Deutschland kompensiert mangelndes Selbstbewusstsein mit Moralismus

Deutschland kompensiert mangelndes Selbstbewusstsein mit Moralismus

Es droht die Rückkehr konkurrierender Glaubensgemeinschaften. Umso wichtiger wäre ein neuer, selbstbewusster Realismus, der sich in der Mitte der Gesellschaft wieder Platz verschafft.

Reinhard Mohr. Seit Putins ruchlosem Überfall auf die Ukraine hat sich in aller Öffentlichkeit eine neue Kultur der Selbstbezichtigung entwickelt, betriebswirtschaftlich gesprochen: eine neue Fehlerkultur. Nein, das habe man absolut nicht erwartet! Wer konnte das ahnen! Sorry für die falsche Einschätzung der Lage! Man fühlt sich getäuscht und enttäuscht von jenem Herrscher im Kreml, mit dem man unzählige Stunden des gewaltfreien Dialogs an unterschiedlich langen Tischen verbracht und immer neue Gesprächsformate erfunden hat, um das «gemeinsame europäische Haus» (Bundespräsident Steinmeier) zu errichten. Wladimir hier, der liebe Sergei dort.

Nun heisst es: Das kommt nicht wieder vor. Jetzt schauen wir nach vorne. Dieses Verhaltensmuster steht unzweifelhaft in der Tradition der katholischen Beichte: Druck aus dem Kessel des schlechten Gewissens nehmen und anschliessend weitermachen. Für die meisten Protagonisten der neuen Irrtumskultur, die bis eben noch das Mantra «Es gibt nur den Weg der Diplomatie!» wie einen Phrasenpanzer vor sich hertrugen, scheint die Sache damit erledigt. Jetzt redet man flott von Zeitenwende, plädiert für Waffenlieferungen – aber nicht zu viel, nicht zu schnell. Man will sich jedoch nicht als Kriegspartei verstehen, sondern als Friedensmacht, die niemanden unnötig provozieren will, schon gar nicht den grossen Nachbarn im Osten, der über eine Unmenge von Atomwaffen verfügt.

Verklärendes Weltbild

Zahlreiche Intellektuelle und Historiker haben seit langem vor der aggressiv-totalitären Dynamik des Putin-Regimes gewarnt. Schon ein resümierender Blick auf die russischen Angriffskriege in den vergangenen zwei Jahrzehnten – in Tschetschenien, Georgien, Transnistrien, Syrien und der Ostukraine samt Krim-Eroberung – hätte die letzten Träumer der Entspannungspolitik aus den 1970er Jahren aufwecken müssen. In jener Zeit waren West und Ost durch eine waffenstarrende Mauer säuberlich getrennt und die Einflussgebiete klar definiert.

Doch hier liegt des Pudels Kern: Das verklärende Weltbild aus der Zeit von Willy Brandts Ostpolitik trübt noch fünfzig Jahre später den klaren, analytischen Blick auf die längst tiefgreifend veränderte Wirklichkeit. Der vor allem für die Sozialdemokraten typische Rückgriff auf die Ära der Entspannungspolitik ist zur Ideologie erstarrt. Diese wird angereichert durch eine diffuse Russophilie, Schuldgefühle aus der Nazizeit, die merkwürdigerweise gegenüber Tschechien und Polen geringer zu sein scheinen, und einen tiefen Glauben an die Macht der Verständigung durch Worte und Gesten. Das ebenso wohlfeile wie denkfaule Motto lautet: Wer redet, schiesst nicht.

Auch jetzt noch fürchten viele Sozialdemokraten einen endgültigen Bruch mit Russland, «egal, was Putins Soldaten in der Ukraine anrichten», wie die «Welt» formuliert: «Sie wollen das Bild von der engen Partnerschaft mit Moskau einfach nicht abhängen und den Glauben daran aufgeben, Mittler zwischen Russland und dem Westen zu sein.»

Dieses Appeasement, der unermüdliche Versuch, sich in die Lage eines berüchtigten politischen Gewalttäters zu versetzen, um seine «berechtigten Sicherheitsbedürfnisse» zu erforschen, wurde zum Glaubensbekenntnis. Der Don Quijote dieses politischen Windmühlenkampfes trat in Talkshows als versierter Putin-Versteher auf. Die Steigerung zum bezahlten Putin-Lakai verkörpert idealtypisch SPD-Altkanzler Schröder, der bis heute jedes «mea culpa» verweigert.

Warum aber fällt es nicht nur hartgesottenen Sozialdemokraten so schwer, vom Glauben abzufallen und sich der Realität zu stellen? Warum ist es überhaupt so schmerzhaft, Überzeugungen zu revidieren, die über Jahrzehnte Teil der eigenen Identität gewesen waren? Woher kommt die Angst, die Gemeinschaft von Gleichgesinnten verlassen zu müssen – und das Gefühl moralischer Überlegenheit, auf der richtigen Seite zu stehen, stets der Zukunft zugewandt?

Ideologische Sichtblenden

Alt-68er, Ex-Kommunisten und andere Weltverbesserer aus Leidenschaft können ein Lied davon singen, gerade weil ihre ideologischen Sichtblenden noch massiver waren. Ganze Bibliotheken der Renegatenliteratur aus den dreissiger und vierziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts füllen die Berichte über jene Gewissensqualen und politischen Bauchschmerzen, die glühende Kommunisten befielen, als sie von Stalins Verbrechen erfuhren. Man musste erleben, wie selbst im Widerstand gegen Hitler und beim Kampf gegen General Francos spanische Falangisten-Garde unzuverlässige Genossen der Internationalen Brigaden auf Nimmerwiedersehen verschwanden oder gleich an Ort und Stelle liquidiert wurden.

«Ich war 26 Jahre alt, als ich in die Kommunistische Partei eintrat, und 33, als ich sie verliess», schrieb Arthur Koestler in seinen Erinnerungen. Es geht um die Jahre zwischen 1931 und 1938, in denen er auch sein «Spanisches Testament» verfasste. «Nie zuvor oder nachher schien das Leben so übervoll an Sinn wie während dieser sieben Jahre. Sie hatten die Überlegenheit eines schönen Irrtums über die schäbige Wahrheit.»

Eine vergleichbare Erfahrung machten ein paar Jahrzehnte später auch Zehntausende Jugendliche in ganz Europa – wenn auch in historisch arg geschrumpfter Form. Als der Autor dieser Zeilen 26 war – anno 1982 –, hatte er nicht nur «Sonnenfinsternis», Koestlers Schlüsselroman über die stalinistischen Schauprozesse, gelesen, sondern auch Manès Sperbers tausendseitige Romantrilogie «Wie eine Träne im Ozean», in deren Vorwort der Schriftsteller seinen Lesern nur anbieten kann, seine Einsamkeit zu teilen: «Vielleicht ist dies die einzige Form der Gemeinschaft, in der jene zueinanderfinden, die aus der gleichen Quelle den Mut schöpfen müssen, ohne Illusionen zu leben.»

Die Übel der Welt

Sperbers literarisches Werk über seine Abkehr vom Kommunismus beeinflusste auch die Generation von Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, Protagonisten der Revolte von 1968, die bis tief in die 1970er Jahre hinein wirkte. «Wir haben sie so geliebt, die Revolution» – der Titel eines von Cohn-Bendit herausgegebenen Sammelbandes hebt die irrationalen Elemente jenes Glaubensbekenntnisses hervor, das mit dem Begriff der Utopie in eine halbreligiöse Dimension gerückt wurde.

Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit an der Grünen Landesversammlung Hessen am 8. Februar 1987.
Joschka Fischer und Daniel Cohn-Bendit an der Grünen Landesversammlung Hessen am 8. Februar 1987.Wolfgang Maria Weber / Imago

All die marxistisch geprägten Theorien mit wissenschaftlichem Anspruch änderten nichts daran, dass die Sehnsucht nach Erlösung von den Übeln der Welt eine zentrale Rolle spielte, auch wenn das Menschheitspathos allseitiger Befreiung und geistiger Erhöhung nicht mehr in den Worten Leo Trotzkis formuliert wurde, der prophezeit hatte, dass der «Durchschnittsbürger der klassenlosen Gesellschaft» auf das «Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx gehoben» werden würde.

In manchen linken Wohngemeinschaften, Kinderläden und Landkommunen der 1970er Jahre wäre man schon froh gewesen, wenn sich das Durchschnittsniveau bei Heinrich Böll eingepegelt hätte.

Der Abstieg vom Gipfel der Träume und Selbsttäuschungen war lang und mühsam, ebenso kurven- wie schmerzreich. Es fing mit jenen Glaubenszweifeln an, die man von Häretikern der Papstkirche kennt: Ob die Erde wirklich eine Scheibe ist, um die sich die Sonne dreht? Ob der Sozialismus schon an der gerechten Aufteilung der Lebensmittelvorräte im WG-Kühlschrank scheitert? Wer erst einmal angefangen hat, Zweifel zuzulassen und die unangenehme Möglichkeit zu akzeptieren, dass auch Andersdenkende recht haben könnten, befindet sich schon auf der schiefen Bahn.

Dabei ist er sich immer bewusst, was er zu verlieren hat: die Sicherheit eines festgefügten Weltbilds, das auch in schwierigen Fragen einfache Antworten liefert – oder sie geschichtsphilosophisch so weit in die Zukunft vertagt, dass sowieso niemand ihre Triftigkeit überprüfen kann. Sonst gilt: Wenn die Idee scheitert, umso schlimmer für die Wirklichkeit.

Die Verleugnung grosser Teile der Realität gehört zum Programm all jener, die an Überzeugungen festhalten, die schon x-mal praktisch widerlegt wurden – an erster Stelle der reflexhafte Antikapitalismus.

Charakteristisch für die Hürden, die jeder Konvertit überwinden muss, ist die Tatsache, dass immer er es ist, der sich rechtfertigen muss – nicht jene, deren schlichter Leitsatz lautet: Was früher richtig war, kann heute nicht falsch sein. Glaubensfestigkeit als Grundwert.

Linker Gruppendruck

Über viele Jahre tobte bei den Grünen der Kampf um die vorbehaltlose Anerkennung des Rechtsstaats und seines Gewaltmonopols. Wer hier bürgerliche Positionen vertrat – genauer: Errungenschaften der europäischen Aufklärung –, sah sich rasch als Rechtsabweichler gebrandmarkt.

Dazu kommt die Angst, Beifall von der falschen Seite zu bekommen – also vom «Schweinesystem» und von seinen Repräsentanten. Am schärfsten war dieses Dilemma zu Zeiten des RAF-Terrors im Deutschen Herbst 1977 ausgeprägt. Wer die brutale Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer offen verurteilte, bei der alle vier Begleiter mit Maschinenpistolen zersiebt wurden, galt in weiten Teilen der deutschen Linken als Verräter und Staatsbüttel. Unvergessen ein Erlebnis in einer elsässischen Jugendherberge, in der deutsche Gäste in Jubel ausbrachen und eine Runde Bier bestellten, als die Nachricht von der Erschiessung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback eintraf.

Nur sehr Mutige hätten sich in diesem Augenblick dem Gruppendruck entgegengestellt und daran erinnert, dass ein feiger Mord ein Mord – genauer: ein Lynchmord – ist und nichts anderes. Mutproben dieser Art, offener Widerspruch in einer feuchtfröhlichen Gesinnungsgemeinschaft, gehören freilich zum Alltag all jener, die mit Wolf Biermann bekennen: «Ich bin immer öfter nicht mehr meiner Meinung.»

Das «Denken ohne Geländer» (Hannah Arendt) setzt die Fähigkeit zur Selbstkritik voraus, eine Identität als Prozess, der auch ohne ständige Zufuhr von Nestwärme auskommt – dazu das Risiko, neue Irrtümer zu begehen. Eine zuweilen ungemütliche Angelegenheit, die sich geistige Freiheit nennt.

Kein Wunder, dass es die meisten beim «Sorry, da habe ich mich wohl getäuscht» belassen.

Reinhard Mohr ist deutscher Publizist. Zuletzt von ihm erschienen: «Deutschland zwischen Grössenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt».

Quelle: NZZ

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