Kann die NATO die Türkei ausschließen?
Seit Beginn der neuerlichen Militäroffensive der Türkei in Syrien und im Irak sind viele Menschen gestorben – die Opferzahl lässt sich nicht prüfen.
Wie kann ein NATO-Mitglied terroristische Angriffe auf souveräne Länder begehen, ohne dass der Ausschluss aus der NATO droht und muss der NATO Vertrag geändert werden?
Die türkische Armee hat nach eigenen Angaben seit Beginn der neuerlichen Militäroffensive in Syrien und im Irak 184 „Terroristen neutralisiert“. Den Begriff verwenden Regierung und Streitkräfte der Türkei üblicherweise auch für kurdische Gruppen, die zuletzt in beiden Nachbarländern attackiert wurden.
Das türkische Verteidigungsministerium spricht von Angriffen aus der Luft und mit landgestützten Geschützen. Die genannte Opferzahl ließ sich nicht unabhängig überprüfen.
Grund der Angriffe
Seit Sonntag beschießen die Streitkräfte Stellungen kurdischer Milizen, die von der türkischen Führung für einen Anschlag am 13. November im Zentrum Istanbuls verantwortlich gemacht werden. Sowohl die syrische Kurdenmiliz YPG als auch die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK weisen jede Verantwortung für die Explosion zurück, bei der sechs Menschen getötet wurden.
Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte hatte von mindestens 35 Toten infolge der neuen Militäroffensive berichtet – darunter auch Zivilisten. In der südosttürkischen Provinz Gaziantep kamen gestern nach Angaben des Innenministeriums drei Menschen durch Beschuss aus Syrien ums Leben. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan deutete auch eine mögliche Bodenoffensive an.
Russland warnt die Türkei vor Eskalation
Die jüngste Offensive ist die mittlerweile fünfte der Türkei in Nordsyrien. Infolge der Militäreinsätze hält die türkische Armee grenznahe Gebiete in dem Bürgerkriegsland besetzt und kooperiert dabei mit Rebellengruppen. Der syrische Präsident Baschar al-Assad wird dagegen von Russland unterstützt, das mit mahnenden Worten auf die neuerliche türkische Offensive reagierte: Ankara möge „sich in Zurückhaltung üben, um eine Eskalation der Spannungen nicht nur im Norden und Nordosten Syriens, sondern im gesamten Land zu verhindern“, wurde der russische Syrien-Gesandte Alexander Lawrentiew von der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zitiert. Russland hoffe darauf, dass sich die Türkei dazu bewegen lasse, auf die „Anwendung überzogener Gewalt auf syrischem Boden“ zu verzichten.
Seit Beginn des Jahres läuft auch eine separate Offensive im Nordirak. Die Türkei unterhält dort seit 2016 mehrere Militärposten.
Wie Russland, führt die Türkei einen Angriffskrieg, unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung, um eigene Interessen durchzusetzen, was diese Länder nicht von anderen sogenannten “Terrorstaaten” unterscheidet.
Schon 2019 stellt SPD-Fraktionschef Mützenich die Nato-Mitgliedschaft der Türkei infrage. Das widerspricht jedoch den Statuten der Allianz.
Kann die Nato die Türkei ausschließen?
Aber geht das überhaupt, was Mützenich da verklausuliert fordert: Ein Verfahren gegen die Türkei in der Nato wegen Verstößen gegen Werte und Völkerrecht einzuleiten und sie eventuell aus der Allianz auszuschließen oder sie zumindest zum Austritt aufzufordern? Und wäre eine solche Entwicklung im deutschen Interesse?
Der Nato-Vertrag sieht aber weder ein Verfahren zur Prüfung des Wohlverhaltens noch einen Ausschluss vor. Mitglieder können lediglich von sich aus den Austritt erklären. Die Nato ist ein Verteidigungsbündnis. Ein Bekenntnis zu Werten und deren Einhaltung ist im Gründungsvertrag vom 4. April 1949 nicht vorgesehen. Dieser Aspekt wurde bei der Aufnahme neuer Mitglieder in den ersten Jahrzehnten auch nicht geprüft.
Das Gründungsmitglied Portugal war eine Militärdiktatur. In der Türkei und in Griechenland, die 1952 beitraten, putschte einige Jahre später das Militär; das führte aber nicht dazu, dass die Nato ihre Mitgliedschaft wieder infrage stellte. Dies geschah auch nicht, als sich die Zypern Krise 1974 zuspitzte und die Türkei Nordzypern besetzte. [In einer früheren Version dieses Artikels stand fälschlich, die Türkei und Griechenland seien zum Zeitpunkt ihres Beitritts 1952 Militärdiktaturen gewesen.] Dagegen wurden Spanien (1982) und die jungen Demokratien in Ostmitteleuropa (1999, bzw. 2004) erst Mitglieder, nachdem sie die Diktatur dauerhaft überwunden hatten.
Der langjährige Bundesaußenminister Sigmar Gabriel und SPD-Parteikollege weist Mützenichs Vorstoß im Tagesspiegel als “skurril” zurück. Er liege nicht im deutschen Interesse; es drohe dann sogar der Griff der Türkei nach Atomwaffen. Die Forderung, die Mitgliedschaft der Türkei in der Nato wegen Präsident Erdogans Verhalten infrage zu stellen, stehe zudem im Widerspruch zur langjährigen SPD-Linie, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei trotz Erdogan fortzusetzen.
Warnung vor dem Griff nach Atomwaffen
“Bis vor kurzem sollte nach Auffassung der SPD an den Verhandlungen mit der Türkei über die EU Mitgliedschaft festgehalten werden – trotz Erdogan. Jetzt stellt der SPD-Fraktionsvorsitzende sogar die türkische Mitgliedschaft in der Nato infrage”, sagt Gabriel. “Klar ist eines: Wer die Türkei aus der Nato drängt, mag sich selbst moralisch besser fühlen. Aber er wird verantwortlich dafür sein, was dann folgt. Denn nur die Nato-Mitgliedschaft hindert die Türkei daran, sich atomar zu bewaffnen”, warnt Gabriel.
“Wollen wir wirklich ein neues großes Sicherheitsrisiko an der EU-Ostgrenze schaffen? Das ist der Grund, warum die Türkei selbst dann in der Nato blieb, als sie eine Militärdiktatur war und in Zypern einmarschierte. Griechenland übrigens auch. In der Politik geht es immer um beides: um Moral und um Interessen. Und im Interesse unserer Kinder ist es nicht, mit noch einem unkontrollierten Nuklearstaat zu tun zu haben”, argumentiert der ehemalige SPD-Vorsitzende und Außenminister.
Daran stimmt: ohne Nato-Mitgliedschaft kein Schutz durch die Atomwaffen des Bündnisses. Da andere Länder in der Region Atomwaffen haben oder danach streben – Russland, Iran, Israel – würde die Versuchung für die Türkei wachsen, sich Atomwaffen zu verschaffen.
Ist die Nato ein Wertebündnis?
In der allgemeinen politischen Debatte wird die Nato gelegentlich als “Wertebündnis” bezeichnet. Das geschieht insbesondere dann, wenn die Allianz oder einzelne Mitglieder unter Berufung auf die Humanität, die Menschenrechte und die Verhinderung von Kriegsverbrechen bis hin zu drohendem Völkermord über eine Intervention diskutieren, von Bosnien über den Kosovo und Afghanistan bis nach Libyen oder jetzt in Syrien.
Bei näherem Hinsehen war, das jedoch weder die Gründungsidee 1949, noch ist dies später als Vertragszweck ausdrücklich aufgenommen worden.
In der Präambel des Vertrags bekennen sich die Gründungsmitglieder zu den “Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und zum Wunsch, mit allen Völkern und mit allen Regierungen in Frieden zu leben. Sie sind entschlossen, die Freiheit, das gemeinsame Kulturerbe ihrer Völker, gegründet auf die Prinzipien der Demokratie, auf die Freiheit des einzelnen und die Grundsätze des Rechts, sicherzustellen. Sie sind bestrebt, die Stabilität und Wohlfahrt im nordatlantischen Gebiet zu fördern. Sie sind entschlossen, ihre Bemühungen um eine gemeinsame Verteidigung und um die Erhaltung von Frieden und Sicherheit zu vereinigen.”
In den einzelnen Artikeln geht es dann aber vor allem um die Verteidigung des Bündnisgebietes gegen Angriffe von außen. Deren Kern ist die Beistandspflicht nach Artikel 5, dass “ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle betrachtet werden wird”.
Austritt aus der Nato geht seit 1969, Ausschluss nicht
In weiteren Artikeln wird die Aufnahme neuer Mitglieder geregelt. Die Allianz muss sie zum Beitritt einladen und ein Kandidatenland muss beitreten wollen und in der Lage sein, etwas zur Verteidigungsfähigkeit beizutragen.
Artikel 13 macht noch einmal klar, was 1949 das Ziel war: Eine verlässliche Verteidigungsallianz gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten sozialistischen Staaten für die nächsten mindestens zwei Jahrzehnte zu organisieren. Demnach kann ein Land den Austritt aus der Nato erklären, jedoch frühestens 20 Jahre nach ihrer Gründung, also 1969. Ein Ausschlussverfahren sieht der Vertrag nicht vor, auch keine Prüfung, ob Mitglieder sich an die Präambel und alle übrigen Vertragsklauseln halten.