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Netzfund

Verfasst: 22 Nov 2022 16:38
von Smokey
​"​Mein ganzes Leben hindurch musste ich Disziplin aufbringen.
Disziplin, nicht negativ aufzufallen, von allen gemocht zu werden.
Disziplin, ordentlich zu sitzen und zu essen.
Disziplin, nicht wütend zu werden.
Disziplin, aufzupassen, nicht zu träumen, Dinge auswendig zu lernen, obwohl ich den Sinn dahinter nicht verstehe (ein nahezu unmögliches Unterfangen, sehr schmerzhaft und energieraubend – wie alles eigentlich in meinem Leben).
Disziplin, andere Mitmenschen mit meiner Denkweise nicht zu überfordern.
Disziplin mich deutlich auszudrücken und dabei nicht beleidigend zu wirken (obwohl ich das nie so meine).
Disziplin alles ordentlich zu halten, mich zu verwalten, meine Familie, für jeden da zu sein.
Disziplin gedanklich nicht immer abzuschweifen und meinen wirklich ernsthaften Gedanken nachzuhängen. Zusammenhänge zu ergründen, wo andere gar nichts sehen/erfassen können.
Disziplin nichts zu vergessen oder mich nur auf ganz Banales zu konzentrieren.
Disziplin, keine Fehler zu machen (dazu muss man besonders gut organisiert sein).
Disziplin, Disziplin, Disziplin, Motivation, Selbstreflexion usw. usw. usw.
Das ist soooo anstrengend. Es raubt mir die letzten Kräfte. Tätigkeiten und Eigenschaften, die Menschen ohne AD(H)S eben ohne große Anstrengungen, ohne große disziplinarische Maßnahmen bewältigen können und ich nur staunen kann, wenn diese dann noch anstrengenden Hobbys in Ihrer Freizeit nachhängen können.
Als Kind sagte man mir, ich soll nicht so viel träumen und mich nicht so viel ablenken lassen. Ich habe überhaupt nicht verstanden, was da falsch war an mir.
Aus meiner Sicht war ich stets hoch konzentriert, ich habe nicht geträumt. Im Gegenteil, mir kommen nur immer so viele Gedanken zusätzlich in den Sinn, die ich auf Anhieb nicht sortieren kann. Das dauert eben seine Zeit. Aus meiner Sicht war ich stets freundlich – obwohl ich in die Welt hinausschreien wollte „wie unhöflich ihr doch in EUREM Verhalten und EURER Ausdrucksweise seid“.
Ja, ich brauche länger, um etwas zu lernen. Ich bin deswegen nicht dumm, denn ich habe viele Interessen. Ich bin auf alles neugierig, möchte alles wissen und erfahren. Warum wollen denn die „Anderen“ das nicht?
Aber, wenn ich mal etwas kann – so richtig kann – dann kann ich es besser als jeder andere (der vielleicht in einer Prüfung mit einer „1“ abgeschnitten hat). Weil ich alles hinterfrage – ich gelernt habe nicht locker zu lassen – ich gelernt habe etwas durchzuziehen, etwas zu Ende zu bringen.
Wenn die wüssten, wie viel Kraft man dazu benötigt – die hätten doch alles schon aufgegeben. Denn das, was man von uns verlangt, das würde man von Normalos erst gar nicht fordern.
Ich bin nur so wütend. Ein Leben lang trichterte man mir ein, dass ich dumm bin, dass ich nicht liebenswert bin. Das eh nix aus mir wird. Wer will bzw. kann denn da noch wachsen? Verlorene Kinder-/Menschenseelen. In einer Gesellschaft, in der alles und jeder normiert wird (ist ja soooo einfach und soooo langweilig, gähn).
Ich bin stark und weigere und weigerte mich stets unter größten Anstrengungen, die Bewertungen unwissender (wirklich dummer) Menschen, die nicht fühlen, die nicht sehen, die nicht denken und fantasieren können wie ich, zu akzeptieren.
Ich bin jetzt 44 Jahre alt. Ich weiß erst seit ca. 6 Wochen, dass ich diese „Begabung“ habe. Für mich war es eine riesige Erleichterung zu wissen, dass ich so wie ich bin sein darf. Und jetzt erst recht."