Buchkritik: Ist der Westen für alle Übel dieser Welt verantwortlich?
Der Politikwissenschaftler Peter R. Neumann legt eine unterkomplexe Analyse der gegenwärtigen «Weltunordnung» vor: Wo die Dinge komplex sind, wird Eindeutigkeit suggeriert. Als Alternative empfiehlt sich ein Buch des Sicherheitsexperten Carlo Masala.
Peter R. Neumann gehörte im September 2021 zur letzten Patrone des Kanzlerkandidaten Armin Laschet. Im Endspurt eines verkorksten Wahlkampfes sollte ein achtköpfiges «Zukunftsteam» die Wende bringen. Drei Wochen später war es bereits Vergangenheit. Neumann selbst war einer von Laschets fleißigsten Cheerleadern, auf Twitter, in «Glotze und ‹Bild-Zeitung›» (Gerhard Schröder). Auf dem Feld der Sicherheitspolitik trat der «Terrorismus-Experte» allerdings kaum in Erscheinung. Seiner Twitter-Gemeinde teilte er noch mit, dass ein Manuskript warten müsse. Und dass Deutschland einen Rat für nationale Sicherheit brauche – in Deutschland eine gern bemühte Chiffre für vermeintliche Strategiefähigkeit. Das war es dann aber auch schon.
Eine Niederlage und ein Jahr später liegt das Manuskript in Buchform vor. Es wirkt seltsam angestaubt. Und das liegt keineswegs an dem durch den Wahlkampf verschobenen Publikationstermin. Vielmehr wird der Leser bereits beim Titel stutzig: «Die neue Weltunordnung». Denn mit «Weltunordnung» hatte schon Carlo Masala, Professor an der Universität der Bundeswehr München, seinen erstmals 2016 erschienenen Parforceritt durch die Weltpolitik überschrieben.
Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit, so Masalas zentrale These, würden die Politik des 21. Jahrhunderts prägen. In der Tat ist militärische, ökonomische und politische Macht in einer Welt der globalen Machtdiffusion, in der längst nicht mehr alle Wege nach oder über Washington führen, nicht mehr gleichbedeutend mit der Fähigkeit, seine Ziele durchzusetzen. Schon vor sechs Jahren veranschaulichte Masala diese Erkenntnis am Beispiel alter Bedrohungen, neuer Risiken und hybrider Herausforderungen: Nationalismus, Staatszerfall, Terrorismus, Migration, Digitalisierung, Pandemien und Klimawandel. Den Test der Zeit hat Masalas verdichtete, nun in einer aktualisierten Auflage vorliegende Analyse bestanden.
Der Westen auf der Anklagebank
Was also neu an Neumanns «Weltunordnung» sein soll, erschließt sich dem Leser nicht. Noch bemerkenswerter ist allerdings, dass sich der Professor aus London im Kern nicht einmal mit Weltordnungsfragen befasst.
Stattdessen lässt er in 18 Kapiteln die letzten dreißig Jahre mit flotter Feder Revue passieren: vom Optimismus der 1990er Jahre, die auf einen weltpolitischen Monismus hinauszulaufen schienen, in der die Staatenwelt zur Weltgesellschaft mutiert, über die nuller Jahre, in denen die Vereinigten Staaten ihre einzigartige Machtposition leichtfertig verspielten, bis in das letzte Jahrzehnt, in dem strategische Überdehnung, neoimperiale Begehrlichkeiten sowie eine Kaskade von Krisen zum Signum einer neuen Epoche wurden. Wer in den letzten Dekaden keine Zeitung gelesen und jede Talkshow verpasst hat, kann sich in Neumanns «Weltunordnung» im Schnelldurchlauf bedienen.
Auf der Anklagebank sitzt stets der Westen. Chefankläger des Tribunals und Richter in einer Person ist Neumann selbst. Historisches Wissen als Beitrag zur Selbstverständigung in der Gegenwart spielt dabei keine Rolle. Intellektuell überfordert wird auch niemand. Dafür ist das Grundmuster denkbar einfach: Wo die Verhältnisse komplex sind, wird Eindeutigkeit suggeriert.
So werden Heinrich August Winkler und Niall Ferguson als naive «Idealisten» über einen Kamm geschoren und Francis Fukuyama, Thomas Friedman und John Ikenberry zu intellektuellen Leichtmatrosen degradiert. So wird der Schule der (Neo-)Realisten unterstellt, sie wolle «den Westen zu einer Abkehr von den Werten zwingen, die ihn definieren». So werden die «liberalen (europäischen) Eliten» der «Täuschung» geziehen. Und so entsteht im Ganzen ein Zerrbild des Westens, der für alle Übel dieser Welt verantwortlich sein soll: für «weniger Demokratie» in Russland; für eine gefestigte «autoritäre Herrschaft» in China; für die syrische Katastrophe. Das ist dann doch etwas zu einfach.
Sinnfreie Phrasen
Dass die Politik des Westens in den zurückliegenden Jahrzehnten zu häufig zwischen Dilettantismus und Doppelmoral schwankte, dass der altruistisch verpackte Glaube an den Export der eigenen Werte nicht selten mit der Ignoranz gegenüber dem Wesen anderer Kulturen einherging, ist zweifellos richtig – aber auch nicht neu. Carlo Masala hat die Illusionen des Westens bereits vor Jahren ebenso differenziert wie zugespitzt auf den Punkt gebracht und dabei stets in den Kontext einer internationalen Ordnung eingebettet, in der allein das regulative Prinzip der Gegenmachtbildung Bestand zu haben scheint.
Mit den Vertretern der realistischen Schule von den internationalen Beziehungen, zu denen Masala gehört, kann Neumann wenig anfangen. Umso gespannter ist man auf das Schlusskapitel, in dem er dem Leser erklärt, «worauf es jetzt ankommt». Es ist seine letzte Patrone. Und die erweist sich rasch als Rohrkrepierer. Denn was ist von einem Buch zu halten, das «ein Buch über Ideen» sein will, um am Ende festzustellen, dass es keiner neuen Ideen bedürfe? Stattdessen müsse der Westen «sich dringend neu erfinden, und zwar als nachhaltige Moderne», die «ehrlicher, pragmatischer und inklusiver handelt».
In der sinnfreien Phrase wird die Pose des allwissenden «Experten» zur Posse. Wäre es anders, dann würden wir erfahren, was Chinas neuer langer Marsch und Russlands Politik der Destruktion, die Räume der Gewalt geöffnet hat, bedeuten; was aus der neuen Abhängigkeit Europas von den Vereinigten Staaten erwächst und wie eine europäische Sicherheitsarchitektur aussehen kann, wenn Amerika einmal mehr unabdingbar, Russland aber – in den Worten Egon Bahrs – unverrückbar bleibt.
Antworten darauf skizziert Carlo Masala am Ende seines Buches. Es wird zur affirmativen These von einer Weltunordnung, die mehr denn je einem weltpolitischen Machtspiel ohne Schiedsrichter gleicht, in der die liberalen Fundamente weiter erodieren, konträre Ordnungsprinzipien miteinander ringen und disruptive Tendenzen zunehmen. Vom Optimismus der 1990er Jahre ist wahrlich nichts geblieben. Und ebenso wenig von der Erkenntnis, dass erst strategische Zurückhaltung Legitimität und Legitimität Autorität schafft.
Peter R. Neumann: Die neue Weltunordnung. Wie sich der Westen selbst zerstört. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2022. 336 S.
Carlo Masala: Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens. Verlag C. H. Beck, München 2022. 6., aktualisierte Auflage. 199 S.
Quelle: NZZ