Deutschland, Exportnation für Irrtümer?
Peter Sloterdijk: «Deutschland ist die größte Exportnation für Irrtümer»
Von Philosophen erhofft man sich Erklärungen. Doch der deutsche Denker warnt vor voreiligen Diagnosen: Dass wir eine Zeitenwende erleben, scheint ihm zu hoch gegriffen. Im Interview sagt Peter Sloterdijk, wieso er von einer Welt aus Kleinstaaten träumt und woran Demokratien wie Frankreich oder Amerika kranken.
Herr Sloterdijk, in Europa herrscht Krieg, Energie droht knapp zu werden, die Inflation steigt, wir haben eine Pandemie durchlebt, der Klimawandel bedroht den Planeten. Die Welt scheint aus den Fugen. Sie sind Philosoph: Können Sie uns sagen, was da los ist im Moment?
Dieses Welt-aus-den-Fugen-Gefühl ist sehr verbreitet. Weniger verbreitet ist der Fluch, den Hamlet den Worten «The world is out of joint» hinzufügt. Der lautet: Was für ein Hohn, dass ausgerechnet ich dazu geboren sein sollte, sie in Ordnung zu bringen! Das Hamlet-Dilemma zeigt: Unordnung feststellen genügt nicht. Wer merkt, was los ist, dem fällt ein Ordnungsauftrag zu.
Dass er die Welt in Ordnung bringt, wird man von einem Philosophen wohl nicht gleich erwarten. Aber Erklärungen erhofft man sich doch: Was ist Ihre Erklärung für die Lage der Welt?
Wer Rat bei Philosophen sucht, muss warten können. Wittgenstein hatte einen Gruß unter Kollegen vorgeschlagen, der lauten sollte: Lass dir Zeit! Ein Großteil des Unglücks der Menschheit ist durch voreilige Diagnosen entstanden. Wenn Marx «Proletariat» sagte, war Übereilung im Spiel, und als die Bolschewisten unter Lenin sich nach dem Putsch von St. Petersburg als macht habendes Komplott durchsetzten, wurde aus der Übereilung Überstürzung. Das Industrieproletariat war in Russland eine kaum wahrnehmbare Minderheit. Philosophisch kompetent wäre die Bemerkung, dass die Lösungen nie schlimmer sein dürften als die Probleme.
Sie zögern, eine Deutung der Weltverhältnisse zu geben. Soll man sich denn keinen Reim machen auf die Dinge?
Man soll sich Reime machen, am besten überkreuzte Reime, bei denen nicht alle Verszeilen auf denselben Reim auslaufen. Aber ohne Bild gesprochen: Reime sind Gleichklänge, sie stehen für Schlüssigkeitserlebnisse. Solche sind nötig, damit wir glauben können, es lohne sich, über die Welt nachzudenken. Werden die Erklärungen schwieriger als die ersten Befunde, ist eine Störung in der Psychoökonomie des Nachdenkens vorprogrammiert. Durch gute Erklärungen scheinen die Dinge einfacher zu handhaben.
Damit hätten Sie jetzt eigentlich den Erfolg von Verschwörungstheorien erklärt.
Ja, was die Erklärungsökonomie anbelangt, sind Verschwörungstheorien optimal gebaut. Sie fungieren als perfekte Gedankensparprogramme. Man erklärt einen Missstand durch den direkten Rückschluss auf einen verborgenen Verursacher, effektiver kann man es sich nicht machen. Wer so erklärt, gewinnt immer. Das wäre sehr schön, wenn nur die «Theorien» auch wahr wären.
Versuchen wir es einmal mit ganz konkreten Fragen zur Gegenwart: Erleben wir eine Zeitenwende?
Das ist ein großes, unkonkretes Wort, zudem eines mit einem hohen Dramatisierung-Faktor. Seit Menschen sich selbst ihre Existenz erzählen, stellen sie sich Einteilungen der Zeit vor. In der Antike unterschied man vier Zeitalter durch ihre Metallnamen, vom Goldenen zum Silbernen, zum Ehernen und zuletzt zum Eisernen. Die absteigende Reihe der Metalle beschrieb die Dekadenz des Weltlaufs, und dass wir heutigen Menschen am unteren Ende des Abstiegs leben, das meinten schon die Alten in allem zu spüren. Das frühe Geschichtsdenken arbeitete mit dem Prinzip wachsender Ungemütlichkeit.
Jedoch: Auf unsere Lebensgefühle während der letzten fünfzig Jahre können wir das Schema nicht anwenden. Wir durchliefen ja, durch den fossil energetischen Boom, eine fast kontinuierliche Erleichterungs-, Verwöhnungs- und Entspannungsspirale, ganz so, als wollten wir wieder mindestens bis in silberne Zeitalter zurück aufsteigen. Ja, es trifft zu, dass momentan die Bewegung stockt, die selbstverständlich gewordene Erwartung permanenter Verbesserung hat einen kräftigen Dämpfer erhalten. Daraus eine Zeitenwende zu konstruieren, scheint mir zu hoch gegriffen.
Im Ukraine-Krieg hat sich Europa schnell zu einer klaren Parteinahme durchgerungen. Sie sind kein Freund großer Einheiten und halten kleine staatliche Gebilde für zukunftsträchtiger. Zeigt der Krieg nicht gerade, dass große Verbünde zentral sind und der Einzelstaat relativ ohnmächtig ist?
Im Gegenteil: Wenn Sie die Hypothese von der höheren Zukunftstüchtigkeit der kleineren Einheiten konsequent durchführen könnten, dann gäbe es ja dieses übergroße Geo-Monstrum namens Russland nicht. Stattdessen existierten, sagen wir, acht oder zehn kleinere politische Einheiten, keine von ihnen wäre angriffskriegsfähig, jede aber ausreichend wehrhaft. Wir hätten einen Flickenteppich aus hübschen, kleinen, lebenswerten Kleinstaaten. Montesquieu hat schon betont, in einer kleinen Republik stehe jedem Bürger das Gemeinwohl viel deutlicher vor Augen als in den großen Gebilden, in denen Parasitismus und Privatvisums gedeihen.
Denken Sie bei den hübschen, kleinen Gebilden an die Schweiz?
Ja: Die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit der Helvetisierung der Welt sollte zumindest als regulative Idee immer wieder in Erinnerung gerufen werden, nicht zuletzt, um der Behauptung zu widersprechen, wonach die heute bestehenden Verhältnisse alternativlos sind. Der große Flächenstaat ist ein Fluch, den die Königtümer ihren demokratischen Nachfolgern in die Wiege gelegt haben, bis hinein in ihre ehemaligen Kolonien. Diese Urbelastung lässt sich bis jetzt durch keine noch so große demokratische Anstrengung wirklich kompensieren.
Vor allem in Systemen, bei denen das Mehrheitswahlrecht gilt, kann es dazu kommen, dass sich die Hälfte der Population politisch nicht vertreten fühlt. Wir kennen repräsentative Demokratien, die große Teile der Bevölkerung nicht repräsentieren. Das gilt für Frankreich in besonderem Masse, es gilt auch für Amerika. Kein Wunder, die Verfassungen dieser Länder waren ja im Grunde als Systeme zur Verhinderung von Demokratie konzipiert.
Wie meinen Sie das?
Die amerikanische Verfassung mit ihrem merkwürdigen Wahlmännersystem hatte ganz explizit den Zweck, die Stimmen der vielen durch den Filter einer aristokratischen oder patrizischen Instanz laufen zu lassen. Auf diese Weise wurde der Furcht der Herrschenden vor den Stimmungen ihrer Bevölkerung ein Instrument in die Hand gegeben. Die Wahlmänner heißen nicht zufällig Elektoren – wie die Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches.
Was Frankreichs Regierungen angeht, hatten sie immer Angst vor ihrer unruhigen Bevölkerung. Man hat also nach Möglichkeit Verfassungen konstruiert, die die Wiederholung des Aufruhrs nicht begünstigten. Und Aufruhr gab es immer, weil die bestehenden Formen der Repräsentation von nennenswerten Teilen der Bevölkerung als ungenügend erlebt wurden. Frankreich hat nach der Revolution von 1789 vier Rückfälle in die Monarchie produziert, das sollte man nicht ganz vergessen. Die auf de Gaulle zugeschnittene Verfassung der fünften Republik ist klar semimonarchisch.
Ihre Utopie ist ein Art Helvetisierung der Welt ist. Sehen Sie irgendeine Chance für ihre Verwirklichung?
Nein. Aber Utopien sind nicht dazu da, verwirklicht zu werden. Sie liefern Bilder, die den Menschen ihre gesunde Unzufriedenheit erhalten. Hände weg von der Verwirklichung, zumal was deutsche Ideen angeht. Deutschland ist, als Heimat von Karl Marx, die grösste Exportnation für Irrtümer, die die Welt bewegten. Das möchte man kein weiteres Mal riskieren. Deswegen wäre es mir nicht recht, wenn gesagt würde, ein deutscher Philosoph habe die Helvetisierung der Welt gefordert. Ideen, die aus Deutschland kommen, haben eine gefährliche Neigung zur Verwirklichung. Als Stachel im Fleisch der repräsentativen Demokratien scheint mir das Schweizer System unentbehrlich.
Utopien könnten die Menschen wohl tatsächlich brauchen: Spätestens seit der Pandemie scheint es kaum noch Zukunftsoptimismus zu geben. Das dominierende Grundgefühl ist die Angst. Nehmen Sie das auch so wahr?
Dass es Angst bestimmte Gesellschaften gibt, ist nicht ganz neu. Aber bei uns hat sich die Art der Angst geändert, sie ist vor allem Verlustangst geworden. Sie gleicht nicht der Furcht der Untertanen vor dem Herrscher, die nach Montesquieu in den Despotien dominiert. Zu diesem Thema kann man auch die Arbeiten von Dominique Moïsi lesen, einem französischen Psychopolitologen, der vorgeschlagen hat, die Weltbevölkerung in Angst-, Hoffnungs- und Ressentiment Gesellschaften einzuteilen. Grosse Teile unserer Breitengrade gehören leider in die Angstzone, während man den Chinesen und anderen Teilen der Welt, auch Indien, ein Leben im Modus der Hoffnung attestiert. Russen und Araber wiederum leben laut dieser Einteilung in einer Kultur des Ressentiments. Bei uns hat sich Verlustangst bestimmtes Empfinden im letzten Vierteljahrhundert verstärkt, auch mit politischen Konsequenzen.
Fürchten Sie sich vor der Zukunft, oder ganz konkret: Macht Ihnen die Vorstellung Angst, dass im kommenden Winter die Energie knapp werden könnte?
Ich mache keinen Wintersport! Angst vor dem Winter hatten die Menschen hierzulande bisher vor allem in Form der Befürchtung, es werde wieder keinen Schnee geben. Jetzt befürchten sie, es würde in ihren Wohnungen kühler oder die Kerzenpreise könnten ins Unermessliche steigen. Ich neige in diesen Dingen zu einer robusten Tonart. Es gibt auch so etwas wie eine berechtigte Verachtung, und mir scheint klar, dass man auch Menschen verachten muss, die den Unterschied zwischen großen und kleinen Sorgen nicht mehr verstehen. Leider gehören dazu auch viele Journalisten als berufsmäßige Betreiber von Verwechslungen.