Ratingen
»Der Italiener und seine amerikanische Freundin sind verschwunden«, erklärte Hartlandt mit einem Seitenblick auf Pohlen. »Auch von Dragenau haben wir nichts wirklich Neues.«
Er sah in die Runde. Dienhof war da, die restliche Führungsriege der Talaefer AG, sogar Wickley.
»Die balinesischen Behörden haben den Tatort- und den Obduktionsbericht geschickt. Demnach wurde Dragenau am Auffindungsort erschossen, zwei Projektile in Brust und Bauch. Sein Hotelzimmer war durchsucht worden, bevor die Polizei es gefunden hatte. Keine Fingerabdrücke, vielleicht DNA, aber wer weiß, wie sorgfältig das Reinigungspersonal dort ist und von wie vielen vorherigen Gästen da noch Material herumliegt. Dragenaus Ausweis fehlte, Geld und Kreditkarten sind ebenfalls verschwunden.«
Er gab diese Einzelheiten mit Absicht bekannt, denn er hatte noch mehr zu berichten: »Allerdings gibt es ein hochinteressantes Detail: Dragenau war nicht Dragenau. Zumindest nicht im Hotel. Dort checkte er nämlich als Charles Caldwell ein. Sagte jemandem der Name etwas?«
Die versammelte Runde schüttelte ihre Köpfe.
»Warum sollte er das tun?«, fuhr Hartlandt fort. »Meine These ist, dass Dragenau unser Mann ist. Er ist nicht nach Bali gefahren, um Urlaub zu machen. Sondern um unterzutauchen. Zu seinem – und unserem – Unglück haben ihm seine Komplizen oder seine Auftraggeber nicht getraut. Deshalb musste er zum Schweigen gebracht werden. Schlecht für uns, denn nun kann er uns nichts mehr sagen. «
»Das sind doch nur Spekulationen«, ereiferte sich Wickley. »Und wenn der Tote tatsächlich Charles Caldwell ist? Warum sollte Dragenau denn so etwas tun?«
»Geld?«, schlug Hartlandt vor.
»Verletzter Stolz«, warf Dienhof ein. »Späte Rache.«
Wickley warf ihm einen bösen Blick zu.
»Weshalb?«, fragte Hartlandt nach. »Er gehörte zu den Schlüsselkräften des Unternehmens. Wofür sollte er sich rächen?«
»Vor vielen Jahren«, seufzte Wickley, »noch als Technikstudent, gründete Dragenau eine Firma für Automationssoftware. Er war ein brillanter Kopf, aber ein schlechter Kaufmann. Trotz seiner ausgezeichneten Produkte kam er nie richtig ins Geschäft. Eine Weile war er ein Konkurrent, aber auf Dauer hatte er gegen Talaefer keine Chance. Ende der Neunzigerjahre verkaufte er an uns und wurde Chief-Architect. Als solcher trieb er die Entwicklung neuer Geschäftsfelder technologisch voran.«
»Ich verstehe nicht, wofür er sich rächen sollte«, wandte Hartlandt ein. »Klingt, als hätte er Kasse gemacht und auch noch einen Job bekommen, der ihm Spaß bereitete.«
»Kasse gemacht hat er nicht. Seine Firma war hoch verschuldet, nicht zuletzt wegen verschiedener Rechtskonflikte mit Talaefer. Der Kauf seiner Firma war in erster Linie ein strategischer, um Dragenaus Kopf zu bekommen. In den folgenden Jahren hat sich das auch mehr als ausgezahlt. Ihm verdankt die Firma zahlreiche ausgezeichnete Entwicklungen.«
»Einen enttäuschten, in den Bankrott getriebenen Konkurrenten als Mitarbeiter betrachteten Sie in Ihrer Branche nicht als extremes Sicherheitsrisiko?«, fragte Hartlandt ungläubig.
»Anfangs schon«, antwortete Wickley. »Aber über die Jahre fiel er einfach so positiv auf, dass sich die Zweifel irgendwann zerstreuten. Er stand sogar als kommender Entwicklungschef zur Diskussion.«
»Tja, wie es aussieht, könnten Sie sich in ihm getäuscht haben. Sie und wir konzentrieren unsere Untersuchungen vorerst auf jene Bereiche, auf die Dragenau Zugriff hatte.«
Zwischen Köln und Düren
Shannon öffnete die Augen und blickte in die Asche. Dazwischen glühten noch ein paar orange Nester. Dahinter schlief Manzano, atmete schwer.
Auf seinem bleichen Gesicht glänzte der Schweiß. Durch die Lücken im Dach leuchtete blauer Himmel.
Shannon blieb liegen und dachte über ihre Situation nach. Sie lag in einer schäbigen Holzhütte, in einem Land, dessen Sprache sie weder verstand noch sprach. Draußen herrschte Winter, neben ihr lag ein Verletzter. Man hatte ihr das einzige Transportmittel gestohlen. Sie hatte weder zu essen noch Wasser. Fernsehen und andere Medien funktionierten nicht, mit denen sie sich über die allgemeine Lage informieren konnte. Dasselbe galt für Telefone, um Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen oder Hilfe anzurufen.
Shannon spürte Panik in sich hochsteigen. Sie kannte das Gefühl von früher, aus der Schule, als sie gedacht hatte, Prüfungen nicht zu schaffen, von ihren Reisen, als sie kein Ziel mehr gehabt hatte oder kein Geld. Aber sie hatte gelernt, damit umzugehen. Sie wusste, was sie tun musste: nicht wie das Kaninchen vor der Schlange erstarren, sondern den ersten Schritt setzen. Etwas tun, sich bewegen, auf das Ziel hin.
Welches Ziel?
Leise richtete sie sich auf, legte einen Pfosten auf die Feuerstelle, blies behutsam, bis erste Flammen daran züngelten. Manzano atmete noch schwerer, wachte aber nicht auf. Shannon schlich hinaus und erledigte hinter der Hütte ihr morgendliches Geschäft. Die Felder und Wäldchen der Umgebung hatte der nächtliche Frost mit einer weißen Schicht überzogen, die in der Sonne glitzerte. Einen Atemzug lang fühlte sie sich leicht.
Shannon konnte nicht einschätzen, wie weit sie sich am Vorabend noch von dem räuberischen Hofbewohner entfernt hatten, Gebäude entdeckte sie jedoch nirgends.
Sie spürte ihren trockenen Mund und lehnte sich gegen die Holzwand, die von der Morgensonne aufgewärmt war, schloss die Augen und genoss das Kitzeln der Strahlen im Gesicht. So stand sie eine Weile da, versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, einen Plan zu fassen. Eine Richtung zu finden. Bis vorgestern waren ihre Ziele klar gewesen. Die beste Story aus dieser ohnehin unglaublichen Geschichte zu holen. Ihr wurde bewusst, wie gut es ihr in den vergangenen Tagen noch ergangen war. Hunderte Millionen Europäer lebten seit Beginn des Ausfalls unter diesen Bedingungen, die jeden Tag schlimmer wurden. Für sie waren sie bislang nur Gegenstand von Reportagen gewesen, bis sie in ihr geheiztes Hotelzimmer hatte zurückkehren dürfen. Sie horchte in sich hinein. Welche Neuigkeit wollte sie noch erfahren? Eigentlich nur eine: Es ist vorbei. Alles ist wieder gut.
Sie wollte gern die gute Nachricht überbringen. Dafür mussten zuerst die Fakten geschaffen werden. Vielleicht war es an der Zeit, nicht nur darüber zu berichten, was andere taten, sondern selbst etwas zu tun. Manzano hatte etwas unternommen, als er den Code in den italienischen Zählern entdeckt hatte.
Ihr rauer Mund und das Rumpeln ihres Magens erinnerten sie jedoch daran, dass ihre nächsten Schritte elementareren Bedürfnissen dienen mussten. Seit gestern Vormittag bei Hartlandt hatte sie nichts gegessen und nur einmal aus diesem Bach getrunken. Bei Manzano sah es noch schlechter aus, er hatte nicht einmal die Snacks des Polizisten genossen.
Sie kehrte zurück in die Hütte.
Manzano schlug die Augen auf, sie glänzten.
»Guten Morgen«, sagte sie leise. »Wie geht es dir heute?«
Er schloss die Augen wieder, hustete.
Sie legte die Hand auf seine Stirn. Sie glühte. Vielleicht auch von den Flammen, denen er fast zu nahe war.
Er murmelte irgendetwas.
»Wir müssen einen Arzt für dich finden«, stellte sie fest. Erster Schritt.
Den Haag
Marie Bollard drängte sich zu einem der Händler, die sich rund um den Platz postiert hatten. Er bot Kohlrabi, Rüben und fleckige Äpfel an. Sie zog die Uhr hervor, die ihre Eltern ihr zum Abitur geschenkt hatten, außerdem hielt sie zwei goldene Ringe und ein Kettchen in der Hand, ihre letzte Reserve. Sie streckte dem Händler einen der Ringe entgegen.
»Echt Gold!«, rief sie. »Der ist vierhundert Euro wert. Was bekomme ich dafür?«
Die Aufmerksamkeit des Mannes gewann jemand weiter drüben, der Bargeld bot. Marie Bollard zeigte den Ring einem der vielen Bewacher, die mit Argusaugen auf die Waren achteten.
»Echt Gold!«, wiederholte sie. »Achtzehn Karat!«
Der Mann reagierte nicht. Mit stoischer Miene sah er zu, wie sie sich wieder an den Verkäufer wandte.
Mehrmals noch rief sie, bis er ihr einen kurzen Blick zuwarf.
»Und woher soll ich wissen, ob der echt ist?«, fragte er.
Bevor Bollard antworten konnte, nahm er einem anderen sein Geld ab und reichte ihm im Gegenzug zwei volle Säcke.
Abgespannt zog sich Marie Bollard aus dem dichtesten Gedränge zurück. So schnell durfte sie jetzt nicht aufgeben. Mindestens dreißig Händler hatten sich auf dem Platz verteilt. Dazwischen schoben sich die hungrigen Menschen aneinander vorbei wie auf einem Antikmarkt an einem lauen Herbsttag, nur hektischer, aggressiver. Mittendrin stand ein Mann mit langem Bart, der nur ein weißes Tuch um den Körper gewickelt trug, wie eine Mischung aus Guru und Jesus. Die Arme erhoben wiederholte er unablässig: »Das Ende naht! Bereut!«
Solche Typen gab es tatsächlich. Bei diesen Temperaturen. Kopfschüttelnd zog Bollard weiter. Immer wieder hörte sie Streitigkeiten, Zornesrufe. Besonders an einem Ende des Marktes hatten sich Menschen versammelt, die einem wütend brüllenden Redner zuhörten.
Sie kämpfte sich an den Ständen vorbei, als sie einen entdeckte, der nichts zu verkaufen schien. Sein Tisch war kleiner als die anderen, dafür wurde er von sechs großen Männern mit Stiernacken und unfreundlichen Gesichtern bewacht. Bollard arbeitete sich vor. Durch eine Lupe, die er in sein rechtes Auge geklemmt hatte, begutachtete ein Mann ein Schmuckstück.
»Zweihundert«, rief er zu der Frau vor ihm.
»Aber das ist mindestens achthundert wert!«, schrie sie.
»Dann verkaufen Sie es jemandem, der Ihnen achthundert dafür gibt«, erwiderte er und gab ihr die Brosche zurück.
Die Frau zögerte, sie anzunehmen, griff zu, ballte ihre Faust darum. Der Mann nahm bereits das nächste dargebotene Stück entgegen. Die Frau zögerte immer noch, da wurde sie von anderen beiseitegeschoben.
Marie Bollard tastete nach den Schmuckstücken in ihrer Manteltasche. Sie biss sich auf die Lippen, dann drehte sie um.
Ratlos stand sie im Gewimmel und Getöse. Für solche Wuchergeschäfte war sie noch nicht bereit. Die Massen um den Redner hatten sich vergrößert, belegten mittlerweile den halben Platz. Im Chor brüllten sie, was Bollard erst nach einigen Wiederholungen verstand.
»Gebt uns Essen! Gebt uns Wasser! Gebt uns unser Leben zurück!«
Zwischen Köln und Düren
Shannon stand am Straßenrand, neben ihr saß Manzano an den Seesack gelehnt. In seinem Zustand kamen sie nicht weiter. Seit einer halben Stunde hoffte sie auf ein Auto. Wenn sie hier wegkommen wollten, mussten sie es riskieren. Zum Glück schien die Sonne und entschärfte die schneidende Kälte ein wenig.
Shannon hörte die Motorengeräusche, bevor sie den Wagen sah. Dann tauchte von links ein Lastkraftwagen auf.
»Hoffentlich kein Militär oder Polizei«, murmelte Manzano. »Wenn die Fahndungsbilder von uns haben …«
»Die Farbe sieht nicht danach aus«, sagte Shannon. »Wir versuchen es.« Zum Verstecken war es ohnehin zu spät.
Sie streckte ihren Arm aus, den Daumen nach oben.
In der Fahrerkabine des Lkws erkannte sie zwei Personen. Das Fahrzeug hielt neben ihnen an. Durch die offene Fensterscheibe sah ein junger Mann mit Kurzhaarschnitt und Stoppelbart zu ihnen herab. Er fragte etwas, das Shannon nicht verstand. Wieder einmal mussten sie sich erkundigen, ob der andere Englisch sprach. Der junge Mann blickte sie verwundert an, sagte dann aber »Yes«.
Shannon erklärte ihm, dass Manzano krank war und sie in die nächste Stadt mussten. Sein Kopf verschwand, Shannon hörte ihn mit dem Fahrer reden. Dann öffnete er die Tür und reichte ihnen die Hand. Shannon hievte zuerst Manzano hoch, dann stieg sie selbst nach.
Am Steuer saß ein älterer Mann, auch er mit Mehrtagesbart und ordentlichem Bauch. Der junge stellte ihn als Carsten vor, er selbst hieß Eberhart.
»Wo haben Sie sich denn herumgetrieben?«, fragte er und schnupperte. »In einer Räucherkammer?«
»So ähnlich.«
In der Fahrerkabine war es herrlich warm. Hinter den Sitzen von Carsten und Eberhart bot eine Bank ausreichend Platz für sie, Manzano und ihre wenigen Habseligkeiten.
Sobald sie und Manzano angeschnallt waren, legte Carsten einen Gang ein, behäbig setzte sich der Lkw wieder in Bewegung. Manzano sank gegen die Kabinenwand und schloss die Augen. Sie legte die Hand an seinen Kopf. Hinter seiner Stirn schien er ein Stück Glut des nächtlichen Feuers mitgenommen zu haben.
»Wir sind Reporter«, erklärte Shannon. »Während unserer Recherchen ist unser Wagen ohne Sprit liegen geblieben …«
»Ziemlich harte Reportagen, wenn ich mir den Kollegen so ansehe«, meinte Eberhart und wies auf Manzanos Kopfverletzung.
»Autounfall, als die Ampeln ausfielen«, gab Manzano wahrheitsgemäß Auskunft.
»… unser Hotel schloss nach wenigen Tagen ebenfalls«, fuhr Shannon fort. »Jetzt wollen wir nach Brüssel.«
Im selben Moment begriff sie, wie blöd das klang.
»Glauben Sie, dass Ihnen die EU hilft?«, lachte Eberhart.
»… oder in die nächste große Stadt, wo wir vielleicht ein Konsulat oder eine Botschaft finden«, fügte sie schnell hinzu. »Oder in eines der Gebiete, die mit Strom versorgt sind. Wissen Sie zufällig, wo welche liegen?«
»Nein. Auf unserer Route nirgendwo. Ich schätze, diese Gebiete gibt es nur am Ende des Regenbogens …«
Berlin
»Wir müssen jetzt entscheiden, was wir den Russen sagen«, forderte der Bundeskanzler. »In zwei Stunden starten die ersten Flüge.«
»Wir haben noch immer keine Erkenntnisse über die Urheber«, erwiderte der Verteidigungsminister.
»Wir brauchen jede Hilfe«, warf Michelsen ein. »Mit welchem Argument sollen wir sie jetzt noch stoppen? Und vor allem, warum nur die russische und nicht die türkische oder ägyptische?«
»Und wenn die Russen dahinterstecken?«
»Wenn, wenn …«, eiferte sich Michelsen. Sie hatte genug von den dauernden Einwänden jener, die sich bereits in einem Krieg wähnten. Von Beginn an hatte der Verteidigungsminister zur Kriegsthese geneigt, während sich der Kanzler abwartend verhielt und auch nach dem Angriff auf die USA einen Terroranschlag nicht ausschließen wollte. An seiner Seite wusste er den Innenminister, der ihm auch jetzt beisprang.
»Russland schickt in der ersten Welle fast ausschließlich zivile Kräfte«, wandte er ein. »Die Streitkräfte haben nur das Kommando über die Koordination.«
Dass es bei der Diskussion nicht um Argumente, sondern um Macht ging, war allen Beteiligten klar. Der Innenminister war Herr über die Polizei. Diese war zuständig für Ermittlungen in Terrorfällen. Seit dem Angriff auf die USA witterte der Verteidigungsminister seine Chance. Als Führer der kleineren Koalitionspartei hätte er als Verantwortlicher für die Bundeswehr im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung auch gegenüber dem Bundeskanzler deutlich an Stellenwert gewonnen. Fast hatte Michelsen mittlerweile das Gefühl, der Kerl wäre dafür sogar bereit, einen Krieg zu provozieren.
An der Tür zum Besprechungsraum klopfte jemand. Ein Sekretär des Kanzlers öffnete, streckte seinen Kopf hinaus, eilte zum Regierungschef und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Bedächtig stand der Bundeskanzler auf, sagte zu den Anwesenden: »Das sollten Sie sich ansehen«, und verließ den Raum.
Die anderen folgten ihm verwundert. Der Kanzler verließ den gesicherten Bereich bis zu einem der Flure, aus denen sie auf die Straße sehen konnten.
Bei dem Anblick spürte Michelsen, wie eine Gänsehaut schmerzhaft ihren Rücken hinauf bis ins Genick lief und weiter bis auf die höchste Stelle ihres Scheitels. »Ich kann sie verstehen«, sagte sie zu ihrer Nachbarin, die wie sie und andere aus dem Krisenstab gebannt die Menschenmasse beobachtete, die sich ein paar Etagen unter ihnen vor dem Innenministerium eingefunden hatte. Es mussten Tausende sein. Sie riefen Sprechchöre, die Michelsen durch die dicken Scheiben nicht hörte. Sie sah nur die offenen Münder, die geschwenkten Fäuste und Transparente.
Wir haben Hunger!
Wir frieren!
Wir brauchen Wasser!
Wir brauchen Heizung!
Wir wollen auch Strom!
Bescheidene Wünsche, dachte Michelsen. Und doch immer schwerer zu erfüllen. Ihr war bewusst, welches Bild sie da oben für die da unten abgeben mussten. Menschen ohne Mäntel, dicke Pullover, Schals und Fäustlinge, hinter Scheiben eines beleuchteten, offensichtlich geheizten Gebäudes, blickten wie aus einer Festung herab auf die Belagerer in der Kälte.
Die Menge bewegte sich hin und her, ein Meer von Köpfen, das immer wieder auf das Gebäude zuwogte, sich etwas zurückzog, wieder näher kam. Michelsen wusste, dass die Tore unten geschlossen und durch Polizisten gesichert waren.
»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte sie und wandte sich ab. Ein dumpfes Geräusch ließ sie sich noch einmal umdrehen. Ihre Kollegen waren zurückgewichen und blickten erschrocken zu den Fenstern. Wieder schlug ein Schatten gegen eine Scheibe, über die sich ein spinnennetzartiges Gewirr von Rissen ausbreitete. Mehr Steine flogen gegen die Fassade, zwei weitere Fenster zeigten plötzlich Sprünge. Obwohl das Sicherheitsglas stabil genug war, traten die Personen im Flur zurück. Einer nach dem anderen machte sich wieder auf den Weg in die Räumlichkeiten der Krisenzentrale, die durch Spezialtüren mit Sicherheitscodes gesichert waren. Nur eine Handvoll blieb.
Genau dafür bin ich eigentlich da, dachte Michelsen: um so etwas zu verhindern. Das Gefühl des Versagens kroch ihr in alle Glieder, ihre Zähne schlugen aufeinander, als hätte sie Schüttelfrost. Sie lehnte sich gegen die Wand, sah den Steinen zu, die gegen das Glas donnerten.
Dann hörte der Hagel auf. Fünf der sechzehn Fenster im Flur waren beschädigt worden.
»Wir lassen die Russen kommen«, hörte sie den Bundeskanzler zum Außenminister sagen.
Vorsichtig wagte sich Michelsen wieder zu den Fenstern. Vor dem Gebäude breitete sich Rauch aus. Feuer oder Tränengas?, fragte sie sich.
Nahe Düren
»Und Sie?«, fragte Shannon den Beifahrer. »Was machen Sie hier auf der Straße?«
»Carsten arbeitet für einen großen Lebensmittelkonzern«, antwortete Eberhart. »Normalerweise beliefert er die Filialen vom Zentrallager aus mit Lebensmitteln.«
Bei dem Gedanken an Essen zog sich Shannons Magen zusammen.
»Sie sprechen gut Englisch.«
»Ich studiere«, erklärte Eberhart. »Das hier mache ich als Nothelfer.«
»Und was haben Sie dabei?«
»Was noch verwendbar ist. Konserven, Mehl, Nudeln. In allen Ortschaften auf unserer Route wurden bestimmte Filialen zu Lebensmittelausgabestellen umfunktioniert, meistens von den örtlichen Behörden. Dort verteilen wir festgelegte Mengen, direkt vom Lastwagen. Aber lange wird das ohnehin nicht mehr gehen.« Er blickte nachdenklich aus dem Fenster.
»Weshalb?«
»Weil unser Lager praktisch leer ist. Das ist eine unserer letzten Fahrten. Schon jetzt müssen wir bei der Ausgabe streng rationieren.«
Shannon zögerte, bevor sie ihre nächste Frage stellte: »Sie transportieren Lebensmittel. Wir haben seit gestern Morgen nichts mehr gegessen.« Als keiner der beiden reagierte, fügte sie hinzu: »Ich hätte noch ein wenig Geld übrig.«
Eberhart musterte sie mit zusammengekniffenen Augen.
»Sie haben noch Geld?«
In Shannon stieg ein unangenehmes Gefühl hoch, das ihren schmerzenden Magen jedoch nicht beschwichtigte.
»Wenig«, schwächte sie ab. »Ich dachte, ich könnte Ihnen etwas abkaufen.«
Eberhart kratzte seinen Bart. »Dürfen wir nicht. Notstandsgesetze. Wir müssen das Zeug gratis verteilen. Ist streng rationiert.« Dabei fixierte er sie so intensiv, als erwartete er von ihr ein Angebot.
»Ein kleines Paket«, versuchte Shannon. »Für meinen Kollegen und mich. Sie sehen ja, wie es ihm geht.«
Eberhart warf einen Blick auf Manzano, der zu keiner Reaktion fähig war.
Shannon kramte in ihrer Tasche.
»Ich habe hier fünfzig Euro. Damit wäre so ein Paket doch sicher bezahlt? Gut bezahlt.«
»Hundert«, sagte Eberhart und griff nach den Scheinen. Shannon zog sie zurück.
Eberhart wandte sich der Straße zu, als sei nichts geschehen. Eine Minute lang, in der Shannons Magensäure sich in ihrem ganzen Bauchraum auszudehnen schien, fuhren sie so.
Schließlich gab Shannon nach: »Sechzig.«
»Jetzt sind es schon hundertzwanzig.«
Shannon fluchte lautlos. Als Nächstes würde er sie aus dem Wagen werfen.
»Achtzig.«
»Ich habe heute Morgen anständig gefrühstückt.« Eberhart hielt den Blick unverwandt auf die Straße geheftet. »Und bald werde ich ein ordentliches Mittagessen zu mir nehmen. Wenn Sie auch eines wollen, hundertfünfzig.«
»So viel habe ich nicht mehr!«
»Wer kein Geld zum Handeln hat, sollte es nicht tun.«
Fuck! Drecksau!
»Okay! Hundert! Mehr geht nicht.«
Shannon spürte Tränen des Zorns hochsteigen.
Eberhart gab Carsten ein Zeichen. Der Wagen wurde langsamer, hielt schließlich an.
Eberhart wandte sich Shannon zu, streckte ihr die offene Hand entgegen.
»Zuerst das Essen«, verlangte Shannon.
Eberhart stieg aus, kam mit einem Paket zurück.
Zähneknirschend tauschte Shannon es gegen ihre hundert Euro.
Sie riss die Folie auf, fand einen in Plastik abgepackten Laib Brot, zwei Konservendosen mit Bohnen und Mais, eine Mineralwasserflasche, eine Tube Kondensmilch, eine Packung Mehl und eine mit Nudeln. Großartig! Sie hatte hundert Euro für Mehl und Nudeln gezahlt, die sie ohne Herd oder wenigstens Feuer nicht verarbeiten konnte. Hastig nestelte sie das Brot aus der Packung, brach ein Stück ab, reichte es Manzano, riss ein weiteres herunter und schlang es gierig hinunter. Neben ihr aß Manzano ähnlich ausgehungert, drückte sich etwas von der Kondensmilch aufs Brot.
Eberhart und Carsten lachten über irgendetwas.
Shannon kümmerte es nicht.
Ratingen
»Wir haben etwa dreißig Prozent der Codezeilen überprüft, die aus unserer Sicht infrage kommen«, berichtete Dienhof. »Bislang sieht alles korrekt aus.«
»Bleiben noch immer siebzig Prozent. Warum geht das so langsam?«, fragte Hartlandt nach.
Dienhof zuckte mit den Schultern. »Was erwarten Sie? Wir müssen jede einzelne Programmzeile kontrollieren und die dahintersteckende Logik der Programmierer nachvollziehen. Das ist schon unter normalen Bedingungen höchst aufwendig, erst recht unter den jetzigen.«
Hartlandt beendete den Termin, wechselte in den Nebenraum, das Lagezentrum seines Teams.
Seine Mitarbeiterin hing am Funktelefon. Als sie Hartlandt sah, beendete sie das Gespräch und legte auf. »Das war Berlin. Ich habe ihnen etwas geschickt, dass sie auch an Europol und die anderen weitergeben sollen. Schau her.«
Auf ihrem Computer öffnete sie eine Bilddatei.
»Das sind rekonstruierte Daten von den alten Festplatten und Computern, die wir bei Dragenau gefunden haben. Der Gute war nicht sonderlich sorgfältig, oder es war ihm egal, ob man etwas findet.«
Ein Gruppenbild versammelte mindestens sechzig Menschen aller Nationalitäten vor einer Stadtkulisse, die Hartlandt nicht identifizierte. Die Gesichter waren nur schwer zu erkennen.
»Schanghai 2005« erklärte der Bildtitel in der Fensterleiste.
»2005 nahm Dragenau an einer Konferenz zur IT-Sicherheit in Schanghai teil. Ich habe bereits Talaefers Personalabteilung gebeten, mir alle Unterlagen dazu zu geben, falls es welche gibt und es keine Privatreise Dragenaus war. Das Foto muss irgendwann während dieser Konferenz entstanden sein. Hier steht Dragenau. Und hier drüben steht jemand, den wir vielleicht auch kennen.«
Sie vergrößerte das Bild, bis das Gesicht deutlich wurde. Ein gut aussehender, junger Mann mit bronzefarbenem Teint und schwarzem Haar lächelte in die Kamera.
»Besitzt eine verdammt Ähnlichkeit mit …« – sie rief eine zweite Bilddatei auf.
Hartlandt erkannte eines der Phantombilder, die von den mutmaßlichen Smart-Meter-Saboteuren in Italien erstellt wurden.
Sie stellte es neben das Gesicht auf Dragenaus Schanghai-Foto.
»Liegen fünf Jahre dazwischen. Die Haare sind jetzt kürzer. Aber sonst …«
»Berlin, Europol, Interpol und alle anderen werden gerade informiert. Mal sehen, wer das ist und ob man etwas über ihn weiß.«
»Und alle anderen« waren alle Geheim- und Nachrichtendienste der betroffenen Staaten, damit durften sie in der gegenwärtigen Lage rechnen.
Hinter Düren
»Na, satt?«, fragte Eberhart.
Shannon ärgerte sich zwar darüber, wie schamlos der Kerl ihre Notsituation ausgenutzt hatte. Aber noch brauchte sie die beiden als Fahrer, wenn sie weiterkommen wollten.
»Wo sind wir eigentlich genau?«, fragte sie ihn.
Eberhart zog einen zerfledderten Buchatlas aus dem Handschuhfach, blätterte, bis er die richtige Seite fand, dann zeigte er auf ein Straßengeflecht mit vielen kleinen Ortschaften. Am Rand der Karte entdeckte Shannon größere Städte. Düsseldorf, Köln, Aachen.
»Wie ist Ihre Route?«
»Wir fahren die Dörfer und Kleinstädte ab«, erklärte Eberhart, und seine Fingerspitze kreiste über der Karte, ohne eine der Städte zu berühren.
»Welche größere Stadt ist denn Ihr Ziel?«
»Unsere Endstation ist Aachen.«
»Würden Sie uns bis dorthin mitnehmen?«
»Kommt darauf an, ob Sie die Fahrt bezahlen können.«
Nicht schon wieder, dachte Shannon. Sie biss die Zähne zusammen, atmete tief durch.
»Ich sagte doch, dass ich nichts mehr habe.«
»Schade. Dann lassen wir Sie in der nächsten Ortschaft raus. Wir sind ohnehin gleich da.«
Tatsächlich säumten vereinzelte Häuser die Straße.
»Das wird jetzt gleich ein Getümmel«, kündigte Eberhart lakonisch an.
Weiter vorn erweiterte sich die Durchgangsstraße zu einem Platz, auf dem sich vor einem Supermarkt Hunderte Menschen drängten.
»Okay«, sagte sie schnell. »Wie viel bis Aachen? Siebzig hätte ich noch.«
»Sie haben sicher mehr.«
»Nein«, erwiderte Shannon mit fester Stimme. »Siebzig. Meine gesammelten Reichtümer. Können Sie haben. Wenn Sie uns bis Aachen mitnehmen. Sonst bekommt sie jemand anders.«
Der Lkw näherte sich der Menschenmenge.
Eberhart wechselte ein paar Worte mit Carsten, dann drehte er sich wieder zu ihnen um. »In Ordnung, wird hier etwa eine Stunde dauern.«
Manzano lehnte neben ihr, Augen geschlossen, schwitzend. Er hatte zwar Medikamente aus dem Krankenhaus genommen, doch die schienen nicht zu wirken.
»Können wir währenddessen einen Arzt für meinen Partner suchen?«, fragte Shannon.
»Sie können es versuchen. Aber in einer Stunde ist Abfahrt. Auf dem Platz werden Sie nicht einsteigen können, Sie werden gleich sehen, warum. Wir erwarten Sie an der übernächsten Kreuzung hinter dem Platz.«
Langsam bahnte sich Carsten seinen Weg durch die Menge und blieb mitten auf dem Platz stehen. Erst jetzt entdeckte Shannon im Getümmel drei Pferdewagen, auf denen jemand etwas verkaufte. Kartoffeln.
Carsten und Eberhart stiegen nicht aus. Schon kletterten einige der Wartenden über die Trittbretter und Stoßstangen am Wagen hoch. Besorgt verfolgte Shannon, wie immer mehr Gesichter zu ihnen hereinblickten, offene Münder riefen.
»Das ist schon seit Tagen so«, beteuerte Eberhart. »Wir müssen noch warten.«
Nach wenigen Minuten verschwanden die Gesichter, stattdessen tauchte ein neues auf. Es trug eine Polizeikappe. Shannon spürte das Blut in ihren Kopf schießen.
Carsten und Eberhart öffneten die Türen.
»Sie müssen jetzt auch raus, wenn Sie zum Arzt wollen«, sagte Eberhart.
Shannon half Manzano beim Aussteigen. Der Polizist schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Hinter ihnen schloss Eberhart die Türen.
»Eine Stunde«, rief Eberhart ihr nach und deutete auf seine Armbanduhr.
Shannon nickte und schleppte Manzano durch das Gedränge. Sie fragte die Entgegenkommenden auf Englisch nach einem Arzt, bekam aber keine Antwort. Erst am Rand des Platzes fand sie jemanden, der ihr Auskunft gab.
Bis zu der Arztpraxis waren es nur fünf Minuten. Noch eine Dreiviertelstunde bis zur Abfahrt.
Kommandozentrale
Hatten sie also die Leiche des Deutschen auf Bali gefunden. Umso genauer würden sie nun bei der Talaefer AG suchen. Nun, da konnten sie lange suchen. Abermillionen von Programmzeilen aus den letzten Jahrzehnten durchforstete niemand innerhalb von ein paar Tagen, selbst wenn sie das komplette Bundeskriminalamt daran setzten. Sie waren ja nicht einmal in der Lage, einen einfachen Hacker festzuhalten.
Er musste daran denken, wie er noch vor wenigen Tagen selbst in der Heimat von diesem Manzano gewesen war. Nachdem er den intelligenten Stromzähler manipuliert hatte, war er nach Bari gefahren und hatte dort eine der letzten Fähren genommen. Ähnlich hatten es die anderen beiden gemacht. Das schwedische Team hatte sich per Auto über Finnland nach Russland abgesetzt. Von dort hatten sie einen Flug genommen und waren drei Tage später zu ihnen gestoßen.
Ihre internen Diskussionen über die Situation in Saint-Laurent, anderen Kernkraftwerken sowie diversen Chemiefabriken diesseits und jenseits des Atlantiks waren inzwischen verstummt. Die IT-Systeme dieser Anlagen hatten sie bewusst nicht infiltriert. Die Verantwortung für die Stör- und Unfälle lag allein bei den Betreibern und deren mangelhaften Notsystemen. Dieses Argument mussten auch die Bedenkenträger in ihrer Runde akzeptieren. Dass die betroffene Bevölkerung die Unternehmen und Politiker nicht mehr mit Ausreden und Lügen davonkommen lassen würde, wenn alles vorbei war. Beziehungsweise, sobald sie sich an die neuen Verhältnisse gewöhnt hatten, sie zur Verantwortung ziehen würden. Und begannen, wirklich etwas zu ändern.
Langerwehe
In einem Fachwerkhaus, ein paar Straßen von der Lebensmittelausgabestelle entfernt, wurde Shannon fündig. Bereits im Hausflur lehnten Menschen an den Wänden oder saßen auf dem Boden. Unter wiederholtem »Sorry, sorry« zwängte sich Shannon mit Manzano hindurch, nur um den Warteraum noch voller vorzufinden, die Luft klamm und stickig.
Erneut das Sprachspiel. Ein älterer Herr in Hut und Mantel gab ihr schließlich Auskunft. Sie alle warteten hier, teils schon seit Stunden. Sie müsse sich im Flur anstellen. Er selbst sei gestern schon da gewesen, aber nicht mehr drangekommen. Nein, er wisse nicht, wie lange der Arzt heute Patienten empfing.
Hilfe für Manzano konnten sie nicht erwarten. Sie mussten eine andere Möglichkeit finden.
Shannon fragte den Mann, ob er wusste, wo versorgte Gebiete lagen.
»Glauben Sie, dann wäre ich noch hier?«, fragte er zurück.
Ein Kind fing zu brüllen an, andere Wartende wandten sich entnervt oder mitleidig zu ihm um, die Mutter nahm es in den Arm, flüsterte beruhigend auf die Kleine ein, doch die schrie nur noch lauter. Shannon spürte, wie der Lärm auch an ihren Nerven zerrte.
»Kennen Sie jemanden, der mir weiterhelfen kann?«
»Vielleicht die Polizei oder im Rathaus. Das liegt zwei Straßen weiter.«
Das Rathaus war ein Stilmix in Gelb, Rot und Glas. Im Gebäude stießen sie auf die nächste Warteschlange. Dicke Wintermäntel, Mützen, Schals, Handschuhe, warme Schuhe oder Stiefel. Schon die zweite Befragte antwortete ihr, wofür sich die Menschen anstellten, in leidlichem Englisch: »Verschiedenes. Hauptsächlich Lebensmittelkarten.«
»Lebensmittelkarten?«
»Ohne die bekommt man bei der Ausgabe gar nichts.«
»Woher kommen die? Wer druckt sie aus, bringt sie?«
Die Frau sah sie verwundert an. »Niemand, nehme ich an. Die Beamtin kritzelt auf einen Zettel, welchen Anspruch man hat, und stempelt den ab.«
»Dauert es lang, bis man drankommt?«
Die Frau zuckte mit den Schultern. Auch die Frage nach stromversorgten Regionen konnte sie nicht beantworten. So mussten sie wohl oder übel mit Eberhart und Carsten weiterfahren.
Unverrichteter Dinge verließen sie das Rathaus und erreichten ein paar Minuten später den vereinbarten Treffpunkt.
Aus der Ferne beobachtete Shannon, wie der Lastwagen losrollte. Ein paar Menschen klammerten sich an ihn, stürzten jedoch auf die Straße, als das Fahrzeug beschleunigte.
Eberhart hatte den Abstand bis hierher richtig eingeschätzt. Als der Lkw vor Shannon und Manzano hielt, konnten ihn die Menschen vom Platz nicht mehr einholen.
»Einsteigen!«, befahl Eberhart hektisch.
Shannon und Manzano hatten sich noch nicht richtig gesetzt, da trat Carsten auf das Gaspedal.
Orléans
Annette Doreuil richtete ihre Haare vor dem fleckigen Spiegel. Als der nächste Luftschwall aus den Toiletten ihre Nase streifte, hielt sie den Atem an. Schnell fuhr sie mit den Fingern weiterhin durch ihre Frisur, als sie plötzlich zwischen ihren Fingern eine Haarsträhne entdeckte. Erschrocken vergaß sie den Gestank und schnappte nach Luft. Irritiert schüttelte sie das dünne Etwas in das Waschbecken. Noch einmal fuhr sie durch ihre Haare, zog vorsichtig an ihnen. Abermals blieben graue Strähnen in ihrer Hand zurück. Ein paar Haare verliert man immer, dachte sie, habe ich mein Leben lang getan. Die wachsen nach. Gleichzeitig kamen ihr die Bilder eines Anti-Atomkriegfilms aus den Achtzigerjahren in den Sinn. Darin begannen die Hauptfiguren wenige Tage, nachdem sie von den Bomben verstrahlt worden waren, ihre Haare zu verlieren. Einige Wochen später waren die Menschen qualvoll gestorben. Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß anlief.
Links neben ihr wusch sich eine Frau in ihrem Alter die Arme mit einem Waschlappen, rechts badete eine junge Frau ein Baby im Waschbecken.
Zitternd ließ Doreuil ihre Hand noch einmal über das Haar gleiten. Diesmal blieb nichts zurück. Sie hatte aber auch nicht zu ziehen gewagt. Eilig verließ sie die Gemeinschaftsnassräume, deren Fliesenboden so schmutzig war, dass sie selbst mit Schuhen kaum darübergehen wollte.
Fett und kalt hing die Luft in dem breiten Gang, der die Halle umschloss, von der Decke glomm das Licht einiger verlorener Neonleuchten. Den ganzen Tag über erfüllte eine Mischung aus Flüstern, Reden, Schnarchen, Weinen und Schimpfen den Saal, der normalerweise Sportlern und Publikum diente. Auch jetzt drangen die Geräusche durch die großen Türen von der Halle heraus auf den Flur.
Doreuil ging zum Eingangsbereich, wo Helfer den neu Hinzugekommenen Plätze zuwiesen, Lebensmittel und Decken verteilten, Fragen beantworteten. Ein Mann in Uniform, der vielleicht so alt war wie ihre Tochter, sortierte Konservendosen.
»Entschuldigen Sie«, sagte Doreuil.
Er unterbrach seine Arbeit, wandte sich ihr mit offener Miene zu.
»Wir kamen gestern aus der Nähe von Saint-Laurent«, fuhr sie fort, merkte, wie heiser ihre Stimme war, musste sich räuspern. »Wann werden wir denn auf Strahlung untersucht?«
Der Mann stemmte die Fäuste in die Hüften. »Machen Sie sich keine Sorgen, Madame«, entgegnete er.
»Aber müssen wir nicht untersucht werden?«
»Nein, Madame. Diese Evakuierung ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.«
»Nach dem Unglück in Japan 2011 haben sie im Fernsehen gezeigt, wie Menschen in den Notlagern mit so Geräten …«
»Wir sind hier nicht in Japan.«
»Ich will untersucht werden!«, forderte Doreuil. Ihre Stimme hörte sich fremd und schrill an.
»Zurzeit fehlen uns sowohl die Geräte als auch das Personal dafür. Aber, wie gesagt, Sie brauchen keine Angst zu haben. In Saint-Laurent ist nichts …«
»Ich habe aber Angst!«, rief sie. »Warum wurden wir dann evakuiert?«
»Sagte ich doch schon«, erwiderte der Mann jetzt deutlich schroffer. »Vorbeugend.« Er wandte sich wieder seinen Konserven zu.
Annette Doreuil fühlte, wie ihr Körper bebte, ihr Gesicht glühte. Tränen stiegen in ihre Augen, und sie schloss kurz die Lider, um sie wegzudrücken.
Nahe Aachen
Eberhart und Carsten hatten noch in zwei anderen Ortschaften Lebensmittel verteilt. Währenddessen waren Manzano und Shannon im Wagen sitzen geblieben. Shannon hatte das Gefühl, dass seine Stirn nicht mehr ganz so heiß war. Vielleicht wirkten die Medikamente aus dem Krankenhaus doch langsam.
Am Himmel kündigte sich die Dämmerung an. Sie befanden sich kurz vor Aachen in locker bebautem Gebiet, das von Feldern und Wäldchen durchsetzt war, als Carsten so abrupt bremste, dass Shannon in den Sicherheitsgurt gepresst wurde. Als sie sich wieder aufrichtete, entdeckte sie einen Baum quer über der Straße liegen.
Neben Eberhart und Carsten wurden die Türen aufgerissen. Männerstimmen riefen. Shannon sah Gewehrläufe, dann Köpfe. Schals um das Gesicht gewickelt, Mützen und Kappen tief in die Stirn gezogen.
»Aussteigen!«, schrien die Vermummten und kletterten hoch. Carsten wollte den Rückwärtsgang einlegen, da schlug ihm einer der Bewaffneten mit dem Gewehr auf die Hand, ein anderer presste die Mündung gegen seinen Kopf. Mit einem Schmerzensschrei ließ Carsten den Schaltknüppel los und hob die Hände. Die Männer zerrten an ihm, fast wäre er aus dem Wagen gefallen, konnte sich gerade noch halten, stieg eilig herunter, wie Eberhart auf der anderen Seite. Von draußen hörte Shannon dumpfe Schläge und Schreie. Sie presste sich gegen die Rücklehne, instinktiv hob auch sie die Hände. Jetzt fuchtelten die Männer vor ihren Gesichtern mit den Waffen herum, schrien. Shannon löste Manzanos Gurt, versuchte, ihn so weit hochzuhieven, dass er allein aus dem Wagen kam. Ihren Seesack mit Manzanos Laptop warf sie über die Schulter. Ein Mann zog Manzano hinaus, wollte ihn hinunter auf die Straße stoßen. Shannon hielt Manzano zurück, schob sich an ihm vorbei, rief »Easy! Easy!«. Manzano kippte auf ihre Schultern, so konnte er mit ihr aussteigen, ohne dass er auf den Asphalt stürzte. Am Straßenrand krümmten sich Eberhart und Carsten auf dem Boden, einer hielt sich den Kopf, der andere seinen Schritt.
Den Fahrersitz hatte bereits einer der Vermummten eingenommen. Zwei weitere drängten drüben in die Kabine, auf der Beifahrerseite waren es noch einmal drei. Hinter sich schlugen sie die Türen zu.
Der Fahrer setzte zurück, steuerte den Lkw in einen Feldweg, wendete, fuhr in die Richtung davon, aus der sie gekommen waren.
Zuerst Erpressung durch Eberhart, dann Überfall durch Fremde. So sah das also aus, wenn der Staat mit seinen Organen nicht mehr präsent war. Sie musste an frühere Schulkollegen in den Staaten denken, die sich inzwischen für die radikalen Staatsgegner der Tea Party begeisterten. Sie fragte sich, ob daheim inzwischen ähnliche Zustände herrschten. Anzunehmen war es. Verdammt, dachte sie, wir entwickeln uns gerade wirklich zurück zu Höhlenmenschen.
»Scheißkerle!«, brüllte Carsten dem Lastwagen nach, als dieser in einer Staubwolke kleiner wurde und verschwand.
Da schreit der Richtige, dachte Shannon.
Eberhart hatte sich inzwischen aufgesetzt, stöhnte aber noch immer.
Shannon bedauerte ihn nicht. Für seine Erpressungen hatte er eine Abreibung verdient, fand sie. Trotzdem fragte sie: »Alles in Ordnung?«
»Der Laderaum war sowieso leer«, ächzte Eberhart.
Auch Carsten saß wieder.
»Wie weit ist es noch bis Aachen?«, fragte Shannon.
Eberhart zeigte die Straße entlang.
»Vielleicht vier Kilometer.«
»Glaubst du, dass du gehen kannst?«, fragte Shannon Manzano.
»Muss ich«, antwortete er.
Shannon warf ihren Seesack über die Schulter, stützte Manzano.
»Hey!«, rief Eberhart ihnen nach. »Unsere siebzig Euro!«
»Ihr habt uns nicht nach Aachen gebracht, wie wir abgemacht hatten«, antwortete Shannon über die Schulter, ohne anzuhalten. Sie beobachtete, wie Eberhart sich aufrappelte und ihnen folgen wollte. Nach wenigen gestolperten Schritten gab er auf. Shannon konzentrierte sich auf die Straße vor ihnen.
»On the road again«, seufzte Manzano.
Den Haag
»Tut mir leid«, erklärte Ruiz. »Eine gesonderte Versorgung für Europol-Mitarbeiter ist nicht vorgesehen.«
Unwillig fuhr sich Bollard über seinen jungen Bart. Um Wasser zu sparen, hatte er das Rasieren seit Tagen aufgegeben, wie die meisten seiner Kollegen auch.
»Wenn ich die jüngsten Nachrichten höre«, sagte er zu Bollard, »frage ich mich, ob wir überhaupt noch etwas bekommen.«
Nichts ging mehr. Die externe Kommunikation lief immer schlechter. Zu vielen Behörden und Organisationen bestand inzwischen oft stundenlang keine Verbindung. Europols Aufgabe als zentrale Ermittlungskoordination wurde dadurch nicht einfacher. Über die Lage in Saint-Laurent etwa hatte er seit dem Vortag nichts gehört. Sein Letztstand war die Evakuierung der Bevölkerung im Umkreis von dreißig Kilometern. Die Radioaktivität in Paris war angeblich nicht weiter angestiegen. Doch Bollard wusste nicht, wie weit er den französischen Behörden in dieser Angelegenheit trauen durfte. In seiner Heimat war die Atomenergie bislang erhaben über jede Kritik gewesen, die mit ihr verbundene Industrie außerdem politisch bestens vernetzt und sehr einflussreich. Immerhin hatte sich die Lage in den anderen kritischen Anlagen nicht verschärft, wenn die Angaben der IAEO in Wien stimmten, die jedoch vom Vortag stammten. Allerdings meldeten einige inzwischen ernste Dieselknappheit. Bollard fragte sich, wie es so weit kommen konnte. Hatten die jeweiligen Betreiber und Regierungen nach Bekanntwerden der Krise nicht für Nachschub gesorgt? Sicher kämpften sie mit denselben Problemen wie er – ausgefallene Kommunikationssysteme, mangelnder Überblick auf die Gesamtlage, fehlende Ressourcen wie Tanklastwagen oder Fahrer.
Selbst von den internationalen Polizeibehörden trafen nur sporadisch und oft verspätet Neuigkeiten ein. Über den ermordeten Dragenau hatten die balinesischen Polizeibehörden keine neuen Erkenntnisse geschickt. Weder eine Tatwaffe noch ein Täter oder auch nur Zeugen waren aufgetaucht. Von den Italienern und Schweden kam auch nichts Neues in der Smart-Meter-Sache. Nachdenklich starrte er auf die Europakarte, als sich hinter ihm jemand räusperte.
Als er sich umdrehte, stand der Belgier aus der IT vor ihm. Stumm gab der Mann Bollard ein Handzeichen, ihm zu folgen. Auf dem Flur lehnte er sich an die Wand, versenkte die Hände in den Hosentaschen und streckte seinen Bauch heraus.
»Wir haben ein Problem«, erklärte er leise.
Aachen
In den unbeleuchteten Straßen waren nur wenige Menschen unterwegs. Überall stapelte sich der Müll auf den Bürgersteigen und stank. Shannon und Manzano folgten den Verkehrsschildern, bis sie vor einem burgartigen Steinbau landeten.
»Das ist der Bahnhof«, erklärte sie.
Die Tore wirkten geschlossen. Shannon rüttelte an einer Klinke.
»Hier fährt nichts«, stellte sie fest.
»Bollard sagte, dass Versorgungstransporte mit der Bahn durchgeführt werden«, antwortete Manzano. »Weil die Bahn ein eigenes Stromnetz hat, das weniger betroffen ist.«
»Weshalb ist der Bahnhof dann geschlossen?«
»Weil der, anders als die Züge, am öffentlichen Netz hängt.«
»Hier ist ein Fahrplan«, sagte sie und beugte sich vor, um in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie zündete ein Streichholz an. »Nach Brüssel fährt man normalerweise nicht viel mehr als eine Stunde.«
Shannon sah auf ihre Uhr. »Können wir nur abwarten, ob morgen so ein Transport hier durchfährt. Es ist halb neun. Wir brauchen einen Platz für die Nacht. Glaubst du, wir können uns in ein Notquartier wagen?«
»Dazu müssten wir eines finden.«
Sie zogen durch die Straßen, fanden bald ein Hotel. Die Fenster waren dunkel. Sie klopften an die Tür. Warteten. Klopften erneut. Als niemand reagierte, probierten sie es an einigen straßenseitigen Fenstern, in denen vergilbte Vorhänge links und rechts zur Seite gebunden waren. Verschwörerisch blickte sie zu Manzano. »Wenn da ohnehin keiner da ist, was meinst du, vielleicht sollten wir …?«
Shannon drückte ihr Gesicht gegen eine Fensterscheibe, um im Inneren etwas erkennen zu können. »Was suchen Sie?«, dröhnte eine unfreundliche Stimme hinter ihnen.
Die Männer waren zu dritt. Shannon hatte sie nicht kommen hören. Einer trug einen Baseballschläger, ein zweiter eine Eisenstange, der dritte an einem Riemen über die Schulter ein Gewehr mit dem Lauf nach vorn gerichtet, auf dem er seine Hand abstützte. Einer war so groß wie Manzano, die beiden anderen etwas kleiner, den mittleren machte seine Winterjacke noch dicker, als er ohnehin schon war. Um ihre rechten Ärmel spannten sich orange Schleifen, auf den handschriftlich etwas geschrieben stand, von dem Shannon nur die letzten Buchstaben lesen konnte:
…rheits
…ife
»Do you speak English?«, fragte Shannon.
»A little«, antworte der Gewehrträger überrascht.
»We are journalists«, erzählte sie wieder einmal und fuhr langsam fort, damit der Mann sie verstand: »We are looking for a place to stay overnight.«
Die drei beäugten sie weiterhin misstrauisch.
»Journalisten«, wiederholte er. »Ah …« Er neigte den Kopf, faltete seine Hände, legte sie an die untere Gesichtshälfte. » … Nacht … schlafen …«
Der Mann mit dem Gewehr erklärte seinen Kumpanen, was sie ohnehin schon verstanden hatten. Er zeigte auf Manzanos Kopf.
»What happened?«
»Accident«, erwiderte Shannon. Sie berührte seine Schleife.
»What is this?«
»We security«, erläuterte er mit einer Mischung aus Ernsthaftigkeit, Wichtigtuerei und Stolz. »Guards«, fügte er hinzu und warf seinen Partnern Beifall heischende Blicke zu.
»Ah, very good!«, gab sich Shannon begeistert. Eine selbst ernannte Bürgerwehr, dachte sie. Gefährliche Typen, kannte sie von zu Hause. Paranoide Blockwarte und Waffennarren, die sich freuten, wenn andere sich vor ihnen fürchteten. Sie musste vorsichtig sein.
»You know a place for us to stay?«
Bevor er sich die Blöße geben musste, zuzugeben, dass er sie nicht verstanden hatte, entschlüsselte Shannon seinen Gesichtsausdruck und wiederholte ihre Frage sehr langsam und in abgewandelter Form.
»Do you know a place where we can sleep?«
Der Mann übersetzte seinen Begleitern, warf einen Blick auf Shannon und fügte mit einem Grinsen etwas hinzu, das sie nicht verstand. »Försiedawüsstichschon’nbett.« Die beiden anderen lachten schmutzig.
»Lass uns gehen«, forderte Manzano Shannon auf.
»Maybe there is an emergency shelter around?«, fragte Shannon. »Or a police station?« Sie kreiste mit den Händen, als suche sie nach Worten, fügte hinzu: »Polizei?«
Das Wort bremste den Übermut der Männer.
»Polizei …«, sagte einer gedehnt.
»Yes. Or a place … you know … where people sleep … who can not sleep in their houses.«
Der Mann schien Shannons Satz im Geist wiederzukäuen, bis sich seine Miene erhellte.
»Ah – das Notlager …«
Das englische Wort dafür suchte er vergebens.
»It is completely full. You must find a different place.«
Berlin
Michelsen kontrollierte gerade eine Statistik der noch vorhandenen Bundeslebensmittelreserven, als ihr jemand ins Ohr raunte: »In den Besprechungsraum. Alle. Sofort.«
Seit Beginn des Stromausfalls war ihnen jede neue Nachricht laut verkündet worden, sei es von jemandem im Haus oder in den Medien.
Diesmal war es anders. Da hastete einer durch den Raum und zischte einem nach dem anderen immer dieselben fünf Worte ins Ohr, als gäbe es ein Geheimnis, hier drin, in diesem geschützten Raum, ihrem letzten Zufluchtsort, dem einzigen Platz, der jedem Anwesenden das letzte Fünkchen Gefühl gab, die Lage vielleicht doch noch unter Kontrolle bekommen zu können. In dieses Gefühl drang das zischende Geräusch des Flüsternden wie der erste Wasserstrahl ins Innere der Titanic.
Michelsen erhob sich, einem Roboter gleich, und folgte der Anweisung. Auf dem Weg über den kurzen Flur sprach niemand ein Wort.
Im Besprechungsraum fand sie keinen Sitzplatz mehr. Am Kopf des langen Tisches saßen der Bundeskanzler und das halbe Kabinett. Keiner von ihnen trug mehr Krawatte oder Sakko. Auch hier wagte niemand zu sprechen, bis der Flüsternde als Letzter eintrat und die Tür hinter sich schloss.
»Meine Damen und Herren«, hob der Innenminister an. »Der Angriff hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. Wie uns unsere IT-Forensiker vor wenigen Minuten mitteilten, sind unsere Kommunikationssysteme von den Angreifern durchsetzt. Noch wissen wir weder, wie sie es geschafft haben einzudringen, noch worauf sie genau Zugriff haben. Aber bereits jetzt ist klar: Ihre Computer sind gekapert. Wir haben außerdem eine Bestätigung von Europol, dem französischen, britischen, polnischen und drei weiteren Krisenstäben auf dem Kontinent. Die restlichen konnten ihre Systeme noch nicht überprüfen, wir müssen aber davon ausgehen, dass auch sie teilweise unterwandert sind.« Er hob abwehrend die Hände: »Um Missverständnissen vorzubeugen: Wir glauben nicht, dass jemand der hier Anwesenden etwas damit zu tun hat. Das Eindringen in die Systeme muss von ebenso langer Hand vorbereitet worden sein wie die Attacke auf die Energieinfrastruktur.«
Er ließ die Hände wieder sinken, räusperte sich und fuhr dann fort: »Die Angreifer belassen es vor allem nicht dabei, unsere Kommunikation zu beobachten. Nein, sie manipulieren sie ganz gezielt, um unsere Aktivitäten zu sabotieren, fehlzuleiten oder zu verhindern! Leider haben uns erst mehrere dieser Vorfälle überhaupt auf die Spur der Eindringlinge gebracht. Sie müssen davon ausgehen, dass jede Ihrer Nachrichten mitgelesen wird, jedes Telefonat und jede Besprechung mitgehört werden.«
Michelsen, die bis jetzt wie in Trance zugehört hatte, vernahm aus einer anderen Ecke des Raums ein Flüstern.
»Ja, auch Besprechungen«, wiederholte der Innenminister, der offensichtlich mehr verstanden hatte. »Ihre Computer sind mit Kameras und Mikrofonen ausgerüstet, die jemand mit der passenden Software von außen aktivieren kann. Auf diese Weise hört und sieht er alles, was die Kameras und Mikrofone aufnehmen. Die Angreifer haben ihre Augen und Ohren hier, mitten in unserem Lagezentrum! Und bei den Franzosen, den Polen, bei Europol, dem Monitoring and Information Centre der EU, von der NATO haben wir noch nichts gehört. Würde mich aber nicht wundern …«
Er musste Luft holen, um sich zu beruhigen. »Aber sie haben auch ihre Finger und Münder hier. In unserem Namen können sie Daten verschicken und womöglich sogar Gespräche führen. Das heißt, wir müssen unser Kommunikationsverhalten radikal ändern. Wie wir das tun werden, erarbeitet gerade ein Strategieteam von Experten. Vorläufig sollen die Angreifer nicht erfahren, dass wir von ihrem Eindringen wissen. Daher darf außerhalb dieses Raums niemand darüber sprechen! Das ist sehr wichtig. Was Sie eben gehört haben, darf diesen Raum nicht verlassen! Bis auf Weiteres arbeiten Sie wie gehabt. Mit einem Unterschied, und ich weiß, Sie werden mich jetzt dafür hassen, weil der noch mehr Arbeit macht, als wir ohnehin schon zu bewältigen haben: Jeder Informationsaustausch mit externen Stellen, ob in- oder ausländische, muss ab sofort durch einen separaten Kommunikationsvorgang bestätigt werden. Wenn Sie also jemandem Daten zu etwas senden oder eine Anordnung geben oder was auch immer, muss dieser Jemand den Absender über Funk zurückrufen, bestätigen, dass er die Daten oder Anordnung oder was immer erhalten und verstanden hat, sowie den Inhalt zumindest grob vergleichen. Wir dürfen zurzeit davon ausgehen, dass die verbliebenen Teile des Behördenfunks nicht infiltriert wurden und sicher sind.«
Er blickte in die Runde, um sich zu versichern, dass ihn auch alle verstanden hatten.
»Wir hoffen, dass wir Ihnen in ein paar Stunden weitere Verhaltensregeln geben können. Bis dahin gehen Sie bitte wieder an die Arbeit.«
»Kann man denn nicht zurückverfolgen, an welche Server die Daten weitergeleitet wurden? Könnte das nicht ein Hinweis auf die Täter sein?«
»Eine Spur führt zu Servern in Tonga, die mit gestohlenen Kreditkarten bezahlt wurden. Das ist eine Sackgasse. Auch bei zwei anderen Spuren sieht es nicht besser aus.«
Die Tür wurde geöffnet.
»Einen Moment noch«, fügte der Innenminister hinzu, und die Tür wurde leise wieder geschlossen. »Nur, damit Ihnen bewusst ist, wie wichtig es ist, unter keinen Umständen außerhalb dieses Raums zu kommunizieren: Wer in der Lage ist, unsere Kommunikation zu überwachen, der kann sie auch abschalten.«
Aachen
»Verflucht, ist das kalt!«, schimpfte Shannon neben Manzano. Er sah ihr zu, wie sie in ihrem Seesack nach einem Pullover suchte.
»Ich will das alles nicht mehr«, stöhnte sie erschöpft. »Ich möchte ein warmes Bett in meiner Wohnung, eine heiße Dusche, oder noch besser, ein heißes Bad!«
Was sollte er erst sagen? Er zitterte am ganzen Körper, ob vom Fieber, der Kälte, vor Erschöpfung oder allem zusammen.
»Ich will eine warme Mahlzeit und zivilisierte Menschen um mich!«, jammerte Shannon weiter. »Ich will …«
Eine kehlige Stimme unterbrach sie laut grölend. Der Mann war in mindestens ebenso üblem Zustand wie sie selbst. Aufgeregt fuchtelte er mit seinen Händen, an denen Manzano die langen Fingernägel auffielen, in der Luft herum, zu seinen Füßen lagen ein paar Bündel und Tüten.
»Sorry, I don’t understand«, sagte Shannon.
»Oh, ei dont anderständ«, äffte er sie nach. »Sis is mei pläs!«
»Your place? Here?«, fragte sie den Fremden.
Sein Gesicht war zerfurcht, seine Nase geschwollen, seine Oberlippe seltsam eingefallen, dafür wölbte sich die untere über den ungepflegten Bart.
»Fuck off!«, rief der Kerl. »I sleep here!«
»Nice place«, antwortete Shannon. »You can keep it.«
»Ich glaube, du raffst das nich’!«, brüllte er.
Manzano verstand nicht, was das bedeutete, aber sicher nichts Nettes. Der Mann wankte. War der Typ besoffen?
»Jetzt wollen uns die Ausländer sogar noch auf der Straße den Platz wegnehmen«, lallte er.
Was hatte er gesagt?
Manzano kratzte seine Deutschkenntnisse zusammen und fragte nach einem Notquartier oder Asyl.
Der Penner brummte vor sich hin, dann beschrieb er ihnen in einer kaum verständlichen Mischung aus Deutsch und Englisch den Weg zu einem Obdachlosenasyl und einem Notquartier. Danach breitete er einen schmutzigen Schlafsack aus, in dem er sich verkroch.
»Suchen wir uns ein Dach über dem Kopf«, schlug Manzano vor.
Ratingen
»Hatte der verdammte Italiener also recht!«, brüllte Hartlandt in den Hörer seines Funktelefons. »Hallo, da draußen, hört ihr uns jetzt auch zu?!«, rief er, um danach seinen Gesprächspartner in Berlin ernsthaft zu fragen: »Werden wir jetzt auch belauscht?«
»Vermutlich nicht«, erwiderte der andere. »Dazu müssten die Angreifer ein Gerät besitzen, das nicht als verloren oder gestohlen gemeldet wurde. Oder sie müssten direkt ins Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik eingedrungen sein, wo die jeweils aktuellen digitalen Schlüssel der Geräte erstellt werden.«
»Würde mich nicht wundern, wenn man sich ansieht, wo sie offenbar überall reingekommen sind«, widersprach Hartlandt. »Aber bitte. Kommen wir zur Sache.«
»Die Sache ist die, dass die ursprünglichen Informationen über die Brände und gesprengten Strommasten richtig waren.«
»Die Route von Schleswig-Holstein über Güstrow bis Cloppenburg?«
»Inzwischen ist ein neuer dazugekommen. Ein Mast bei Braunschweig.«
»Die angeblichen Korrekturen mit den Entwarnungen waren tatsächlich engineered?«
»Sieht so aus.«
»Sie ziehen also wieder Richtung Osten. Nützt uns aber auch wenig, dieses Wissen. Wir können unmöglich jeden Strommast Deutschlands überwachen lassen. Aber vielleicht wenigstens jede Umschaltanlage des Hochspannungsnetzes auf der potenziellen Strecke, falls sie es bei einer davon noch einmal versuchen.«
Berlin
»Aber dafür braucht man Hunderte von Leuten«, rief Michelsen. »Und die fehlen dann bei der Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, bei der Sicherung der öffentlichen Ordnung, bei …«
»Das ist uns auch klar«, erwiderte der NATO-General. Zwar leistete die Bundeswehr offiziell nach wie vor nur Hilfsmaßnahmen im Rahmen einer zivilen Notsituation, doch spätestens seit dem Angriff auf die USA hatten sich sein Ton und Auftreten merklich verändert. Die Entdeckung der Abhörung hatte diese Haltung noch verstärkt. Viele Analysten hielten nur eine Nation zu einem solchen Angriff fähig, nämlich China. Und für kriegerische Akte war das Militär zuständig, nicht mehr die Polizei. Noch aber fehlten Beweise dafür.
»Wie wollen Sie diese Wahnsinnigen sonst erwischen?«, fragte der Verteidigungsminister. Auch ihm hatten die jüngsten Entwicklungen erneut Auftrieb gegeben. »Diese mutmaßlichen reisenden Kommandos sind bislang unsere heißeste Spur.«
»Wir spekulieren«, erklärte der Verbindungsoffizier des Bundeskriminalamts. »Unsere Terrorspezialisten sind der Meinung, dass solche Teams, so es sie denn gibt, mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Mitglieder der Angreifergruppe sind, sondern Söldner, die ihre Auftraggeber gar nicht kennen.«
»Das mag aus dem Terrorblickwinkel einleuchten«, wandte der Verteidigungsminister ein. »Wenn es aber Soldaten einer feindlichen Armee sind?«
»Sie sind der Militärstratege«, sagte der BKA-Mann. »Würde nicht auch eine feindliche Macht Söldner einsetzen, um im Falle einer Festnahme der Leute die Drahtzieher unerkannt zu lassen?«
Den Verteidigungsminister blickte Hilfe suchend zum General, doch der blieb eine Antwort schuldig.
»Tatsache ist«, schaltete sich der Bundeskanzler in die Diskussion ein, »dass die konsequent und professionell durchgeführten Anschläge eines zeigen: Wer immer uns angreift, gibt nicht auf. Die Attacken werden fortgesetzt. Sie vergrößern den Schaden. Wir müssen jede Möglichkeit nutzen, um die Aggressoren zu stoppen oder zu finden. Vielleicht fehlt uns das Personal kurzfristig an anderer Stelle. Aber wenn es uns mittel- und langfristig hilft, die Katastrophe zu beenden, ist uns damit mehr geholfen. Außerdem müssen wir diese Zerstörungen ohnehin stoppen, gleichgültig, wer sie durchführt.«
Aachen
»Sie sehen ja selbst«, erklärte der Quartierleiter Shannon auf Englisch, »hier passt niemand mehr herein.«
Im Dämmerlicht der Notbeleuchtung sah Shannon zwar wenig, aber das genügte ihr. Das Notquartier war in einem leer stehenden Kino eingerichtet worden. Shannon und Manzano waren kaum zur Tür hineingekommen. Selbst auf den Fluren lagen die Menschen dicht an dicht. Manche hatten nicht einmal mehr Liegeplätze, lehnten hockend an der Wand, die Luft ähnelte trotz der Kühle stinkendem Brei. Noch einmal ließen sie sich den Weg zum Obdachlosenheim beschreiben.
»Geht’s noch?«, fragte sie Manzano.
»Muss, und das Asyl liegt ja auch nicht weit entfernt.«
In vielen Hauseingängen schliefen Menschen in Schlafsäcken, oft zwischen Bergen von Müllsäcken, die vielleicht weich waren oder ein wenig wärmten.
Die Tür zum Asyl öffnete ein Mann mit einer Laterne, in der eine Kerze brannte. Der Flur hinter ihm war dunkel. Er sprach leidlich Englisch.
Shannon fragte nach einem Platz.
»Wir sind ein Männerasyl«, erklärte er. »Normalerweise«, fügte er dann hinzu.
»Aber jetzt haben Sie auch Frauen da?«
»Ein paar.«
»Und noch Platz für uns zwei? Er«, sie zeigte auf Manzano, »ist ein Mann.«
»In ein paar Räumen ist auf dem Boden noch etwas frei«, brummte ihr Gegenüber. »Haben Sie Schlafsäcke?«
»Nein.«
»Dann wird es unbequem.«
»Bequemer als draußen.«
»Wenn Sie meinen.«
Er ließ sie ein, ging mit der Laterne voran.
Shannon stützte Manzano. Links und rechts führten Durchgänge vom Flur ab, von diesem nur durch dünne Vorhänge getrennt. Dahinter hörte Shannon leise Gespräche, Fluchen, Weinen, Schnarchen.
»Haben Sie hier denn kein Licht?«, fragte sie.
Der Mann hob die Laterne, ohne sich umzudrehen. »Nur das hier.«
»Wo sind die Toiletten und Waschräume?«
»Am Ende des Flurs. Funktionieren aber nicht. Ihr Geschäft müssen Sie in einen der Kübel erledigen, die dort rumstehen. Achtung, wir haben kein Papier. Und Vorsicht beim Hineingehen. Nicht jeder trifft die Kübel.«
Die Vorstellung, gepaart mit dem Geruch, ließ Shannon noch einmal würgen.
Der Mann sperrte eine Tür auf, die einzige, die sie bis jetzt gesehen hatte. Aus einem Regal reichte er ihnen zwei Bettdecken. Die Flecken darauf ekelten Shannon, angewidert verzog sie das Gesicht.
»Waschen können wir das Zeug nicht«, bemerkte der Mann schroff.
Er schubste sie aus dem Raum, sperrte wieder ab. Sie gingen den Flur fast bis zu dessen Ende, und der Gestank wurde immer unerträglicher. Schließlich zog der Mann den Vorhang eines Zimmereingangs beiseite, leuchtete hinein. Drinnen standen vier Metallbetten an den kahlen Wänden. Alle waren belegt, in einem drängten sich sogar zwei Personen. Darunter lagerten Bündel. Eine fast abgebrannte Kerze spendete schwaches Licht. Die Bewohner hoben die Köpfe, Shannon blickte in gegerbte, verwüstete Gesichter.
»Verpisst euch«, grölte einer.
»Sie schlafen auf dem Boden«, erklärte der Laternenträger resolut.
»Wir sind doch schon übervoll«, schimpfte ein anderer.
»Haut ab, sucht euch ein anderes Zimmer!«, forderte der Erste wieder.
»Aber lass doch die Lady bei uns übernachten«, meinte ein Dritter.
»Scheiße! Kann man hier nicht in Ruhe schlafen?«
»Ruhe jetzt!«, befahl der Laternenträger, »oder ihr fliegt alle raus!« Dann zeigte er auf den Boden, wechselte ins Englische. »Da können Sie sich hinlegen. Geben Sie auf Ihre Sachen acht. Kommen leicht weg hier.« Mit diesen Worten verschwand er.
»Ich kann hier nicht bleiben«, flüsterte Shannon Manzano zu. Sie spürte den Druck im Hals, der nicht vom Brechreiz kam, sondern von unterdrückten Tränen. Sie hob die Decken hoch. »Was glaubst du, wovon diese Flecken stammen?«
»Geht mir ähnlich«, flüsterte Manzano zurück. »Aber willst du auf der Straße schlafen? Dort erfrieren wir.«
Den Haag
Bollard rieb sich die Augen. Es hatte keinen Zweck, er war zu müde. Er brauchte ein paar Stunden Schlaf. Als er sich erhob, um zu gehen, klingelte das Telefon.
»Guten Abend«, sagte die Stimme im Hörer auf Englisch. »Hier spricht Jürgen Hartlandt.«
Der Deutsche, dessen Mitarbeiter Manzano angeschossen und verloren hatte, fiel Bollard sofort ein. »Haben Sie Manzano gefunden?«, fragte er.
»Nein. Glauben Sie immer noch, dass er etwas mit den Angreifern zu tun hat?«
»Wir können es nicht ausschließen.«
Bollard ärgerte sich darüber, dass der Italiener mit seinem Verdacht zu den infiltrierten Kommunikationsnetzen schon wieder recht behalten hatte. Gleichzeitig war er froh, dass sie dadurch die Überwachung entdeckt hatten. Und in seltenen Momenten konnte er sich nicht gegen die Scham wehren, die in ihm hochstieg, wenn er daran dachte, dass sie Manzano wahrscheinlich zu Unrecht verdächtigt hatten. Scham, die seinen Ärger auf Manzano verstärkte.
»Ich glaube es nicht«, erklärte Hartlandt.
Bollard erwiderte nichts.
»Dragenau ist im Moment wichtiger«, sagte Hartlandt. »Gibt es schon neue Erkenntnisse zu ihm und dem Mann auf dem Foto?«
»Alle Dienste durchforsten intensiv ihre Datenbanken. Europol, Interpol, nationale Polizeieinheiten in ganz Europa, CIA, FBI, NSA. Wir haben erste Hinweise. Sobald wir mehr wissen und die Daten gebündelt haben, geben wir Bescheid.«
Der Deutsche änderte seinen Tonfall, es klang wärmer, als er fragte: »Wie geht es bei Ihnen in Den Haag? Ich meine, wie kommen die Menschen zurecht? Man erfährt nicht mehr sehr viel.«
»Meine Frau kämpft bereits auf dem Schwarzmarkt um Essen«, bekannte Bollard. »Die staatliche Versorgung ist zusammengebrochen.«
Einen Atemzug lang herrschte Stille im Hörer, dann räumte Hartlandt ein: »Hier ist es genauso.«
»Wir müssen diese Typen finden und aufhalten«, polterte Bollard.
»Das werden wir«, sagte Hartlandt, jetzt wieder in seinem kühlen, professionellen Ton. »Wir bleiben in Kontakt.«
Hoffentlich, dachte Bollard. Ewig würden die Notstromreserven auch die Kommunikation zwischen den Einsatzzentralen nicht mehr aufrechterhalten.
A 6
Manuel Amirá blinzelte mit den Augen in die Nacht. Seit dreißig Jahren lenkte er Lastkraftwagen quer durch Europa. Er war an lange Fahrtzeiten gewöhnt, vierzig, fünfzig Stunden waren keine Seltenheit, die vorgeschriebenen Pausen konnte man durch Manipulationen der Messegeräte spielend umgehen. Er hatte Gurken von Südspanien nach Schweden gefahren, polnische Schweine nach Italien, ukrainische Paprika auf die Britischen Inseln, deutsche Milch nach Portugal und so ungefähr jede andere Ware, die es auf diesem Kontinent zu transportieren gab. Der Job war nie einfach gewesen, doch mit jedem Jahr schlimmer geworden. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs ruinierten Speditionen und Fahrer aus dem ehemaligen Ostblock die Preise, immer strengere Sicherheitsstandards, mehr Kontrollen und höhere Strafen machten den Beruf eigentlich längst unrentabel. Die Jahrzehnte im Fahrersitz hatten seine Wirbelsäule ruiniert, mangelnde Bewegung – und ja, seine Frau hatte recht, ungesunde Ernährung – seinen Blutdruck. Eigentlich wäre er längst reif für eine Frührente. Doch Manuel Amirá hatte ein kleines Häuschen südlich von Léon abzubezahlen, seine Tochter studierte, und gelernt hatte er nichts anderes. Bei einer Arbeitslosigkeit in Spanien von fast fünfundzwanzig Prozent musste er sich glücklich schätzen, überhaupt einen Job zu besitzen. Im Rückspiegel glänzte die schimmernde Rundung der Tanks, beleuchtet von den Scheinwerfern des Tanklastwagens, der, wie üblich in Lkw-Konvois, knapp hinter ihm fuhr, um den Windschatten auszunutzen, auch wenn der Sicherheitsabstand dadurch viel zu gering war.
Als der Strom ausgefallen war, hatte Amirá tiefgefrorene Rinderhälften in Norwegen verladen, um sie nach Griechenland zu bringen. Wusste der Teufel, warum die Griechen norwegische Rinder essen mussten. Doch dann war ihm mitten in Deutschland der Sprit ausgegangen. Die Tankstellen pumpten nichts mehr. Binnen eines Tages waren seine Rinderhälften vergammelt. Und er saß fest. Auf einer Tankstelle irgendwo zwischen Hannover und Nürnberg. Drei Tage lang. Von seiner Familie hatte er seither nichts mehr gehört. Am dritten Tag war das Militär aufgetaucht, hatte ein paar Latrinen gegraben, Wasser und Lebensmittel verteilt und war wieder abgezogen. Zwei Tage später waren sie zurückgekommen. Sie hatten begonnen, die Lkw-Fahrer zu rekrutieren. Sie boten Unterkunft, Verpflegung und sogar Bezahlung, wenn auch erst zu einem späteren Zeitpunkt. Für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Wasser wurden dringend Fahrer und Wagen gesucht. Amirá hatte sich dazu bereit erklärt. Sie hatten seinen Tank mit etwas Diesel gefüllt und ihm den Weg zum nächsten Zentrallager gewiesen. Zwei Tage lang war er zwischen den Lagerhäusern und Verteilerstellen hin- und hergependelt. Am zweiten Tag war sein Lkw mit Motorschaden liegen geblieben. Während sich Militärmechaniker um eine Reparatur bemühten, was angesichts schwer lieferbarer Ersatzteile mühselig war, wurde Amirá auf den Sitz eines Tanklasters gesetzt. Mit diesem sollte er die Notstromsysteme von Hilfsorganisationen und Krankenhäusern, chemischen Anlagen, Behörden und Firmen versorgen. Sein aktueller Transport führte ihn in den Westen zu einem Atomkraftwerk irgendwo zwischen Karlsruhe und Mannheim. Er hatte keine Ahnung, wozu die Diesel benötigten, irgendjemand hatte behauptet, auch für Notstromsysteme. Amirá hatte sich nie damit beschäftigt, fragte sich aber, wozu ein Kraftwerk Notstromsysteme benötigte. Konnte es seinen Strom nicht selbst erzeugen? Der Transport musste wichtig sein, denn vor ihm und am Ende des Konvois aus drei Wagen, jeweils mit Anhänger, begleiteten sie Militärfahrzeuge mit bewaffneten Soldaten.
Amirá blinzelte abermals den Schlaf weg, als die roten Bremslichter des Autos vor ihm aufleuchteten. Er hieb seine Ferse in die Bremsen, doch er war zu nah dran. Er riss das Steuer herum, um die Soldaten mit der Wucht seines Wagens nicht zu zerschmettern, geriet auf die linke Spur, prallte gegen die Leitplanken, kurbelte das Lenkrad zurück und rammte den Militärlaster auf dessen linker Seite. Sein Laster schob ihn durch die rechte Leitplanke auf ein Feld, wo er samt Insassen zur Hälfte unter seiner Fahrerkabine verschwand, während Amirá spürte, wie hinter ihm die Tanks kippten. Er versuchte gegenzusteuern, ahnte mehr als er im Rückspiegel sah, dass der Wagen hinter ihm ungebremst in den quer stehenden Anhänger voller Treibstoff raste, der sich in eine große, gelbe Wolke verwandelte. Im Rhythmus der einschlagenden nachfolgenden Wagen wuchs eine zweite, dritte, vierte Wolke zu einem gigantischen Feuerball, um welchen die Zeit stillzustehen schien, bevor er Amirás Fahrerkabine umschloss, deren Scheiben zerbarsten, und binnen eines Atemzuges alles im Umkreis von zweihundert Metern zu Asche verglühte.
Aachen
Manzano wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Irgendwann musste er trotz des Gestanks, des harten Bodens, der bedrohlichen Gesellschaft in dem Obdachlosenheim eingenickt sein. Hinter ihm lag Shannon, gegen die Wand gedrückt, ihr schwerer Atem deutete darauf hin, dass auch sie eingeschlafen war.
Manzano hörte ein Rascheln. Er öffnete die Augen einen Schlitz weit. Die Kerze war endgültig abgebrannt und verloschen. Trotzdem huschte ein schwacher Schein neben ihm über den Boden.
Da war noch ein Atemgeräusch, ganz in der Nähe. Manzano spürte die Anwesenheit eines anderen Menschen außer Shannon, direkt neben sich, über sich. Da war ein Schatten, Beine vor seinem Gesicht. Jemand beugte sich über ihn, versuchte, zu Shannon zu gelangen.
Manzano fuhr hoch, rammte der Person seinen Kopf und einen Ellenbogen in den Bauch. Der andere strauchelte, fiel zwischen den Betten auf den Boden. Eine kleine Stabtaschenlampe rollte davon.
Manzano spürte, dass der Mann noch immer etwas Schweres in der Hand hielt. Shannons Seesack! Der Asylwärter hatte sie vor Dieben gewarnt.
Der Lärm weckte die anderen.
»Dieb!«, brüllte Manzano. »Helft mir!«
Jemand stürzte sich auf seinen Widersacher, aber auch an Manzanos Armen zerrten Hände. Das Licht der Taschenlampe blendete ihn kurz, fuhr wild durch den Raum. Manzano fühlte sich wie gefesselt, während der andere mit dem Seesack durch den Vorhang hinausstürmte.
»Bleiben Sie stehen! Hilfe!«, rief er. Mit einem dumpfen Geräusch lockerte sich der Griff um seinen Körper, hinter ihm fiel jemand zu Boden, Shannon stürzte an ihm vorbei, die Taschenlampe in der Hand.
Im Zimmer wurde es wieder stockdunkel.
So schnell wie möglich folgte er Shannon. Zurück ließ er ihre grölenden, schimpfenden, feixenden Zimmergenossen.
Manzano wurde schlecht vor Zorn, während er sich durch den Flur zum Ausgang tastete. Diesen Menschen hier ging es ohnehin schon so dreckig. Sie mussten doch wissen, was es bedeutete, wenn einem noch die letzten Habseligkeiten geklaut wurden! Nicht ahnen konnten sie natürlich, dass der Computer in Shannons Seesack womöglich die einzige Spur zu den Verursachern der ganzen Katastrophe beinhaltete.
Shannon kam ihm entgegen.
»Wo ist er?«, keuchte sie.
»Keine Ahnung«, antwortete Manzano. »Ich dachte, du warst hinter ihm her.«
»Verdammt!«, fluchte sie. »Verdammt! Da drin war mein ganzes Zeug! Und dein Computer! Aber er ist nicht raus, das hätte ich gesehen. Das heißt, er muss sich in einem der anderen Kabuffs versteckt haben.«
Sie lief bis zum Eingang, riss dort den ersten Vorhang zur Seite und leuchtete in den Raum. Beim Durchgang gegenüber dasselbe Spiel. Und weiter. Den nächsten Raum durchsuchte Manzano mit ihr. Shannon leuchtete mit der Lampe unter jedes Bett. Aus einem sprang ein Mann auf sie zu, stieß sie zu Boden, rempelte Manzano um, der aus den Augenwinkeln noch erkannte, dass der Typ unter einem anderen Bett ein Bündel hervorzog, das Shannons Seesack sein konnte.
Shannon hatte sich schon wieder hochgerappelt und rannte ihm hinterher. Manzano brauchte etwas länger, dafür hatte er jetzt die Lampe.
Auf dem Flur erblickte er von Shannon nur noch einen Schemen in der Tür, durch die sie sich warf. Wirklich, sie sprang kopfüber hinaus! Manzano hörte einen Schrei, humpelte, so schnell er konnte. Auf der Straße fand er ein Menschenknäuel über den Bürgersteig rollen. Manzano stürzte dazu, packte den Dieb bei den Haaren und riss ihn daran hoch. Mit einem Schrei ließ der Shannon los. Manzano schlug und trat auf ihn ein, spürte nichts mehr, nur die rasenden Bewegungen seines Körpers, bis ihn jemand von hinten umklammerte und ankeuchte: »Ist genug! Es reicht!«
Shannon musste ihn noch fester drücken, bevor er sich in den Griff bekam. Vor ihm auf dem Boden lag der Mann, wollte sich hochstemmen, knickte ein, robbte langsam davon, fluchte, spuckte, röchelte, hustete. Shannon ließ Manzano los und schnappte sich den Seesack.
Von der Eingangstür des Asyls her kam der Laternenträger, im Schlepptau zwei andere. Sie beugten sich zu dem Davonkriechenden.
»Er wollte uns ausrauben!«, rief Manzano.
»Verpisst euch«, forderte der Heimleiter. Und zu dem Verletzten, der jetzt an die Hauswand gelehnt saß: »Du auch. Ich will keinen von euch mehr hier sehen.«
Sprach’s, verschwand im Haus und schloss die Tür hinter sich.