Armut in Deutschland: Sozialexperte Schneider warnt vor Spaltung der Gesellschaft
Der Preis-Horror macht immer mehr Menschen zu schaffen. Längst trifft es nicht mehr nur Geringverdiener und Rentner. Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband warnt vor dem Auseinanderbrechen der Gesellschaft und greift die Regierung an.
Explodierende Energiepreise, steigende Lebenshaltungskosten, immer höhere Belastungen für Bürger – die Auswirkungen der Teuerungswelle sind überall spürbar. Nach Einschätzung von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des paritätischen Gesamtverbands, könnte die Entwicklung dramatische Folgen für Deutschland haben.
Sozialexperte Schneider: Immer mehr Armut in Deutschland
„Die extreme Steigerung der Lebenshaltungskosten hat die Armut in Deutschland verstärkt“, sagte Schneider. „Ohnehin arme Menschen sind noch ärmer geworden, haben noch weniger Kaufkraft und wissen überhaupt nicht mehr, wie sie finanziell über den Monat kommen sollen.“ Der Regelsatz von 449 Euro bei Hartz IV sei durch die Inflation von rund 10 Prozent derzeit nur noch 404 Euro wert.
„Wir hatten in Deutschland schon vor der Explosion der Lebenshaltungskosten einen Rekordwert von 13,8 Millionen armen Menschen“, so der Sozialexperte. Aufgrund der aktuellen Krise würden laut Umfragen noch einmal mehr als 12 Millionen Haushalte hinzukommen, „die zwar statistisch noch nicht zu den Armen zählen, aber am Monatsende nichts mehr übrighaben“.
Kaum noch Reserven da: „Die Not erreicht die Mittelschicht“
Schneider: „Es sind keine Reserven da. Eine kaputte Waschmaschine oder eine notwendige Autoreparatur werden dann schnell zur Katastrophe. Nachzahlungen bei Strom und Gas oder höhere Abschlagszahlungen überschreiten bei sehr vielen dieser Haushalte das Mögliche.“ Schneider warnt: „Die Not erreicht die Mittelschicht.“
Schneider malt ein düsteres Bild für den Fall, dass die Entwicklung ungebremst anhält. „Da die enormen Preissteigerungen für die untersten Einkommen nur unzureichend aufgefangen werden, droht unsere Gesellschaft am unteren Rand auseinanderzubrechen.“ Zumindest dann, „wenn politisch nicht wesentlich wirkungsvoller und zielgenauer gegengesteuert wird“.
Bei denen, die sich gerade noch so über Wasser halten, würden die Sorgen langsam „in echte Angst“ umschlagen, hat Schneider beobachtet. „Es gibt die Angst vor der nächsten Preiswelle bei Lebensmitteln, die Angst vor der Stromnachzahlung, die Angst davor, sich die Ratenzahlungen nicht mehr leisten oder die Miete nicht mehr zahlen zu können.“
„Bei vielen Armen schlägt die Angst in pure Verzweiflung um“
Mitunter sei es noch schlimmer. „Bei vielen Armen schlägt die Angst in pure Verzweiflung um“, so Schneider. „Der Ansturm auf die Tafeln zeugt davon, wie ausweglos für viele Menschen die Situation mittlerweile ist.“
Schneider meint deshalb: „Deutschland war viele Jahrzehnte ein moderner Sozialstaat. Wir dürfen nicht zulassen, dass er schleichend zum Almosenstaat mutiert, weil wir den Armen nicht geben, was sie brauchen.“
Der Sozialexperte kritisiert die Ampel-Regierung in Berlin für ihren Umgang mit dem Armutsproblem scharf. „Die Bundesregierung hat bei all ihren Maßnahmen ausgerechnet die Ärmsten mehr oder weniger im Regen stehen lassen. Gut und Besserverdienende profitieren alles in allem am meisten von Entlastungsmaßnahmen, sei es der Tankrabatt, Erleichterungen bei der Einkommensteuer oder die Gaspreisbremse.“
Erhöhung der Regelsätze auf 725 Euro im Monat gefordert
Schneider: „Am meisten Geld fließt dahin, wo es am wenigsten gebraucht wird. Die sieben Millionen Bezieher von Hartz IV und Altersgrundsicherung werden dagegen ab dem neuen Jahr mit einer Erhöhung der Regelsätze um rund 50 Euro abgespeist.“
Schneider fordert eine Erhöhung der Regelsätze auf 725 Euro statt auf 502 Euro im Monat sowie ein gesetzliches Moratorium, was Energiesperren und Wohnungskündigungen in den nächsten Monaten angeht. „Die Menschen brauchen die Sicherheit, nicht irgendwann in der Kälte und im Dunkeln zu sitzen und nicht ihre Wohnungen zu verlieren.“
Schon vor der Krise ein „sozial sehr tief gespaltenes Land“
Schneider, der im September 2022 nach einer russlandfreundlichen Bundestagsrede von Sahra Wagenknecht aus der Linkspartei ausgetreten war, sagte in dem Interview weiter: „Zwar stellen wir nach wie vor die viertstärkste Wirtschaftskraft der Welt, doch waren wir auch schon vor Corona-, Energie- und Preiskrise ein sozial sehr tief gespaltenes Land mit ungeheurem Reichtum auf der einen Seite, aber auch einer immer größer werdenden Armut auf der anderen.“
Die Entlastungspakete der Bundesregierung hätten diesen Trend „sogar noch verstärkt – trotz diverser einmal Leistungen an Kinder, BAföG-Beziehende und andere Gruppen“, so Schneider.