Bundesjugendspiele: Willkommen in der Flauschokratie, ihr Lappen
Das Ende der Bundesjugendspiele sagt mehr über gesellschaftliches Selbstverständnis und deutschen Niedergang, als uns lieb sein kann.
Merken Sie das auch? Die Berichte von Malaise und Ennui häufen sich, sie verdichten und fügen sich zum großen Bild des, ja, Niedergangs. Alle Monate rutscht Deutschland in einem weiteren Ranking ein paar Plätze ab, liegt vielfach nur noch im hinteren Mittelfeld, wenn überhaupt. Das Wachstum ist schwächer als in nahezu allen OECD-Ländern. Es verblassen die alten Erfolge, es mangelt an neuen Ideen, und am Ende steht es 0:2 gegen Kolumbien. Mehr industrielle Abwanderung, weniger Direktinvestitionen, andere können es besser oder sind es einfach, von Schulen, Digitalisierung oder einem modernisierten Staat gar nicht zu reden.
Unter jedem Dach ein Ach: Mich erinnert das an den Anfang der Nullerjahre, nur ohne die damals fünf Millionen Arbeitslose, was natürlich eine gute Sache ist, obschon nicht in jeder Hinsicht. Mit der Hälfte von fünf Millionen hat man sich regierungs- und amtsseitig heute einfach abgefunden, es ist wie damals mit den Menschen in der sogenannten Sozialhilfe: Sie sind in der Statistik, aber aus dem Sinn, das ist bequem. Ob diese Arbeitslosen gerade in den Firmen und Läden dringend gebraucht werden oder nicht, tja, interessiert das überhaupt noch jemanden, oder ist der Arbeitsminister vor Stolz über das (wievielte?) Fachkräfteeinwanderungerleichterungsgesetz einfach geplatzt?
Man kann sich solche Statistiken und Prognosen im Dutzend anschauen, und an der Hoffnung festhalten, dass es ganz schlimm schon nicht kommen werde. Aber wenig sagt so viel aus über das Deutschland von heute, satt und matt, wie, Achtung: die links- und gefühlsgetriebene Abschaffung der Bundesjugendspiele.
Meine stärkste Erinnerung an die Spiele ist nach bald 50 Jahren immer noch der stechende Schmerz in der rechten Schulter, als ich den Schlagball unbedingt 30 (oder 300!) Meter weit werfen wollte. Es misslang fürchterlich, und ich hatte das Gefühl, mein komplett rausgerissener Arm sei anstelle des Balls weggeflogen. Immerhin konnte ich damals ziemlich schnell rennen, das half, aber eine Ehrenurkunde habe ich trotzdem nie bekommen. Ich schob es auf meinen ungünstigen Geburtsmonat im Jahrgang, klar.
Man lernt: Früher war auch nicht alles schön und hatte doch bis heute seinen guten Sinn. Es gab auch damals Kinder und Jugendliche, die vor Enttäuschung geweint haben, vor Überforderung und Scham vermutlich auch. So, wie der Sohn einer Konstanzer Mutter weinte, als er mit dem Trostpreis einer »Teilnehmerurkunde« nach Hause kam. Deswegen startete die Mutter vor einigen Jahren eine Petition gegen die Wettkämpfe, wie eine Regionalzeitung berichtete. Jetzt sind sie für alle Grundschüler Geschichte und an allen weiterführenden Schulen potenziell auch.
Na bravo. Die Bundesjugendspiele ihres traditionellen Wettkampfcharakters beraubt und in Schneeflockenweitpusten verwandelt? Da kann man es auch ganz sein lassen. Welche Gesellschaft soll das abbilden?
Wovon die Abschaffung erzählt, ist dies:
Die links-entschlossene Minderheit setzt sich durch. In diesem Fall beginnt es offenbar mit der Mutter des enttäuschten Empfängers einer Teilnehmerurkunde, von der aber sehr viel weniger ausgereicht werden als Sieger- und Ehrenurkunden. Deren viele, viele Empfänger gucken mithin in die Röhre. Niemand interessiert, ob die in ihren Augen entwerteten Bundesjugendspiele in ihrem persönlichen Schuljahr zu den Höhepunkten zählten, weil es von Englisch bis Chemie ansonsten nicht viel zu feiern gab. Ihre Enttäuschung zählt nicht. Sieger haben keine Lobby. So ist unser Land.
Gutmenschlichkeit und Gerechtigkeitsgehabe führen zu falscher Fokussierung: Tatsächlich laden die Bundesjugendspiele zu einiger Hänselei gegen die weniger Sportlichen ein, Kinder und Jugendliche können ziemlich grausam sein. Aber statt die (wenigen) Opfer wirkungsvoll zu schützen, wird für alle abgeschafft, was missbraucht werden könnte. Anstatt die zu adressieren, die es brauchen, werden alle adressiert – auch jene, die es gar nicht nötig haben. Das ist wie Tankrabatt für jedermann, nur umgekehrt. Weil der Staat den wirklich Bedürftigen nicht gezielt zu helfen vermag, wurde eben allen mit dem Rabatt geholfen – auch jenen, die es finanziell gar nicht nötig hatten. So ist unser Land.
Das vorherrschende Mindset ist die Flauschokratie, Distinktion steht unter Generalverdacht. Die kleinen Gemeinheiten des Lebens möglichst umfassend fernzuhalten, wird ein weiteres Mal zur Richtschnur der innerschulischen Organisation. Und langsam dürfte auch dem Letzten dämmern, warum ein Shitstorm über der Chefin der Bundesagentur für Arbeit niederging, als sie zu sagen wagte: »Arbeit ist kein Ponyhof.« Würde Frau Nahles noch hinzufügen: »Lehrjahre sind keine Herrenjahre«, würde sie vermutlich zum Gegenstand eines Parteiausschlussverfahrens.
Dabei kann auch die Rücksichtnahme auf eine Gruppe (vermeintlich) Schwacher ungerecht und unfair sein. Schulischen Erfolg kann man nämlich in mancher Hinsicht kaufen, in Villenvierteln gibt es mehr Nachhilfe und Geigenunterricht als in Sozialwohnungen. Und ich finde, es schadet im Falle des Falles niemandem, wenn er oder sie auf einer 50 Meter langen Aschenbahn erfährt, dass der reichen Eltern fürsorgender Arm nicht überall hinreicht.
Kurzum: Bundesjugendspiele und das Große und Ganze, das uns in diesem Sommer umtreiben sollte, haben eine Menge miteinander zu tun. Derzeit gewinnt dieses Land eine viel zu kleine Zahl von Wettkämpfen jedweder Art, als dass es sich leisten sollte, weitere abzuschaffen, nur weil sie welche sind.
Nikolaus Blome, Jahrgang 1963, war bis Oktober 2019 stellvertretender Chefredakteur und Politikchef der »Bild«-Zeitung. Von 2013 bis 2015 leitete er als Mitglied der Chefredaktion das SPIEGEL-Hauptstadtbüro, zuvor war er schon einmal stellvertretender »Bild«-Chefredakteur. Seit August 2020 leitet er das Politikressort bei RTL und n-tv.
Quelle: Spiegel