Kurz war sein Gesicht über den Bildschirm vor ihm geflimmert. Um diesen Italiener hätten sie sich früher kümmern müssen. Gleich nachdem er Europol auf die Idee mit den Smart Metern gebracht hatte. Und konsequenter. Wer konnte ahnen, dass der Kerl so hartnäckig bleiben würde. Brachte sie womöglich nun um die Früchte ihrer jahrelangen Arbeit und die Welt um ihre Chance auf einen Neuanfang. Dafür sollte er bezahlen. Er musste sich eingestehen, dass er diese Angelegenheit persönlicher nahm, als es professionell gewesen wäre.
Er wusste nicht, wer die vorgesehene zweite Welle zuletzt blockiert hatte. Er selbst hatte den Befehl gestern gesendet, irgendwann gegen Mittag. Blieb also noch etwas Zeit. Gerade genug, um den Italiener zu finden. Er wusste ja, wo er ihn suchen musste.
Den Haag
Zusammengekrümmt saß Marie Bollard vor dem Computer und durchstreifte das Internet nach Neuigkeiten aus Saint-Laurent. Seit den ersten TV-Bildern, die einige Sender vor ein paar Stunden auf die Mattscheibe brachten, suchte sie mal auf den Fernsehkanälen, mal auf dem Computer, hing ihr Blick an irgendeinem Bildschirm in der verzweifelten Hoffnung, etwas über das Schicksal ihrer Eltern herauszufinden, zunehmend aber auch gebannt von der Fülle an Katastrophenmeldungen, die sie nach und nach entdeckte, auch aus den USA. Zum ersten Mal wurden ihr die verheerenden Ausmaße wirklich bewusst.
Die Nachlese der Diskussionen über einen möglichen Weltkrieg ließ sie schaudern. Tagealte Bilder von den Explosionen in Saint-Laurent, Berichte und Newsticker ließen sie verzweifeln, Meldungen über die Evakuierungen wieder hoffen, ihre und François’ Eltern wären rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden. Aus Dutzenden Städten kamen austauschbare Bilder der Verwüstung, die aufgebrachte Bewohner und Randalierer zurückgelassen hatten. Improvisierte Massengräber, brennende Berge verendeten Viehs, kilometerhohe Rauchsäulen über Industrieanlagen, schießende Panzer. Und wozu das Ganze? Über die Motive der Terroristen gab es bislang nur wilde Spekulationen. Immer wieder versuchte sie die Telefone von Verwandten, Freunden, Bekannten in Frankreich und anderen Ländern, doch die Leitungen waren überlastet oder blieben noch tot. Auch über das Internettelefon erreichte sie niemanden.
Dazwischen fand sie immer wieder aktuelle Aufrufe und Informationen der Behörden. Die Rückkehr zur Normalität stand zwar bevor, würde aber nicht so schnell voranschreiten, wie die Menschen es erhofften. Warum dauerte denn das alles so lange? Der Strom war doch wieder da! Sie vertiefte sich erneut in die Berichte aus Frankreich.
Ratingen
»Wir konnten die Herkunft des Schadcodes in dem SCADA-Widget inzwischen rückverfolgen«, erklärte Dienhof. »Dragenau hat ihn bereits im letzten Jahrtausend eingebaut.«
»So lange hat er den Coup vorbereitet?«, fragte Hartlandt.
»Das werden wir nie erfahren. Vielleicht war es nur eine Fingerübung. Oder er wollte damals schon etwas in der Hinterhand haben, um sich vielleicht einmal für die Übernahme seiner Firma zu rächen.«
»Warum ist die Manipulation nie aufgefallen?«
»Dragenau suchte sich einen günstigen Zeitpunkt aus. Erinnern Sie sich an die Y2K-Hysterie kurz vor der Jahrtausendwende? Alle Computer würden wegen des Datumswechsels abstürzen. Wir hatten kräftig zu tun, weil unsere Entwickler in früheren Jahren natürlich auch an vielen Stellen ein zweistelliges Jahr programmiert hatten. Es wurden fast alle unserer Programme in der einen oder anderen Form modifiziert. Die Prüfer und die Tester konzentrierten sich auf den Jahrtausendwechsel. Letztendlich trat die vorhergesagte Katastrophe nicht ein. Aber die IT-Berater haben sich eine goldene Nase verdient. In diesem Durcheinander wurden die paar Zeilen übersehen. Und auch danach nie gefunden.«
»Er ließ ihn elf Jahre lang ruhen.«
»Wie die Terroristen genau auf Dragenau kamen, werden wohl die Ermittler herausfinden. Wahrscheinlich haben sie verschiedene Insider bei mehreren Firmen angesprochen. Ein riskantes Unterfangen, wenn Sie mich fragen, aber offensichtlich hat es geklappt.«
»Womöglich war Dragenau gar nicht über die Tragweite der Pläne informiert«, wandte Hartlandt ein. »Vielleicht sah er nur seine Zeit gekommen, seine Rache auszuüben. Und jemand bot ihm genug Geld an.«
»Auf jeden Fall bereitete er die Aktivierung des Codes wenige Tage, bevor er nach Bali abreiste, über Hintertüren vor, die er ebenfalls vor Jahren darin versteckt hatte. Zur Stichzeit begannen sie, die Instrumente verrücktspielen zu lassen.«
»Viel hat er von seinem Verrat nicht gehabt«, bemerkte Hartlandt.
Dienhof schüttelte zustimmend den Kopf.
»Danke, Herr Dienhof«, sagte Hartlandt. »Auch dafür, dass Sie so schnell bereinigte Versionen zur Verfügung gestellt haben.«
Er wandte sich an Wickley, der Dienhofs Ausführung mit versteinerter Miene gefolgt war.
»Und was Sie betrifft: Für einen Haftbefehl hat es nicht gereicht. Aber für den Versuch, die Entdeckung des Schadcodes zu verheimlichen, sehen wir uns sicher vor Gericht wieder.«
Hartlandt reichte Dienhof zum Abschied die Hand. Wickley schenkte er nicht einmal ein Nicken. Jetzt hatte er noch ein Gespräch zu führen, auf das er nicht scharf, das ihm aber ein Bedürfnis war.
Den Haag
»Manzano«, meldete er sich am Telefon in seinem Hotelzimmer.
Der Concierge erklärte: »Ein Herr Hartlandt für Sie.«
Manzano zögerte einen Moment, dann sagte er: »Stellen Sie durch.«
Der Deutsche begrüßte ihn auf Englisch, erkundigte sich nach seinem Befinden.
»Jetzt besser«, antwortete Manzano misstrauisch. Was wollte der Mann von ihm, dessen Mitarbeiter ihn angeschossen und der ihm mit Vernehmungen durch die CIA gedroht hatte?
»Sie haben verdammt gute Arbeit geleistet«, sagte Hartlandt. »Ohne Sie hätten wir so manches nicht geschafft. Oder zumindest nicht so schnell.«
Manzano schwieg überrascht.
»Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe danken. Und Sie um Entschuldigung bitten dafür, wie wir Sie behandelt haben. Aber zu diesem Zeitpunkt …«
»Entschuldigung angenommen«, erwiderte Manzano. Er hatte nicht erwartet, in seinem Leben noch einmal von Hartlandt zu hören. »Es war eine außergewöhnliche Situation. Wir haben uns alle nicht immer ganz vernünftig verhalten, schätze ich.«
War er jetzt zu versöhnlich gewesen? Sollte er den anderen so einfach davonkommen lassen?
»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Hartlandt.
»Danke. Wir werden es alle brauchen. Sagen Sie Ihrem Kollegen, er soll das nächste Mal nachdenken, bevor er auf einen Menschen schießt.«
»Ich denke, wir haben unsere Lektion gelernt.«
»Ich wünsche auch Ihnen alles Gute.«
Berlin
»Noch liegen uns keine verlässlichen Zahlen über Opfer vor«, erklärte Torhüsen vom Gesundheitsministerium. »Erste Schätzungen gehen für die Bundesrepublik jedoch von einer hohen fünfstelligen bis niedrigen sechsstelligen Zahl unmittelbarer Toter aufgrund des Ausfalls aus.«
Michelsen spürte, wie für einen Augenblick alle im Raum den Atem anhielten.
»Wie gesagt, das sind vorläufige Zahlen. Wir können nicht ausschließen, dass sie noch beträchtlich steigen. Für ganz Europa müssen wir womöglich mit mehr als einer Million rechnen. Noch nicht erfasst sind dabei mögliche Opfer von Langzeitschäden, etwa durch unbehandelt gebliebene chronische Erkrankungen – Herz, Diabetes, Dialysepatienten – oder durch radioaktive Verstrahlung. Im Umkreis von zehn Kilometern rund um das Kernkraftwerk Philippsburg mit seinem havarierten Abklingbecken wurde eine gesundheitsschädlich hohe Strahlenbelastung gemessen. Ob die Bevölkerung rechtzeitig evakuiert wurde, werden erst die nächsten Jahre und Jahrzehnte zeigen – falls sich jemand die Mühe machen wird, die individuellen Krankheitsgeschichten zu erfassen. Wir reden immerhin von Zehntausenden Menschen, die betroffen sein könnten. Auch wird die Zukunft erst zeigen, ob die evakuierten Gebiete in absehbarer Zeit wieder bewohnbar sein werden. Um die Anlagen Brokdorf und Grohnde wurden erhöhte Werte gemessen, genauere Informationen dazu liegen uns aber noch nicht vor. Nicht auszuschließen auch hier, dass es zu Spätfolgen kommen wird und Absiedelungen notwendig werden.«
Torhüsen wechselte von den Bildern der Atomkraftwerke zu jenen von Friedhöfen mit großen Flächen frisch aufgeschütteter Erde.
»Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt ist die Entsorgung der menschlichen Leichen. In der Not wurden in den vergangenen Tagen Verstorbene in anonymen Massengräbern bestattet. Hier wird es noch zu zahlreichen Kontroversen kommen mit Angehörigen Vermisster, vermutlich werden viele Leichen exhumiert und aufwendig identifiziert werden müssen.«
Die Aufnahmen leer gefegter, verwüsteter Krankenhäuser stammten aus Berlin.
»Schneller, wenn auch nicht von heute auf morgen, kann der Betrieb in Krankenhäusern wieder aufgenommen werden. Wichtig wird hier die Wasser-, Lebensmittel- und Medikamentenversorgung sein. Mittelfristig müssen wir uns auf Engpässe bei diversen Medikamenten einstellen, die zwar noch auf Lager sind, aber deren Produktionsketten unterbrochen wurden und erst wieder etabliert werden müssen. Wir gehen momentan davon aus, dass in etwa einer Woche ein Großteil der Bevölkerung wieder medizinisch versorgt werden kann. Auch Arztpraxen können ihren Betrieb weitestgehend wieder aufnehmen, wenn auch mit Einschränkungen und verkürzten Sprechzeiten. Die Apotheken können ebenfalls binnen der nächsten Tage geöffnet und beliefert werden.«
Den Haag
Lachend zielte Shannon mit der Kamera auf Manzano. Sie schaute kurz bei ihm vorbei. Viel Zeit hatte sie nicht.
»Du bist ein Held!«, rief sie. »Jetzt wirst du berühmt!«
Manzano hob die Hand vor das Gesicht. »Lieber nicht.«
»Aber ein Interview bekomme ich doch, oder?«
»Warum drehen wir den Spieß nicht um? Ich befrage dich. Immerhin hast du den Computer gerettet, über den wir RESET gefunden haben.«
Schon wieder klingelte Shannons Mobiltelefon. Sie wechselte ein paar Worte mit dem Anrufer, steckte das Gerät weg.
»Ich werde ohnehin die ganze Zeit genervt«, maulte sie kokett.
»Du bist die Berühmtheit«, sagte er.
»Ich bin nur die Überbringerin der Botschaft.«
Sie bremste ihre Ausgelassenheit ein wenig, ließ sich auf das Sofa fallen und musterte ihn nachdenklich. »Was ist?«, fragte sie.
»Was soll sein?«
Mit einem Mal verlor ihre Stimme die Überdrehtheit, wurde sanft, aber bestimmt.
»Sorry, wir haben so viel gemeinsam durchgemacht, da kann ich nicht übersehen, dass dich etwas beschäftigt.«
»Vielleicht das, was wir durchgemacht haben?«
Wenn ihr Kopf so rot war, wie er sich heiß anfühlte, sah das nicht gut aus, dachte sie peinlich berührt. Immer noch war sie sich über ihre Gefühle für Manzano nicht im Klaren. Sie waren sich sehr nahegekommen während ihrer Odyssee, in vielerlei Hinsicht. Doch wenn sie ganz tief in sich hineinhorchte, musste sie sich eingestehen, dass sie für ihn eher empfand wie für jenen großen Bruder, den sie nie gehabt hatte.
Er musste ihre Verlegenheit bemerkt haben.
»Ich meinte, was wir gesehen und erlebt haben. Die Folgen dieses irren Angriffs, was die Menschen durchmachten.«
Fast ein wenig gekränkt und doch erleichtert erwiderte sie: »Das werden wir alle so schnell nicht vergessen.«
Er nickte, blickte zum Fenster hinaus. »Eines verstehe ich nicht«, sagte er. »Diese Frauen und Männer betrieben einen ungeheuren Aufwand, um die Attacke durchzuführen. Der Gedanke beschäftigt mich schon die ganze Zeit.«
Kann der nie abschalten?, dachte Shannon.
»Ich frage mich, wann sie ihr Ziel als erreicht betrachtet hätten. Oder ob sie überhaupt schon so weit waren. Die Pamphlete und Manifeste, die sie veröffentlicht haben, reden von einer gerechteren, solidarischeren Ordnung, die aber nur durch einen völligen Neustart zu erreichen sei. RESET. Das System auf null zurücksetzen. Wenn sie uns die Grundlagen unserer Zivilisation nehmen, so die Idee, müssten wir alles neu organisieren. Wir kennen zwar die langfristigen Auswirkungen noch nicht, aber um unsere Ordnung völlig umzukippen, dauerte der Zustand nicht lange genug an. In den meisten betroffenen Staaten sind nach wie vor die gewählten Regierungen an der Macht, richten sich die herkömmlichen Strukturen wieder ein. Zwölf Tage waren nicht genug. Konnten sie das ahnen? Hatten sie vor, die Ausfälle länger anhalten zu lassen? Ich überlege die ganze Zeit, wie ich anstelle dieser Wahnsinnigen vorgegangen wäre …«
Theatralisch zitierte Shannon: »Könnte einer von uns sein …«, den Dialog von B.tuck und Tancr auf RESET. Manzanos schmale Lippen und den finsteren Blick hatte sie erwartet. Bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: »Bist du aber nicht. Deshalb weiß ich nicht, ob du …«
»Wenn ich so weit gegangen wäre wie diese Typen«, setzte Manzano seine Überlegungen fort, »hätte ich Vorkehrungen getroffen für den Fall, dass ich vorzeitig erwischt werde. Ich hätte dafür gesorgt, dass meine Ziele trotzdem erreicht werden. Sieh dir die Aufnahmen von den Verhaftungen und danach an. Im Gegenteil, auf mich wirken sie fast zufrieden, wenn nicht sogar triumphierend?«
»Wahrscheinlich wollten sie einfach nur berühmt werden wie alle anderen Massenmörder auch. Das ist ihnen gelungen, und das wissen sie auch.«
Er schüttelte den Kopf, betrachtete den Boden, als stünde dort die Antwort seiner Fragen.
»Ich habe ein schlechtes Gefühl«, widersprach er. »Als ob da noch was ganz anderes kommt.«
»Weißt du was?«, sagte Shannon. »Ich soll nach Brüssel fahren, habe dort ein paar Termine mit Spitzenpolitikern …«
»Du bist jetzt eine gefragte Frau.«
»Vielleicht bekomme ich ja auch Sonja vor die Kamera. Immerhin konnten wir dank ihr RESET entdecken. Hast du Lust mitzufahren? Da kommst du auf andere Gedanken.«
Istanbul
»Was hätten Sie anstelle der Angreifer gemacht?«, fragte Bollard. Sein Raum hatte sogar ein Fenster, vor dem sich die Sonne rot glühend über die Dächer der Stadt senkte.
»Ich kenne den jüngsten Stand der RESET-Analysen nicht«, erwiderte Manzano auf Bollards Computerbildschirm. »Wurden die Elemente der Schadprogramme schon rekonstruiert?«
»Erst Teile davon.«
»Betreffen sie die Angriffe der vergangenen Wochen?«
»Wissen wir noch nicht. Es handelt sich um Tausende Abstimmungsgespräche mit Softwareentwicklern und Millionen von Codezeilen. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Die bisherigen Angriffe scheinen alle am ersten Tag ausgelöst worden zu sein. Oder haben wir inzwischen Hinweise darauf, dass die Terroristen laufend die Systeme manipulierten?«
»Nein.«
»Sie haben mich gefragt, was ich anstelle der Angreifer gemacht hätte: Nun, ich hätte dafür gesorgt, dass die Angriffe weitergehen können, auch wenn ich sie nicht mehr durchführen kann. Ich hätte Zeitbomben in den Stromsystemen versteckt, die hochgehen, sobald die Netze wieder laufen und ich sie nicht selbst erneut abschalten kann.«
Bollard starrte ein paar Sekunden auf den Monitor. Die Terroristen hatten in ihrer Konversation so unrecht nicht gehabt: Manzano dachte wie sie. Oder er war bloß paranoid, nach allem, was er durchgemacht hatte?
»Bei meinem ersten Besuch auf RESET stieß ich auf eine Unterhaltung, in der von einer Hintertür die Rede war«, fuhr Manzano fort. »Wozu eine Hintertür, wenn man schon drin ist?«
»Um hineinzukommen, wenn alle glauben, dass die Systeme wieder sicher sind …«, vervollständigte Bollard Manzanos Gedankengang.
Manzano zuckte nur mit den Schultern.
»Ich bin doch sicher nicht der Erste, der sich so etwas denkt«, sagte Manzano. »Gibt es schon Spuren von Pucao, Jusuf und von Ansen?«
Bollard antwortete mit einer Gegenfrage: »Sie glauben, dass es noch nicht vorbei ist?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Italiener. »Ich fahre jetzt nach Brüssel. Von dort melde ich mich wieder.«
Der Bildschirm wurde schwarz.
Dann wählte Bollard zum wiederholten Mal seinen Kontakt beim französischen Roten Kreuz.
»François«, begrüßte ihn das faltige Gesicht unter den grauen Haaren. »Tut mir leid, wir haben deine Eltern und Schwiegereltern noch nicht gefunden.«
Orléans
Die meisten Einquartierten drängten sich im Eingangsbereich der Halle. Manche strebten bereits den Ausgängen zu, ihre Habseligkeiten in Koffern und auf den Schultern, die Kinder an den Händen. Die anderen versuchten, einen der Militärs, Beamten und Helfer am Empfang zu erreichen. Annette Doreuil und Vincent Bollard mussten ihre gesammelten Kräfte einsetzen, um vorwärtszukommen.
»Nein!«, rief ein Soldat einigen Personen weiter vorne zu, laut genug, dass auch Doreuil und Bollard es verstanden. »Vorläufig darf niemand in die Sperrzone zurück!«
Die Nachricht von der Rückkehr der Elektrizität hatte sich schnell herumgesprochen. Nachdem die Ersten von draußen zurückgekehrt waren und von den beleuchteten Fenstern der umliegenden Häuser berichtet hatten, strömten alle hinaus, um sich selbst zu überzeugen, dann setzte der große Aufbruch ein. Vergeblich mühten sich die Verantwortlichen damit ab, die Menschen aufzuhalten. Aufgeregt schnatternd flüchteten viele geradezu. Nicht alle Bewohner des Notquartiers stammten aus der Evakuierungszone, wie sie während der vergangenen Tage erfahren hatten. Viele wohnten in irgendwelchen Hochhäusern von Orléans, die aus hygienischen Gründen geräumt worden waren. Ob dort schon wieder Wasser floss? Auch Doreuil sehnte sich nach einer Dusche in ihrem eigenen Bad.
»Aber wo sollen wir denn sonst hin?«, riefen einige.
»Hierbleiben!«, erklärte der Soldat.
»Hier bleibe ich keine Sekunde länger«, rief Doreuil ihrem Begleiter zu, um den Lärm zu übertönen.
Vincent Bollard antwortete nicht. In seinen Augen konnte sie die Angst lesen, nie wieder nach Hause zurückkehren zu dürfen.
»Nach Paris sind es nur hundertdreißig Kilometer! Da müssen wir doch irgendwie hinkommen. Wenn der Strom wieder da ist, kann man wieder tanken, ein Taxi nehmen oder einen Wagen mieten. Ich zahle jeden Preis. Oder es fahren wieder Züge.«
Bollard wiegte zweifelnd den Kopf.
»In unserer Wohnung ist es auf jeden Fall angenehmer als hier!«, schrie sie. Wie selbstverständlich hatte sie »unsere« gesagt, merkte sie. Noch hatte sie sich nicht daran gewöhnt, dass Bertrand nicht mehr lebte. Sie ertrug den Gedanken nicht, allein zu sein.
»Celeste und du, ihr kommt selbstverständlich mit!«, rief sie Bollard zu. Sie zog ihn am Arm aus dem Getümmel, in die Schlafhalle, wo es vergleichsweise ruhig zuging.
Celeste Bollard saß auf ihrem Bett und bewachte die verbliebenen Habseligkeiten des Trios.
Doreuil schilderte ihren Beschluss: »Ihr wohnt bei uns – bei mir –, bis ihr wieder in euer Haus dürft.« Dann packte sie hastig ihre Sachen.
Schweigend sahen ihr die Bollards zu. Schließlich legte Celeste Bollard ihren Koffer auf das Feldbett und verstaute ihre Kleidung darin.
Berlin
»Wir haben den Zorn der Bürger selbst miterlebt«, erinnerte Rolf Viehinger aus dem Innenministerium. »Die Zahl der Plünderungen, Einbrüche, Diebstähle und noch schwererer Verbrechen ist nicht einmal ansatzweise erfasst und wird es wahrscheinlich nie. In mindestens zwanzig Gemeinden und Landkreisen wurden – wenn auch erst in den letzten drei Tagen – die gewählten Vertreter beziehungsweise die öffentlichen Behörden von Teilen der Bevölkerung aus ihren Funktionen gezwungen. Wie zu erwarten war, waren die Täter jedoch noch weniger in der Lage, für Ordnung oder Sicherheit zu sorgen, in manchen Fällen wird das auch gar nicht ihr Ziel gewesen sein. Uns liegen sogar Berichte von Selbstjustiz bis hin zu Lynchmorden vor. Verifizieren konnten wir diese allerdings noch nicht. Die offiziellen Sicherheitskräfte versuchen zurzeit in diesen Gebieten wieder ihre Funktionen einzunehmen. Im Allgemeinen scheint das relativ gut zu laufen. Manche der neuen Herren setzen sich aber auch noch zur Wehr. Kein Wunder, sie haben mit entsprechenden rechtlichen Konsequenzen zu rechnen. Diesbezüglich steht die Justiz mittel- und langfristig vor einem Riesenproblem, für das wir eine Lösung finden müssen. Die Verfolgung aller Straftaten, die während des Ausfalls begangen wurden, würde unseren Justizapparat auf Jahre hinaus blockieren. Wir müssen hier also entweder massiv und sehr schnell Personal aufstocken, was ich allerdings für unrealistisch halte, oder einen anderen Weg finden, damit umzugehen.«
»Eine Generalamnestie für mindere Delikte, zum Beispiel«, warf der Justizminister ein. »Die müsste bald erlassen werden, damit die Bürger so schnell wie möglich wieder Rechtssicherheit besitzen. Denn«, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu, »das Gefühl der Sicherheit in allen Belangen wiederherzustellen ist das Gebot der Stunde. Entschuldigen Sie«, sagte er zu Viehinger und bedeutete ihm, seinen Vortrag fortzusetzen.
»Noch eine Weile beschäftigen wird uns das Einfangen der entflohenen Strafgefangenen«, fuhr Viehinger fort. »Erste Schätzungen reden von knapp zweitausend Delinquenten. Rund ein Viertel davon gilt als hochgefährlich. Dabei werden wir auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen sein. Die Kommunikation dazu erfordert allerdings höchste Sensibilität. Schließlich dürfen sich die Menschen nicht von Schwerverbrechern umzingelt wähnen, sollten aber auch nicht versuchen, auf eigene Faust vorzugehen.«
Er machte eine Pause, trank einen Schluck Wasser.
»Wird das so einfach?«, fragte der Außenminister. »Die Menschen haben sich daran gewöhnt, Eigeninitiative zu ergreifen. Werden sie sich Vorgaben öffentlicher Stellen beugen, wenn diese ihre Aufgabe nicht hundertfünfzigprozentig erfüllen können?«
»So viel Eigeninitiative war da nicht«, relativierte Viehinger. »Etwa ein Drittel der Bevölkerung saß zuletzt in Notquartieren, die ihnen zur Verfügung gestellt wurden, achtzig Prozent gingen zu den Wasser- und Lebensmittelverteilstellen, verließen sich also auf die Organisation durch den Staat. Die meisten Menschen werden in den kommenden Wochen, Monaten, ja sogar Jahren, ausreichend damit beschäftigt sein, die Folgen der Katastrophe zu bewältigen. Denn dass die langfristigen Folgen mindestens ebenso verheerend sein können, steht außer Zweifel.«
Brüssel
Lachend umarmte Manzano den alten Mann.
»Ich war noch nie in Brüssel«, erklärte Bondoni grinsend. »Da dachte ich, das ist doch die Gelegenheit.« Er klopfte Manzano auf die Schulter. »Schlecht siehst du aus, Junge! Stimmt es, was man von dir hört? Du hast die Terroristen quasi im Alleingang besiegt?«
»Ich bin nicht einmal in ihre Nähe gekommen«, erwiderte Manzano. Er drückte auch Bondonis Tochter, die mit ihrem Vater die Luxussuite im Hotel teilte, bis das Wasser in ihrer Wohnung wieder lief.
»Deine Freundinnen sind auch gesund zurückgekommen?«
»Tadellos.«
»Darf ich dir Antonio Salvi vorstellen?«, sagte Bondoni und schob einen dünnen Mann mit noch dünneren Haaren vor, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte. »Sein Sender zahlt das hier alles« – er deutete in den Raum –, »auch den Flug im Privatjet von Innsbruck. Er möchte eine Reportage über mich machen. Irgendwie hat er erfahren, dass mein alter Fiat dich nach Ischgl gebracht hat, von wo du …«
Manzano schüttelte die Hand des Journalisten. Seit gestern hatten dessen Kollegen aus der ganzen Welt ununterbrochen im Den Haager Hotel angerufen und nach ihm verlangt. Er hatte gebeten, die Gespräche nicht mehr auf das Zimmer durchzustellen. Wusste der Teufel, woher sie sein Quartier kannten. Zum Glück lag sein Mobiltelefon noch in Deutschland, wo dieser Hartlandt Manzanos Wagen und Gepäck konfisziert hatte. Bollard hatte bereits angekündigt, dass er für eine Rückführung sorgen wollte. In Brüssel hatte ihn noch kein Reporter aufgespürt.
»Vielleicht darf ich ja auch Ihnen ein paar Fragen …«, setzte Salvi an, mit einem Seitenblick auf Shannon, die bisher kaum etwas gesagt hatte.
Jetzt legte sie einen Arm um Manzanos Schulter, zog ihn zu sich. »Nicht bevor ich ihn vor der Kamera hatte …«
»Und wie war es in den Bergen?«, lenkte Manzano ab.
»Wie erwartet«, antwortete Bondoni, »besser als an den meisten anderen Plätzen. Wasser, Essen, Holzfeuer, charmante junge Frauen, alles da. Ich habe den ganzen modernen Kram nicht vermisst.«
»Deshalb bist du sofort per Privatjet in dieses Luxushotel hier umgezogen«, antwortete Manzano lachend. Es geht doch nichts über ein bisschen moderne Annehmlichkeiten, nicht?«
Bondoni wackelte unwillig mit dem Kopf. »Wo ist denn die reizende Schwedin, die du uns entführt hast?«
Orléans
Annette Doreuil und die Bollards schleppten ihre schweren Taschen und Koffer durch die eisigen Straßen der Stadt. Verstreuter Müll bedeckte Bürgersteige und Fahrbahnen und verpestete die Luft. Die öffentlichen Verkehrsmittel fuhren noch nicht, nur Polizeiautos und Panzerwagen des Militärs. Sie passierten Tankstellen, an denen sich bereits lange Warteschlangen bildeten, obwohl in vielen Stationen kein Licht leuchtete. Lokale, Cafés oder Imbisse hatten noch geschlossen. Sie hatten noch kein einziges Taxi ausfindig gemacht. Zu einem Autoverleih hatten sie sich durchgefragt, doch dort war niemand. Was hatten sie erwartet?
Am Hauptbahnhof bevölkerten Tausende Menschen die Halle unter dem doppelt geschwungenen Glasdach. Die Läden waren geschlossen, auch hinter den Schaltern entdeckte sie niemanden.
Erschöpft stellten sie ihr Gepäck ab. Celeste Bollard würde es bewachen, während Vincent und sie herausfinden wollten, ob die Bahn Verbindungen nach Paris anbot.
Nach einigem Fragen erfuhr Doreuil, dass anfangs zwar Züge in unregelmäßigen Abständen gefahren waren, seit einer Woche jedoch kein einziger mehr. Allerdings behaupteten Gerüchte, dass noch heute einer nach Paris gehen sollte. Doch wusste niemand, wann, ob man Tickets benötigte und woher man die bekommen sollte, und überhaupt blieben es Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt niemand bestätigen konnte. Anderes Gerede behauptete, dass auch Paris zur Sperrzone erklärt worden sei, wegen einer radioaktiven Wolke, und dass deshalb sicher keine Züge in die Hauptstadt gelassen würden.
»Nichts Konkretes herauszufinden«, stellte Vincent Bollard enttäuscht fest, als sie sich wieder trafen. »Der Strom ist zwar wieder da, aber noch nicht das Bahnpersonal.«
»Alles abzuschalten ging schnell«, sagte seine Frau. »Jetzt wieder alles in Schwung zu bringen dauert wohl etwas länger. Da haben wir uns zu früh gefreut.«
Berlin
Staatssekretär Rhess hatte in den zwölf vergangenen Tagen sicher sechs Kilogramm abgenommen, dachte Michelsen, als er aufstand.
»Zuerst einmal eine gute Nachricht. Die Kommunikationssysteme funktionieren wieder in weiten Teilen der Republik. Wir alle durften bereits mit Angehörigen und Freunden telefonieren, konnten Nachrichten im Internet lesen oder im TV sehen. Das erleichtert in der gegenwärtigen Situation vieles. Wobei auch auf diesem Gebiet gerade in den nächsten Tagen einiges auf uns zukommen wird. In den ersten Stunden dürfen wir mit aufgeregter Berichterstattung über das Ende des Stromausfalls rechnen. Wir müssen außerdem möglichst viele Informationen zur Selbsthilfe bekannt geben beziehungsweise zur Wasser- und Lebensmittelversorgung. Doch sobald die Medien über das volle Ausmaß der Katastrophe berichten, werden Beschwerden und Kritik zunehmen. Für die Regierung wie für alle staatlichen Institutionen liegt darin eine ebenso große Gefahr wie Chance. Viele Fragen werden auftauchen. Warum waren unsere Systeme so angreifbar? Welche Verantwortung tragen die Energieunternehmen, und mit welchen Konsequenzen müssen sie rechnen? Warum waren die Notfallsysteme so unzureichend? Warum ging dem Behördenfunk der Saft schon nach wenigen Stunden aus? Wie konnten die Angreifer ihre Tat so lange so unbeachtet planen? Warum brechen die Telefonnetze nach kürzester Zeit zusammen – trotz gegenteiligem Gesetzesauftrag? Wie konnte es zu den Katastrophen in den Kernkraftwerken kommen, die doch alle die Stresstests bestanden hatten? Wie intelligent sind die intelligenten Stromzähler und das zukünftige intelligente Stromnetz wirklich – und vor allem: Wie sicher sind sie? Warum muss bereits heute jeder deutsche Haushalt bei Neubau oder Renovierung Smart Meter einbauen, ohne dass die Stromversorger deren absolute Sicherheit garantieren müssen? Kann man den Umbau der Energienetze auf einer solchen Basis verantworten?«
»Darüber wird sicher zu diskutieren sein«, warf die Umweltministerin ein. »Allerdings dürfen wir das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. Ausgeschaltet wurde das bestehende System. Es bietet demnach nicht mehr Sicherheit als mögliche zukünftige. Eigentlich kann es nur besser werden, oder nicht?«
»Ich bin nicht hier, um Position zu beziehen«, erwiderte Rhess ruhig, »sondern auf die erwartbaren Diskussionen vorzubereiten. Diese wird eine sein.«
Brüssel
Angström merkte, dass sie zu laut und zu viel lachte, aber nach dem fünften Glas Wein war ihr das egal. Fleur van Kaalden, Chloé Terbanten, Lara Bondoni und Lauren Shannon würde es nicht auffallen, sie hatten teils noch mehr getrunken. Immer wieder amüsierten sie sich über die Geschichte, wie der italienische Journalist über Bondoni an Manzano und Shannon herankommen wollte und dafür von seinem Sender sogar einen Privatjet hatte chartern lassen, der sie nach Brüssel gebracht hatte.
Das Hotel hatte den Betrieb schnell wieder aufnehmen können. Vor allem die Alkoholreserven waren während des Ausfalls nicht verbraucht worden, also lehnten sie an der Bar, kippten übermütig den Inhalt ihrer Gläser hinunter. Laras Vater war nach dem – noch bescheidenen – Essen zu Bett gegangen. Der italienische Journalist hatte bei jeder von ihnen sein Glück versucht, gerade bearbeitete er van Kaalden. Angström war das nur recht. Wie schon an dem Abend in der Skihütte hatte sich ihre Freundin während des gesamten Essens an Manzano förmlich herangeschmissen. Dabei sah er wirklich schrecklich aus. Die Narbe an der Stirn, in der immer noch Nähte steckten, die scharfen, fast ausgemergelten Gesichtszüge. Solange er nicht ging, bemerkte niemand seine Beinverletzung, der nicht davon wusste. Immerhin hatte er sich rasiert. Wenn sie daran dachte, in welchem Zustand er vor zwei Tagen bei ihr aufgetaucht war.
Van Kaalden und der italienische Reporter lehnten an der Bar, die anderen tanzten. Angström wunderte sich nicht, dass die Menschen sich so fröhlich benahmen, als wäre nichts geschehen. Heute wollten sie die Angst, die Qual, die Verzweiflung der vergangenen Wochen wegfeiern.
Manzano sah ihnen zu. »Würde ich jetzt auch gern«, sagte er und leerte sein Glas. »Aber ich bin müde. Wie Laras Vater. Ich bin ein alter Mann.«
»Ich werde mich ebenfalls auf den Weg machen«, entgegnete Angström und merkte, als sie sich von dem Barhocker löste, wie schwindelig ihr war. Sie tupfte van Kaalden kurz an die Schulter, winkte ihr und dem Journalisten zu. Von den anderen Tänzerinnen verabschiedete sie sich nicht.
Auf dem Weg hinaus in die Hotellobby sagte Manzano: »Ich muss dich noch einmal um Entschuldigung dafür bitten, in was ich dich hineingezogen habe. Ich … wusste nicht, wohin ich sonst hätte gehen können.«
»Ich hätte euch nicht mit ins Büro nehmen müssen«, erwiderte sie. »Ein Glück, dass ich es getan habe.«
»Bekommst du ein Taxi?«, fragte er.
»Bestimmt. Die Tankstellen pumpen wieder. Bloß unsere Wasserleitung im Haus noch nicht.« Sie lachte. »Aber das bin ich inzwischen ja gewohnt.«
»Du kannst bei mir duschen«, bot Manzano grinsend an. »Wäre nicht das erste Mal.«
»Du willst mich bloß auf dein Zimmer locken.«
»Selbstverständlich.«
Sie hatten den Hotelausgang erreicht, vor dem tatsächlich ein paar Taxis warteten. Zum Abschied umarmten sie sich. Küssten einander. Noch einmal. Angström spürte seine Hände auf ihrem Rücken, ihren Schultern, fand ihre eigenen an seinen Hüften, seinem Hals. Ohne voneinander zu lassen, hasteten sie zum Fahrstuhl, achteten nicht auf die anderen Gäste, drängten in der zweiten Etage über den Flur, wo Manzano die Schließkarte aus der Hose nestelte und die Zimmertür öffnete. Er schob sie, sie zog ihn hinein, ihre Hände unter seinem Pullover, seine in ihrer Bluse, an ihrem Po, sie stolperten in der Dunkelheit, fielen fast hin. Angström fing sich, fand die Karte noch in seiner Hand, schob sie in den dafür vorgesehenen Schlitz neben der Tür, der den Stromkreislauf im Zimmer aktivierte.
Mit einem leisen Klicken sprang dezentes, warmes Licht an.
»Wenn wir es schon haben«, flüsterte sie, während er ihren Hals küsste. »Ich möchte dich sehen.«
Seine Hand tastete nach dem Schalter, dimmte das Licht fast bis zum Verschwinden. »Aber wir sollten sparsam damit umgehen. So ein schöner Anblick bin ich gerade ohnehin nicht.«
Sie küsste neben die Narbe auf seiner Stirn.
»Das wird wieder.«
Berlin
Michelsen und einige Kollegen hatten ein Auto mit Fahrer der Bereitschaft ergattert, der sie zum ersten Mal seit über einer Woche nach Hause brachte. Sie war die Letzte auf seiner Route.
Die Fahrt durch die Stadt fand sie gespenstisch. An den meisten Fassaden leuchteten wieder die Reklamen, Geschäftsnamen, Firmenlogos. Auf den Bürgersteigen türmten sich die Müllsäcke streckenweise mannshoch. Viele waren aufgerissen, ihr Inhalt quoll auf die Straße. Tüten häuften sich auch auf der Fahrbahn und tauchten unvermittelt im Scheinwerferlicht des Wagens auf. Dazwischen streunten Hunde und Ratten herum.
In vielen Häusern schien Licht aus den Fenstern. Die Menschen hatten es nicht erwarten können, die Notquartiere zu verlassen und in ihr Zuhause zurückzukehren. Schon ab morgen, dachte Michelsen, würden ihr Ärger und ihre Enttäuschung wachsen, wenn sie feststellen müssten, dass kein Wasser lief und die Supermärkte geschlossen blieben. Zwar hatten sie über Rundfunk dazu aufgerufen, vorläufig noch in den Lagern zu bleiben. Aber wer konnte es den Menschen verübeln? Sie selbst war gerade unterwegs zu ihrer Wohnung. Allerdings wusste sie, dass sie am nächsten Tag im Ministerium von einer funktionierenden Toilette und Dusche bis zu Nahrung alles vorfinden würde.
Vor ihnen ragten am Straßenrand eigenartig gebogene Streben zwischen zwei Autowracks meterweit hoch. Rippen, erkannte Michelsen im Vorbeifahren, gigantische Rippen eines Tierkadavers!
»Was war das?«, rief sie dem Fahrer zu. Für ein Rind war es viel zu groß gewesen.
»Die Überreste eines Elefanten aus dem Tiergarten, soviel ich gehört habe«, erwiderte er ungerührt. »Viele der Tiere sind in den vergangenen Tagen aus dem Zoo geflüchtet.«
Sie musste an die Giraffe mit ihren Jungen denken.
»Die meisten wurden von Hungernden geschlachtet«, fuhr der Fahrer fort. Konnte man Elefantenfleisch essen?, fragte sich Michelsen erschüttert.
Im Radio liefen Nachrichten. Die meisten europäischen Staaten hatten in weiten Teilen eine Grundversorgung wiederhergestellt, und langsam sprachen sich die großen Katastrophen bis zu den Sendern durch. Über die Tragödie von Saint-Laurent und das Desaster in Philippsburg hatten die ersten bereits gegen Mittag berichtet. Nun, dachte Michelsen, sie werden in den nächsten Tagen keinen Mangel an schrecklichen Neuigkeiten haben. Von den Chemieunfällen in Spanien, Großbritannien, Deutschland, Polen, Rumänien und Bulgarien über die zahllosen und vielfältigen menschlichen Katastrophen bis zu den langfristigen Folgen. Aus den USA kamen ähnliche Meldungen.
Der Fahrer hielt, sie vereinbarte eine Uhrzeit zum Abholen für den nächsten Morgen. Als sie ausstieg, trafen sie ein paar kalte Regentropfen im Gesicht. Sie fand eine Lücke zwischen den stinkenden Müllhaufen und war mit ein paar schnellen Schritten im Haus.
Die Luft in ihrer Wohnung war kalt und klamm, roch abgestanden. Das Licht funktionierte. Eigentlich war es nicht viel anders, als würde sie von einem längeren Urlaub heimkehren, fand Michelsen. Sie war froh, nach dem Dauerstress im Krisenzentrum wieder einmal allein zu sein. Aus dem Büro hatte sie ein paar Wasserflaschen mitgenommen. Mit zweien davon spülte sie die Toilette.
Sie spürte, dass sie noch nicht schlafen konnte. Sie öffnete eine Flasche Rotwein, schenkte sich ein Glas ein, stellte sich in der dunklen Küche ans Fenster. Sie nahm einen tiefen Schluck, blickte hinaus in die Nacht, auf die Lichter der Stadt, die vor ihren Augen zu verschwimmen begannen. Ein Zittern ging durch sie, das sie nicht mehr beherrschen konnte, bevor sie hemmungslos zu weinen begann und nicht mehr damit aufhören konnte.
Den Haag
Umgezogen, erklärte der Portier. In ein anderes Hotel, was er denn von dem Italiener wolle. Er erzählte, er sei Reporter. Ob der Portier nicht wüsste, dass dieser Manzano eine Rolle bei der Aufklärung gespielt habe. Nicht so wichtig, wie diese amerikanische Journalistin es darstellte, aber immerhin. Ah ja, mit der ist er weg. Ob er ihm das Hotel nennen könne, er würde den Mann gern interviewen. Das würden viele gern, antwortete der Portier. Irgendwann verbat er mir, die Anrufe durchzustellen. Und dann zog er aus. Warum? War ihm Ihr Haus nicht gut genug? Kann schon sein, sagte der Portier. Jetzt, da alle wieder Strom haben. Ja, so sind sie, die Stars, nicht wahr? Der Portier zuckte mit den Schultern. Zur Schmeichelei musste er ihm noch einen Hundert-Euro-Schein auf den Tresen legen, damit der Mann Manzanos neues Quartier verriet. Er nahm ein Taxi.
Dem Desk Manager des Nobelladens erzählte er, er sei ein Kollege von Lauren Shannon. Sie habe ihn hierherbestellt. Der Mann gab sich irritiert. Hat sie Ihnen denn nichts gesagt?, fragte der Manager. Sie fuhr heute nach Brüssel. Nein, das Zimmer in unserem Haus hat sie behalten. Was mache ich denn jetzt, sie muss vergessen haben, mich zu informieren. Sie würden mir sehr helfen mit der Anschrift des Hotels in Brüssel.
Der Manager schrieb eine Adresse auf.