Den Haag
Bollard heftete das Foto eines Gebäudes neben die ganzen Blätter um Balduin von Ansen. Die Architektur des Hauses erschloss sich Manzano nicht sofort.
»Diesen Komplex im asiatischen Teil Istanbuls kaufte vor eineinhalb Jahren eine Firma namens Süper Kompüter, die laut unseren Informationen aus der Türkei das Gebäude an sechs verschiedene Unternehmen aus verschiedenen Branchen vermietet. Das Haus liegt in einem belebten Stadtteil mit vielen internationalen Unternehmen. Ausländer fallen hier nicht auf. Die türkischen Ermittler sind tiefer in die Beteiligungsverhältnisse der Firmen eingestiegen und haben sich deren Geschäfte genauer angesehen, indem sie Bankverbindungen und Finanzamtsdaten der vergangenen Jahre untersuchten. Gleich den ersten Treffer gab es bei den Besitzern. Geschäftsführer einer Firma ist John Bannock, den wir ja bereits kennen. Teilhaber einer zweiten ist kein anderer als Doktor Lekue Birabi, Pucaos Kontakt aus Nigeria.« Er hängte einen Ausdruck daneben. »Bezahlt wurde nach Überweisung von insgesamt rund zwei Millionen Euro von der Costa Ltd., der Esmeralda und zwei weiteren Firmen an die Süper Kompüter.« Er tippte mit seinem Finger auf die Aufnahme des gesichtslosen Gebäudes. »Hier sitzt wahrscheinlich ein Teil der Terroristen. Die türkischen Kollegen haben mit der Überwachung begonnen.«
Ratingen
»Sind Sie der Anregung nachgegangen?«, fragte Hartlandt.
»Die Instrumentenanzeigen, ja«, antwortete Wickley. »Wir haben nichts gefunden.«
»Zeigen Sie die Programmteile meinen Leuten«, forderte Hartlandt ihn auf. »Die sollen noch einmal drüberschauen.«
Wickley und Dienhof tauschten einen kurzen Blick, der Hartlandt nicht entging.
»Was?«, fragte er scharf.
»Natürlich«, erwiderte der Vorstand. »Bekommen Sie. Dienhof, Sie kümmern sich darum.«
Hartlandt schien, dass der Angesprochene seinen Chef verunsichert musterte, und hatte das Gefühl, dass die beiden ihm etwas verheimlichten. Wickley würde er nicht knacken. Bei Dienhof hatte er eine Chance.
»Funktionierende Kraftwerke sind essenziell für den Wiederaufbau der Netze«, erklärte Hartlandt geduldig, was die beiden ohnehin wussten. Doch er musste Dienhof die Tragweite verdeutlichen. »Die Netzbetreiber sind nahe dran, die Kontrolle zurückzugewinnen. Aber sie benötigen ausreichend Stromproduzenten, die liefern können. In zwei Kernkraftwerken herrschen äußerst kritische Situationen. Ich weiß, Sie entwerfen keine Software für AKWs. Aber die beiden Werke brauchen dringend Strom aus dem regulären Netz. Haben Sie von der Katastrophe in Frankreich gehört?«
Sorgfältig beobachtete er die Reaktion der beiden auf seinen Vortrag.
»Grauenvoll«, sagte Wickley.
Dienhof nickte.
»Wir dürfen nicht zulassen, dass so etwas bei uns passiert.«
Hartlandt wartete.
»Ich möchte Ihnen, ähm …«, Dienhof räusperte sich, »etwas zeigen.«
Wickley schloss für einen Moment die Augen, und als er sie wieder öffnete, erkannte Hartlandt in ihrem Ausdruck, dass er gewonnen hatte.
Berlin
»Ein sechzigköpfiges Team der GSG 9 und eines der britischen Special Forces sind unterwegs, um die türkischen Kollegen gegebenenfalls zu unterstützen«, erstattete der Außenminister Bericht.
»Wieso gegebenenfalls?«, fragte der Bundeskanzler.
»Noch fehlt uns die Bestätigung, dass sich die Verdächtigen tatsächlich dort befinden.«
»Außerdem wird uns eine Verhaftung oder Ausschaltung wahrscheinlich nicht helfen, die Netze schneller wieder aufzubauen«, wandte der Innenminister ein.
»Aus Philippsburg und Grohnde kommen beunruhigende Nachrichten«, fügte die Ministerin für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hinzu. »Der Dieselnachschub ist längst eingetroffen, trotzdem bekommen sie die Notstromsysteme nicht in den Griff.«
»Evakuierung im Umkreis von fünf Kilometern ist angeordnet«, erklärte Michelsen auf den fragenden Blick des Kanzlers. Sie fühlte sich unendlich müde. »Der Krisenstab in Baden-Württemberg hat Schwierigkeiten, mit den örtlichen Verantwortlichen die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Sondereinheiten der Bundeswehr sind unterwegs. Die Niedersachsen haben mehr Glück. Östlich von Grohnde, rund um Hildesheim, bestand eine Strominsel, die in den letzten Stunden sukzessive ausgeweitet werden konnte. Von dort aus fällt die Koordination der Evakuierung leichter. Solange die Strominsel nicht evakuiert werden muss.«
»Hieß es nicht, dass mindestens zwei Zentralen der Terroristen existieren?«, fragte der Bundeskanzler.
»Die zweite wird in Mexiko vermutet«, bestätigte der Außenminister. »Wahrscheinlich steuert sie den Angriff auf die USA.«
»Ist das heutzutage nicht egal?«, fragte der Kanzler. »Wenn die uns über das Internet angreifen, können sie das ja von jedem Ort der Welt. Was nützt es uns da, wenn wir welche in Istanbul ausheben? Springen die in Mexiko ein. So ist das wahrscheinlich gedacht.«
McLean
»Mexico City ist ein Moloch«, sagte Shrentz. »Schon mal dort gewesen?«
»Washington ist mir Moloch genug«, erwiderte Price.
»Neun Millionen Einwohner«, erklärte Shrentz. »Ein wunderbarer Platz, um sich zu verstecken.«
»Kommen Sie zur Sache.«
Shrentz legte Ausdrucke von Listen und Fotos vor Price aus. Ein paar zeigten Porträts und weniger scharfe Ganzkörperaufnahmen eines Mannes, andere ein Gebäude.
»Geldflüsse der Verdächtigen, denen Europol schon seit ein paar Tagen auf der Spur war, führten zu diesem Gebäude in Mexico City. Wurde vor zwei Jahren von einem gewissen Norbert Butler gekauft. US-Bürger, seit Jahren in engem Kontakt mit den anderen Hauptverdächtigen, fanatischer Staatsgegner, in den Gründungsmonaten bei der Tea Party 2009 aktiv, seit vier Monaten abgetaucht.«
»Der arbeitet mit Linksanarchisten wie diesem Pucao oder gar einem Schwarzafrikaner wie Lekue Birabi zusammen?«
»Links oder rechts, Hauptsache gegen den Staat, wie es scheint. Vereint durch den Hass auf das herrschende System und den Versuch, es auszulöschen.«
»Aber der würde doch nie amerikanische Staatsbürger töten.«
»Weshalb nicht? Der schlimmste Terrorangriff eines US-Bürgers gegen eigene Landsleute auf US-Boden kam aus genau dieser Ecke des politischen Spektrums: konservative Staatshasser. Timothy McVeigh hatte nicht einmal Skrupel, bei seinem Anschlag in Oklahoma City 1995 einen Kindergarten mit in die Luft zu sprengen.«
»Viele US-Bürger kaufen Immobilien in Mexiko.«
»Aber nur Butler stand seit Jahren in Verbindung mit den Verdächtigen. Nachfragen bei den mexikanischen Behörden haben ein ähnliches Bild wie in Istanbul ergeben. Verschachtelte Firmenkonstruktionen, gewaltige Internetanbindungen für die Firmen im Haus. Die mexikanische Polizei hat mit der Überwachung begonnen.«
»Ich informiere den Präsidenten.«
Den Haag
»Du willst jetzt weg?«
Bollard hörte die Panik in der Stimme seiner Frau.
»Von wollen kann keine Rede sein. Ich muss. Wir sind nahe dran, diese Katastrophe zu beenden und die Verursacher zu schnappen.«
Sie standen vor dem Kamin, dem einzigen warmen Platz im Haus. Die Kinder drängten sich an ihre Mutter und blickten ihn aus ängstlichen Augen an. Er wies auf die Pakete, die er neben der Tür abgestellt hatte.
»Da drin sind Lebensmittel und Wasser für drei Tage. Vielleicht habt ihr morgen schon wieder Strom. Und übermorgen bin ich wahrscheinlich auch schon wieder da.«
»Ist das gefährlich, was du da machst?«, fragte Bernadette besorgt.
»Nein, mein Schatz.«
Er bemerkte den Blick seiner Frau.
»Wirklich«, versicherte er ihr. »Für die kritischen Einsätze sind Spezialkräfte zuständig.«
Seine Frau schob die Kinder ein wenig zur Seite. »Geht spielen.«
Die beiden gehorchten widerwillig, blieben aber in der Nähe.
»Da draußen herrscht Anarchie«, zischte sie.
»Du hast die Pistole.« Ihr entsetzter Blick zeigte ihm, dass sie die Waffe mehr als Bedrohung denn als Schutz sah. »Übermorgen, wenn der Strom wieder da ist …«
»Kannst du das garantieren?«
»Ja«, log er, so gut er konnte.
Seine Frau betrachtete ihn lange, bevor sie fragte: »Hast du etwas von den Eltern gehört?«
»Noch nicht. Es geht ihnen sicher gut.«
Orléans
»Du solltest dir das nicht ansehen«, sagte Celeste Bollard und legte ihre Hand auf Annette Doreuils Schulter.
Annette Doreuil versuchte nicht, die Hand abzuschütteln, stemmte sich aber gegen den Versuch, sie von der Szene vor ihnen wegzudrehen.
In etwa fünfzig Meter Entfernung luden Männer mit Handschuhen und Gesichtsmasken leblose Körper von der Ladefläche eines Lastwagens. Sie packten sie an Händen und Füßen und warfen sie in eine Grube, die etwa zwanzig Meter lang und fünf Meter breit war. Die Tiefe konnte sie nur schätzen.
Am Rand des Grabens stand ein Priester und versprengte Weihwasser. Mit versteinerter Miene und gefalteten Händen verfolgte sie das Schauspiel. Einige Schritte neben ihr stand eine ältere Frau allein, noch etwas weiter ein junges Paar, schluchzend, insgesamt wohnten gut zwei Dutzend Menschen der Notbestattung bei.
Dann erkannte Doreuil die schlanke Gestalt ihres Mannes in den Händen der Bestatter. Sie holten Schwung, und er war in dem Loch verschwunden. Annette Doreuil flüsterte »Adieu« und biss sich auf die Lippen. Sie dachte an ihre Tochter, an die Enkel, auf deren Besuch er sich so gefreut und die er nicht mehr gesehen hatte.
Nachdem die Männer die letzten Leichen in dem Massengrab versenkt hatten, schaufelten sie aus Säcken einen weißen Staub darauf. Anschließend schob ein Bagger eine Schicht Erde in das Loch.
Neben sich hörte Doreuil jemanden weinen. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zitterte, presste sie heftig gegen die Zähne. So stand sie ein paar Minuten da, hörte nichts, fühlte nichts, außer einer tiefen Leere. Endlich gab sie Celeste Bollards sanftem Druck nach. Sie hatten noch den langen Rückweg zu Fuß ins Notquartier vor sich. Sie bekreuzigte sich, flüsterte ein letztes »Adieu« und wandte sich zum Gehen.
Kommandozentrale
Siti Jusuf war damit aufgetaucht. Er hatte die überwachte Kommunikation seit Beginn des Ausfalls analysiert. Dabei war ihm etwas aufgefallen. Er hatte die Häufigkeit bestimmter Stichwörter überprüft und war auf einen interessanten Umstand gestoßen. Interessant, so nannte er es. Seit Sonntag war nicht nur der Umfang der Kommunikation laufend weniger geworden, auch die Zusammensetzung der am häufigsten erwähnten Stichwörter hatte sich verschoben. In der ersten Woche nach Beginn der Attacke hatten sich die Krisenzentren und Behörden nicht nur über das Management der Hilfe ausgetauscht, sondern auch über die Suche nach den Verursachern. Begriffe wie »Ermittlungen«, »Terroristen« lagen in den Ranglisten weit vorn. Doch parallel zur Abnahme der Kommunikation verringerten sich genau diese Begriffe. Drastisch. Ja, sie verschwanden fast.
Am Sonntag waren sie auf die E-Mails aufmerksam geworden, in der die Mitarbeiter der Behörden angewiesen wurden, ihre Computer nur noch anzuschalten, wenn es wirklich notwendig war. Das hatte die verringerte Kommunikation erklärt.
Und was, fragte Jusuf, wenn diese Meldung gar nicht für die angesprochenen Mitarbeiter bestimmt war? Sondern für uns?
Wenn irgendwer die Überwachung entdeckt hatte und die Meldung verschickt worden war, damit die Überwacher sie lasen? Als Erklärung für die folgende Änderung der Kommunikationsmuster?
Eine heftige Diskussion entbrannte. Einige wurden nervös. Erinnerten an die E-Mail, die sie erst am Vortag entdeckt hatten, mit dem markierten Bild. Eine E-Mail, die einen Tag vor der »Energiespar«-Mail versandt worden war.
Hatten sie deshalb keine Kommunikation mehr dazu gefunden? Weil diese außerhalb der überwachten Kanäle geführt wurde? Waren ihnen Polizei und Nachrichtendienste der halben Welt womöglich längst auf den Fersen?
Selbst wenn sie Namen herausbekommen hatten, wandten andere ein, hatten sie kaum eine Chance, uns zu finden. Sie hatten ihre Spuren gut verwischt, falsche gelegt. Taten es noch. Niemand brauchte sich zu ängstigen. Auch für danach hatten sie alles vorbereitet. Neue Namen, neue Ausweise, neue Leben. Sie versicherten sich gegenseitig, ab sofort genauer aufzupassen. Auch wenn sie vor die Tür gingen. Doch selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass jemand sie daran hinderte, ihre Mission selbst zu Ende zu führen, hatten sie vorgesorgt. Sie konnten vielleicht gestoppt werden. Ihre Sache würde niemand aufhalten.
Transall
»Jackpot«, flüsterte Bollard über den Laptop gekrümmt. Niemand hörte ihn im Lärm der Propellermaschine.
Kurz nach der Entdeckung der möglichen Terrorzentrale in Istanbul war Bollard per Hubschrauber zum deutschen Fliegerhorst Wahn am Flughafen Köln/Bonn geflogen worden. Dort war er in eine Transall-Maschine der deutschen Bundeswehr umgestiegen, in der gleichzeitig GSG-9-Teams aus dem nahen Sankt Augustin eintrafen.
Die Satellitenverbindung im Flugzeug funktionierte. Während des Flugs hatte Bollard sich über die neuen Erkenntnisse der RESET-Analyse und der übrigen Ermittlungen auf dem Laufenden gehalten.
Selbstverständlich würde er an einem möglichen Einsatz nicht direkt teilnehmen, dazu war er weder befugt noch ausgebildet. Direktor Ruiz wollte jedoch einen Europol-Vertreter mitschicken, der mit den Ermittlungen vertraut war. So saß er nun in der lauten Maschine zwischen sechzig durchtrainierten Männern, denen man die Erschöpfung der vergangenen Tage nicht ansah. Bollard verstand nicht, worüber sie sich unterhielten. Dem gelegentlichen Lachen nach schienen sogar Scherze dabei zu sein. Er selbst saß an einem Tischchen, um das sich vier Sitze gruppierten. Zwei davon besetzten die Kommandanten der Teams. Jetzt drehte er den Computer so, dass auch sie den Bildschirm sehen konnten.
Er wies sie auf die neuesten Bilder des Istanbuler Hauses hin. Unscharfe, körnige Aufnahmen zeigten zwei Männer beim Verlassen und Betreten des Gebäudes, einen dritten und eine Frau in Fenstern desselben.
»Pedro Munoz«, erklärte Bollard triumphierend und deutete auf die erste Überwachungsaufnahme. Dazu blendete er ein Porträtfoto des Genannten ein.
»John Bannock. Maria Carvalles-Tendido. Hernandes Sidon.«
Auch von ihnen lud er Bilder auf den Schirm, damit die Umsitzenden die Gesichter mit jenen der Überwachungsfotos vergleichen konnten.
»Ich schätze, Ihre Männer können sich auf einen Einsatz einstellen.«
Brauweiler
Gespannt saß Jochen Pewalski, Leiter der Systemführung Netze der Amprion GmbH, vor den Bildschirmen und beobachtete den Versuch des zuständigen Netzbetreibers im südlichen Ostdeutschland, das Netz wiederaufzubauen. Er und seine Familie waren bisher ganz gut über die Runden gekommen. Die Notstromanlage im Keller hatte sie mit Elektrizität, die eigens für solche Fälle errichtete Zisterne mit Wasser versorgt. Zunehmend schwieriger war der Umgang mit bedürftigen Nachbarn und Verwandten aus der näheren Umgebung geworden. Pewalski hatte sie strikt abgewiesen, seine Frau war nicht immer so konsequent gewesen. Zumindest stundenweise hatte sie die Frierenden eingelassen, Hungernde und Durstende verköstigt. Was auf Kosten ihrer eigenen Reserven ging. Pewalski hatte für drei Wochen eingelagert. Noch musste er sich keine Sorgen machen.
Seit vorgestern hatte der Andrang nachgelassen, nachdem der letzte Tropfen des Notdiesels verbraucht war.
Er selbst hatte ohnehin nicht viel davon gehabt, außer der Gewissheit, dass es seiner Familie einigermaßen gut ging. Seine Zeit hatte er in erster Linie in der Zentrale verbracht. Seit Tagen arbeitete er mit einer Rumpfmannschaft, und inzwischen konnte er nicht einmal mehr alle Arbeitsplätze in einer der wichtigsten europäischen Netzleitzentralen besetzen. Oft musste er selbst an einen der Tische mit den vielen Bildschirmen. So wie jetzt. Sein Nachbar war ein wenig aufgerückt. Er behielt seinen Schirm zwar im Auge, wollte aber mitverfolgen, ob es den Kollegen im Osten gelingen würde, einen weiteren Teil des Netzes aufzubauen, nachdem die Terminals und Server ihrer Leitstelle wieder funktionstüchtig waren.
»Markersbach und Goldisthal laufen ja schon einmal«, stellte Pewalski fest. Die beiden Pumpspeicherkraftwerke nahe der tschechischen Grenze waren schwarzstartfähig. Sie hatten es einfach, mussten nur das Wasser aus den höher gelegenen Speicherreservoirs durch die Turbinen strömen lassen, und Strom wurde erzeugt. Das hieß, sie konnten ohne Hilfe von außen den Betrieb aufnehmen. Er betete, dass die Verantwortlichen rechtzeitig begriffen hatten, wie wichtig volle Becken für den Wiederaufbau der Netze sein würden, und dass sie nicht in der Not oder unter dem Druck regionaler Politiker für ein paar Stunden leuchtender Lampen geleert hatten.
Sobald dies gelungen war, würden die Operatoren versuchen, von Markersbach aus über die Leitung durch Röhrsdorf nach Bärwald das dortige Braunkohlekraftwerk Boxberg anzuwerfen. Thermische Kraftwerke wie Boxberg kamen von allein nicht mehr so leicht hoch, wenn sie einmal abgeschaltet und die Generatoren ausgekühlt waren. Für den Neustart benötigten sie hohe Energiedosen von auswärts. Pewalski hoffte, dass die Kommunikation mit Markersbach gut organisiert war, da diese immerhin zwei Turbinensätze im Phasenschieberbetrieb laufen lassen mussten. Das Braunkohlekraftwerk Lippendorf würde durch die Leitung über Remptendorf aus Goldisthal versorgt.
Sollte dieser kleine Netzaufbau gelingen, würde von dort aus die östlichste Regelzone der Bundesrepublik nach und nach aufgebaut und wie auch die mittlere Regelzone mit Spannung versorgt werden.
»Komm!«, flüsterte Pewalskis Nachbar, »komm!«
Berlin
Alle waren sie wieder auf den Bildschirmen versammelt, inklusive der neuen Köpfe aus Portugal, Spanien und Griechenland. Für die NATO-Spitze musste diesmal ein Bildschirm genügen, zugeschaltet war auch das Weiße Haus.
Auf den sechs Bildschirmen in der untersten Reihe sah Michelsen verschiedene Ansichten der Gebäude in Istanbul und Mexico City aus der Perspektive von Überwachungs- und Helmkameras. Die Bilder aus Istanbul, wo schon Nacht herrschte, waren grün und schemenhaft, in Mexico City schien die Sonne.
Michelsen hatte die vorangegangenen Diskussionen nicht mitbekommen. Doch seit der Entdeckung der mutmaßlichen Terrorzentralen war nie echter Zweifel aufgekommen, sie so schnell wie möglich zu deaktivieren. Sämtliche Kommunikation dafür war über absolut abhörsichere Systeme geführt worden, die Angreifer durften keine Ahnung von ihrer Entdeckung haben. Einheiten der türkischen Spezialtruppe Bordo Bereliler würden gemeinsam mit den Männern der GSG 9 und des Secret Service in Istanbul angreifen. In Mexico City waren vor Kurzem zweihundert Navy Seals eingetroffen, die zusammen mit mexikanischen Truppen den Einsatz durchführen würden.
Auf ein gemeinsames Kommando hin würden an zwei verschiedenen Enden der Welt Einsatzteams synchron losschlagen. Zuerst würden den Gebäuden auf einen Schlag sämtliche Internet- und Stromverbindungen gekappt. Dann waren die Spezialeinheiten dran.
»Die Hinweise sind erdrückend«, erklärte der Bundeskanzler. »Wir geben ein ›Go‹. Hat irgendjemand Einwände?«
Nicht einmal die NATO-Generäle, deren China-These unter die Räder gekommen war, meldeten sich zu Wort.
Die Polizisten und Soldaten hatten den ausdrücklichen Befehl bekommen, die Zielpersonen unter allen Umständen lebend zu ergreifen. Auch wenn die Netzwiederherstellung in Europa erfreuliche Fortschritte machte, wollte niemand das Risiko eingehen, dass womöglich wichtiges Wissen mit dem Tod der Attentäter verloren ging. Zumal diese in den USA anders vorgegangen waren als in Europa, die Techniker also nicht von europäischen Lösungen auf amerikanische schließen konnten.
»Dann geben wir unseren Leuten den Befehl zum Einsatz«, schloss der US-Präsident.
Istanbul
Er brauchte frische Luft. Jeder von ihnen saß achtzehn Stunden oder mehr pro Tag vor den Bildschirmen, da musste man auch einmal raus. Er nahm den Weg durch den Keller. Diesen Durchbruch hatten sie extra geschaffen. Auch wenn er wusste, dass sich einige der anderen nicht an die Sicherheitsmaßnahme hielten, er blieb dabei. So trat er erst zweihundert Meter von ihrem Quartier entfernt durch den Ausgang des Nachbargebäudes an die Nachtluft. Draußen herrschten nicht mehr als fünf Grad über Null. Trotzdem belebte um diese Abendzeit reges Treiben die Straße, der Verkehr staute sich. Kaum vorstellbar, dass dieses Leben nur wenige hundert Kilometer weiter praktisch zum Erliegen gekommen war. In ein paar Wochen oder Monaten würden die Folgen auch hier spürbar werden und früher oder später dieselbe heilende Wirkung entfalten wie in Europa und den USA. Er schloss die Jacke und atmete tief durch. Entspannt schlenderte er an den Schaufenstern entlang. Lauter überflüssiges Zeug. Bald würden sich die Menschen auf Wichtigeres besinnen. Müssten. Die Autos, würden sie auch hier brennen, wie es die Korrespondenten der asiatischen und lateinamerikanischen Sender aus den Städten Europas und der USA berichteten?
In der Türkei rechnete er vorerst mit einer Machtübernahme des Militärs, bevor die eigentliche Wandlung beginnen würde. Was langfristig nichts änderte. Das Hupen aus dem Stau wurde lauter, nichts ging mehr, nicht ungewöhnlich. Als er hinter sich den dumpfen Knall hörte, wandte er sich um. Einen Block weiter blitzte es aus den Fenstern eines Gebäudes, lärmend senkte sich ein Hubschrauber darüber, tauchte es in gleißendes Licht.
Passanten wandten sich der Szenerie zu, blieben stehen, schauten gebannt zu. Nun strahlten auch helle Spots von allen Seiten auf die Fassade. Ihr Haus. Durchsagen erklangen, die er nicht verstand. Ihre Bedeutung war ihm sofort klar. Er spürte, wie sich die Fäuste in seinen Taschen ballten. Vorsichtig sah er sich um, beobachtete die Menschen, die Autos. Er musste sich jetzt so unauffällig wie möglich verhalten. Die meisten Fußgänger gafften noch immer, andere setzten ihren Weg schon wieder fort. Ein Stück weiter vorn entdeckte er einen Lieferwagen mit dunklen Scheiben. Die hintere Flügeltür war geöffnet, darin sah er mehrere Polizisten. Einen erkannte er sofort. Es war der Franzose von Europol. Hatte er sie tatsächlich gefunden! So schnell! In dem Trubel auf der Straße könnte er ihm nahe genug kommen, um wenigstens ihn und ein paar der anderen auszuschalten. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Den Haag
Himmel, das ist doch keine Fußballübertragung, dachte Manzano. Er hatte sich geschworen, die Aktion nicht mitzuverfolgen. Doch die verwackelten Bilder auf den Monitoren von jeweils vier verschiedenen Kameras in Istanbul und Mexico City hielten ihn in Bann. Manzano fragte sich, wer die Perspektiven auswählte. Saß irgendwo in Langley oder Berlin – oder vielleicht in Hollywood? – ein Regisseur, der seiner Crew am Schaltpult zurief »Screen 1 Schnitt zu Helmkamera 3!«?
In Istanbul stürmten die Spezialeinheiten gerade durch einen finsteren Flur in einen Raum voller Arbeitsplätze und Computer. Dort sprangen mehrere Personen auf. Manche rissen die Arme hoch, andere warfen sich unter die Tische, hinter Stühle. Die Helmkameras zeigten Bilder panischer, verängstigter, zorniger Gesichter. Die Mikrofone übertrugen Geschrei, Kommandorufe, Trampeln, Schüsse.
Dann wurden die Bilder ruhiger. Mehrere Gefangene lagen auf dem Bauch, die Arme hinter dem Rücken gefesselt. An den verwaisten Arbeitsplätzen leuchteten die Bildschirme, auf denen Manzano nichts erkennen konnte. Zwei Polizisten arbeiteten sich vorsichtig in einen Nebenraum vor, in dem sich niemand befand, sich aber bis unter die Decke Server-Racks stapelten.
Shannon filmte quer durch den Raum, vor allem aber die angespannten Gesichter der Anwesenden, ihre verkrampften Hände an den Stuhllehnen, die verknoteten Füße. Das Haus in Istanbul schien mittlerweile unter der Kontrolle der Einsatzkräfte. Von Bollard hatten sie noch nichts gehört. Er hatte in einem der Einsatzwagen in einer Nebenstraße gewartet und sollte erst in das Gebäude, sobald es gesichert war. In Mexico City knieten zwei Seals neben einem Verletzten, legten Druckverbände an. Der Mann beschimpfte sie, grinste dann aber und zischte eine Bemerkung, die bösartig klang. Andere Seals suchten weitere Räume ab.
Zehn Minuten später kam aus Istanbul die Meldung: »Mission erfüllt, Zielobjekt übernommen, elf Zielpersonen angetroffen. Drei leicht verwundet, drei Tote.«
Nur zwei Minuten später berichtete Mexico City. Dreizehn Zielpersonen, ein Schwerverletzter, zwei Tote.
»Gratuliere!«, hörten sie die Stimme des amerikanischen Präsidenten aus den Lautsprechern. Die anderen zugeschalteten Politiker schlossen sich in ihren zahlreichen Landessprachen an.
»Beim nächsten Mal live auf Ihrem Lieblingskanal«, flüsterte Shannon hinter ihrer Kamera.
Istanbul
Mehr konnte er in Istanbul nicht mehr ausrichten. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr er zum Flughafen Atatürk. Den Schlüssel für sein Schließfach trug er immer bei sich, wenn er das Haus verließ. Dort fand er die falschen Papiere und das Geld. Der Flughafenbetrieb lief normal, nur die europäischen und US-amerikanischen Destinationen fehlten auf den Anzeigetafeln.
Wenn die Polizei ihre Zentrale gefunden hatte, kannten sie vermutlich auch schon die Ursache der Ausfälle und konnten diese beheben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis erste Flüge wieder in die wichtigsten europäischen Städte abhoben. Blieb die Frage, wie genau sie über ihre Truppe Bescheid wussten. Sie verdächtigten ihn zumindest, dabei zu sein. Je mehr sie von den anderen kannten, desto mehr würden sie bei der Erstürmung des Gebäudes vermissen, saß doch die Hälfte von ihnen in Mexico. Die fehlenden würden sie womöglich auf der Flucht wähnen und den Flughafen überwachen. Aber da traute er seinen neuen Papieren, dem veränderten Haarschnitt und dem Schnurrbart. Ob sie Mexico City auch enttarnt hatten? Er suchte sich einen bequemen Platz mit Blick auf einen der Fernseher, die Nachrichten brachten. Auch wenn er sie nicht hören konnte, die Bilder würden ihm genug erzählen. Er konnte warten. Ihre Vorkehrungen würden ihre Arbeit fortführen. Sollten die ruhig glauben, dass alles vorbei war. Er wusste es besser.
Den Haag
»Es ist vorbei«, erklärte Bollard am Bildschirm. Die Übertragung pixelte sein Gesicht immer wieder, ließ seine Bewegungen wie die eines Roboters wirken. »Wir haben fast alle von unserer Liste, bis auf Pucao und Jusuf.«
In der Europol-Zentrale war trotzdem niemandem zum Feiern zumute. Zu schwer lasteten die vergangenen Tage auf den Anwesenden. Ihnen allen war bewusst, dass die Katastrophe noch längst nicht vorbei war.
»Gibt es Anhaltspunkte für ihren Verbleib?«, fragte Direktor Ruiz.
»Noch nicht. Wir wissen nicht einmal, ob sie hier waren. Ist der Strom schon wieder da bei euch?«
»Leider noch nicht«, entgegnete Christopoulos.
»Ich habe eine Bitte, Janis: Fahr zu meiner Frau und richte ihr aus, dass es mir gut geht. Kannst du das für mich tun?«
»Mache ich«, sagte der Grieche.
»Gib dich gut zu erkennen«, mahnte Bollard. »Sie ist sehr vorsichtig dieser Tage. Ich melde mich wieder.« Sein Gesicht verschwand vom Bildschirm.
»Und ich gehe jetzt schlafen«, sagte Manzano in Shannons Kamera, die noch immer alles filmte.
Ybbs-Persenbeug
Herwig Oberstätter blickte über die drei roten Riesen in der Generatorenhalle des Südkraftwerks. In seiner rechten Hand knackte der Lautsprecher des Funkgeräts.
Mit einem Spezialboten des Militärs war das Update von Talaefer vor drei Stunden eingetroffen.
»Das ist alles?«, wunderten sich die IT-Techniker. Die Anzeigen. Jemand hatte einen Programmteil manipuliert, der die Anzeigen verrücktspielen ließ.
Das verantwortliche Unternehmen ist ruiniert, dachte Oberstätter. Aufträge bekommen die nie wieder, Schadenersatzklagen würden ihm den Rest geben.
Nachdem die Techniker das korrigierte Widget eingespielt hatten, begannen im Leitstand nun Oberstätter und seine Kollegen mit den Tests und den Vorbereitungen für die Betriebsaufnahme. Keine Probleme. Trotzdem behielt Oberstätter einen Rest Skepsis, als er in die Generatorenhalle ging. Er wusste, dass seine Kollegen im Leitstand jetzt über die Geräte gebeugt standen, die Anzeigen kontrollierten und auf die nächste Fehlermeldung warteten.
Zuerst hörte er nichts. Nur an dem Vibrieren der Luft erkannte er, dass der Leitstand die Donauströmung über die Turbinen auf die Generatoren übertragen hatte, was in den Spulen zum ersten Mal seit Tagen Spannung induzierte. Aus dem Zittern der Luft wuchs ein leises, tiefes Brummen, steigerte sich, klang satter, stabilisierte sich in einem milden Dröhnen, das Oberstätter innerlich begrüßte wie den ersten Schrei eines Neugeborenen.