Es wird eine neue Partei von Sarah Wagenknecht geben
Mit ihrer neuen Partei stößt Wagenknecht in eine entscheidende Lücke. Es gibt eine neue Wählergruppe: die Anti-Grünen. Sie wollen weder linksliberal sein noch völkisch. Sie brauchen noch einen Anführer. Mit anderen Worten: Der Höhenflug der AfD endet, wann immer es Sahra Wagenknecht will. Und offenbar will sie jetzt.
CDU-Chef Friedrich Merz wird die AfD kaum halbieren können. Er glaubt auch inzwischen nicht mehr selbst daran. Aber jemand anders könnte es wohl. Sahra Wagenknecht. Jetzt scheint klar, was lange nur eine Vermutung war: Sie wird wohl eine neue Partei gründen, das meldete jetzt die „Bild“-Zeitung. Sie ist die Einzige, die der AfD wirklich gefährlich werden kann.
Wichtig ist dabei nicht, dass verschiedene Umfragen das Wählerpotential einer „Liste Wagenknecht“ bei rund 20 Prozent sehen. Wichtiger ist, gerade angesichts des momentanen Umfragehochs der AfD, dass die Wähler, von denen eine Wagenknecht-Partei am stärksten profitieren würde, aus der AfD kommen. Eine Kantar-Umfrage für Focus setzt diesen Wert bei 60 Prozent an, eine Forsa-Umfrage für den Stern sogar bei 74 Prozent.
Eine neue soziale Gruppe entsteht in Deutschland: die Anti-Grünen
In Deutschland formiert sich inzwischen eine neue soziale Gruppe, die eins gemein hat: Ihre Mitglieder sind anti-grün. Alles „Linksliberale“ lehnen sie ab – aus kulturellen, sozialen, manche aus religiösen Gründen. Momentan sind sie überall zuhause, oft bei der AfD, aber auch in den anderen Parteien. Aber sie fremdeln mit ihrer politischen „Heimat“. Sie denken ans politische „Auswandern“.
Besonders viele von ihnen aber werden im Nichtwähler-Lager verortet, was heißt: Politisch fühlen sie sich schon heimatlos. Die Umfragewerte für die Gruppe jener Menschen, die sich von keiner der etablierten Parteien mehr repräsentiert fühlen, wächst kontinuierlich. Aus ihnen speisen sich die hohen Zustimmungswerte für die AfD.
Viele aber, die in Umfragen angeben, sich die Wahl der AfD vorstellen zu können, fremdeln mit deren völkischem Flügel, den Höcke-Leuten. Eine Bertelsmann-Studie, die freilich zwei Jahre alt ist, beziffert den Anteil der AfD-Sympathisanten, die „manifest rechtsextrem“ seien, mit 30 Prozent.
„Eine Linke, die grüner als die Grünen sein will, hat keine ausreichende Wählerbasis”
Was auch bedeutet: 70 Prozent sind es nicht. Das ist die kritische Masse, die nicht zu den Stammwählern der AfD gerechnet werden muss – macht man diesen Menschen ein attraktives Angebot, hat man eine Chance. Inzwischen ist klar, dass die Linkspartei aktuell dafür nicht mehr infrage kommt. Jene Partei, die einst der Wagenknecht-Ehemann Oskar Lafontaine, ein begnadeter Campanero, anführte, gibt es nicht mehr. Das hat auch etwas mit einem Generationswechsel zu tun. Ihre Anhänger und Mitglieder sind jünger geworden. Und was dieser Blickwinkel-Wechsel zur Folge hat, beschreibt Wagenknecht selbst so:
„Eine Linke, die grüner als die Grünen sein will und sich mit den woken Lifestyle-Themen beschäftigt, hat einfach keine ausreichende Wählerbasis.“
Das ist Wagenknechts Kernthese, die sie in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ anhand einer breiten Palette von Themen durchdeklinierte. Es stand ein halbes Jahr auf den Bestseller-Listen. Und Deutschlands wichtigster Literaturkritiker Dennis Scheck urteilte: „Selten fand ich eine politische Gegenwartsanalyse treffender.“
Vielsagend die Kritik an dem Wagenknecht-Buch. Sie kam aus der linken Ecke, aus der Woken-Fraktion, etwa von Sarah-Lee Heinrich, die heute Sprecherin der Grünen Jugend ist: Wagenknechts Kritik an den „Lifestyle-Linken“ sei „überdrehte“ Polemik und sorge für „sehr viel Abwehr bei den Linken. Manche haben dadurch das Gefühl, genau das Gegenteil tun zu müssen von dem, was sie tut.“ Manche aber auch nicht.
Wagenknecht-Partei: Es wäre eine neue Mischung aus Sozialismus, Pazifismus und Konservatismus
Nämlich solche, die sich wehren wollen gegen ein, so Wagenknecht in der „NZZ“, „privilegiertes Milieu, das mit missionarischem Eifer den eigenen Lebensstil und die eigenen Werte der gesamten Gesellschaft vorschreiben will“. Wieviel Raum würde also eine anti-grüne, anti-linksliberale Partei einnehmen können?
Eine, die eine neue Mischung anbieten würde: aus Sozialismus, Pazifismus und Konservatismus. Eine Partei, die:
Erstens: Nicht den Klimawandel leugnet wie Teile der AfD, sondern es lediglich ablehnt, Klimawandel als Ersatzreligion zu begreifen. In den Worten des wegen seines Millionenpublikums einflussreichsten deutschen Apo-Politikers, Dieter Nuhr: als „religiöse Wahrheitssicherheit”.
Zweitens: Die ungesteuerte Migration nicht aus Angst vor Überfremdung und ein mögliches Ende des Ur-Deutschtums (falls es das überhaupt geben sollte) ablehnt, sondern aus sozialen Gründen – wegen des Kampfes um soziale Zuwendungen oder Wohnraum.
Drittens: Die grün-rot-schwarz-liberale These ablehnt, in der Ukraine würden Deutschlands Werte und universalistisch Menschenrechte verteidigt. Und stattdessen auf Waffenlieferungen und Russland-Sanktionen verzichtet, weil dies den in vielen Jahren erarbeiteten nationalen Wohlstand gefährde. An dieser Stelle gibt es die größte Schnittmenge zwischen Wagenknecht und der AfD. Allerdings weniger, weil Wagenknecht eine AfD-Position vertreten wollte, um in diesem Milieu zu „fischen“, sondern weil es einer jahrelangen Überzeugung entspricht. Dabei spielt auch ein stabiler Anti-Amerikanismus eine Rolle, den ihr Mann Lafontaine seit 40 Jahren verfolgt, schon mit der Ablehnung des Nato-Doppelbeschlusses gegen seinen Parteifreund Helmut Schmidt zu Beginn der achtziger Jahre. So tief gehen die Wurzeln.
Viertens: Die alles gesellschaftspolitisch „Woke“ ablehnt: Transrechte, wenn sie als Angriff auf biologische Gewissheiten daherkommen. Fleischverzicht, wenn er per Kantinenpolitik etwa durch Cem Özdemir „von oben“ verordnet wird. Die Einschränkung des automobilen Individualverkehrs und schließlich die minderheitenpolitisch motivierte, identitätspolitisch oder modernistisch begründete Veränderung der deutschen Sprache.
Keine der bisher existierenden Parteien hat diese Mischung im Angebot
Ein jeder möge für sich entscheiden, ob eine solche Politikmischung attraktiv wäre. Auf jeden Fall ist sie neu, und sie wäre es auch als Partei. Keine der bisher existierenden Parteien hat sie im Angebot. Die CDU nicht, weil sie gerne mit den Grünen koaliert. Die SPD nicht, weil vor allem ihre jungen Leute längst grün denken. Die FDP nicht, weil sie die letzte marktwirtschaftliche Anti-Umverteilungs-Formation ist und also für Wagenknechts Umverteilungswünsche nicht zur Verfügung steht. Die AfD nicht wegen ihrer Mischung aus Marktwirtschaft und Nationalismus.
Es gibt diese neue soziale Gruppe schon, sie ist sich ihrer selbst nur noch nicht bewusst. Die „Zeit“ beurteilt das Phänomen so: „In den diskursiven Räumen einer anti-linksliberalen Dissidenz finden sich neue Weggefährten, Freunde und vor allem: ein beachtliches Publikum.“
Viele sind skeptisch gegenüber einer Wagenknecht-Partei, auch aus der Politikwissenschaft. Sie begründen dies mit den hohen Hürden für eine Parteigründung in Deutschland. Man braucht 16 Landesverbände, und man muss, nach der jüngsten Wahlrechtsreform der Ampelregierung, in ganz Deutschland die Fünfprozent-Hürden überspringen.
Die Wagenknecht-Lücke
Deshalb hat die AfD einer wahrscheinlichen Wagenknecht-Partei einiges voraus. Jetzt schon verfügt sie auf den verschiedenen Ebenen über hunderte von Mandatsträgern, über einen hoch professionellen Apparat, ausgeklügelte Kommunikationsstrukturen. Und dennoch: Ein Milieu, das sich nicht nationalistisch, sondern national definiert, nicht liberal, sondern sozial, das wird sie kaum abdecken können. Das ist die Wagenknecht-Lücke.
Die Geschichte lehrt, dass sich eine neue soziale Formation irgendwann eine politische Repräsentanz sucht. Eine überzeugende Führungsfigur, von vielen für cooler gehalten als AfD-Führungspersonal, hat sie jedenfalls schon: Sahra Wagenknecht.
Quelle: Focus
Lesen Sie auch: Wagenknecht gründet ihre eigene Partei – und nennt vier Kernpunkte