In der wertebasierten Außenpolitik geht es um Belehren statt Verstehen
Die westliche Außenpolitik ist zum Tummelplatz von Moralisten geworden. Man will den anderen nicht verstehen, sondern belehren. Und wenn das Belehren nicht fruchtet, will man den anderen bestrafen. Höchste Zeit, sich auf Henry Kissinger zu besinnen.
An die Stelle der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten – jenem Konzept, das uns half, den Kalten Krieg zu überleben – ist eine werteorientierte Außenpolitik getreten. Deren Instrumente sind Einreiseverbote, Wirtschaftssanktionen, Länderembargos, der Boykott von Sportveranstaltungen und, gewissermaßen als Krone der Schöpfung, die Lieferung von Kriegsgerät an befreundete Akteure.
Nahezu ohne politische Gegenwehr wird dieser Paradigmenwechsel auch in Deutschland durchgesetzt. Das Merkmal der Außenpolitik war früher der kühle Kopf, nun ist es der erhobene Zeigefinger. Staaten wie Katar, Kuwait, China, Iran, Ungarn, Polen und viele andere können sich unserer Empörung sicher sein.
Politische Strategien, die bisher fundamental waren für unsere Art, mit anderen Staaten umzugehen, wurden stillschweigend suspendiert:
1. Smart Power statt Drohungen
Das Konzept der „Soft Power Politics“ – entwickelt von Prof. Joseph Nye – setzte darauf, die Hard Power, also den Einsatz von ökonomischem Druck und militärischer Gewalt, durch sanfte Formen der Beeinflussung zu flankieren. Soft Power waren für ihn die Verbreitung amerikanischer Popmusik, Zahlungen durch den Marshall Fund, aber auch die Installation amerikanisch beeinflusster Organisationen wie der UN, der Weltbank, dem Weltwährungsfonds und der Welthandelsorganisation.
Nye ging davon aus, dass es effizientere Wege gäbe, andere Staaten zu beeinflussen, als sie zu bedrohen oder zu beschießen. Die Fähigkeit eines Akteurs zur erfolgreichen Kombination von Soft Power und Hard Power bezeichnet Nye als Smart Power. Nye lieferte das Schlüsselkonzept für die Außenpolitik der Clinton- und der Obama-Jahre.
2. Moralische Neutralität: Gegenteil einer wertebasierten Außenpolitik
Die Idee der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ geht über die Idee der Soft Power hinaus. Sie besteht darin, dass eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auch zwischen Nationen unterschiedlicher Herrschaftssysteme und Militärbündnisse möglich sein sollte. Man schaut an den ethisch fragwürdigen Methoden der internen Machtausübung vorbei, wie im Falle der DDR, der Sowjetunion und der Volksrepublik China, um in den äußeren Beziehungen Stabilität zu erreichen. Dafür werden Arbeitslager, Todesurteile und das Bespitzeln der Opposition stillschweigend zur Kenntnis genommen.
Die Idee der „Moralischen Neutralität“ – ein anderer Fachausdruck dieser Denkungsart – beschreibt das Gegenteil einer wertebasierten Außenpolitik. Man lebt vom gezielten Wegschauen – im Interesse des Weltfriedens. Dieser Denkansatz wurde nach dem Dreißigjährigen Krieg entwickelt und im Westfälischen Frieden manifestiert.
3. Exportprofite mindern Lust am Kriegführen
Das Konzept „Wandel durch Handel“ flankierte gewissermaßen das Ignorieren und Wegschauen durch ökonomische Handreichungen. Man ging davon aus, dass im Zuge stabiler Handelsbeziehungen und damit wachsender Abhängigkeiten zwischen zwei Staaten das Verständnis füreinander wachse und eine Konvergenz der Systeme einsetze.
Durch das starke materielle Interesse an guten Export- und Importbeziehungen würde der politische Wechselstrom gewissermaßen auf Gleichstrom umgeschaltet, was auch militärisch rivalisierende Staaten in den Augen ihrer Bürger legitimieren dürfte. Die Lust am Kriegführen, so die Idee, würde durch Exportprofite deutlich gedämpft.
Gabor Steingart zählt zu den bekanntesten Journalisten des Landes. Er gibt den Newsletter „The Pioneer Briefing“ heraus. Der gleichnamige Podcast ist Deutschlands führender Daily Podcast für Politik und Wirtschaft. Seit Mai 2020 arbeitet Steingart mit seiner Redaktion auf dem Schiff “The Pioneer One”. Vor der Gründung von Media Pioneer war Steingart unter anderem Vorsitzender der Geschäftsführung der Handelsblatt-Media Group. Seinen kostenlosen Newsletter können Sie hier abonnieren.
Warum das wichtig ist: Die heutige Außenpolitik der USA und mittlerweile auch der Bundesrepublik hat einen deutlich anderen Pfad beschritten. Der Systemrivale wird nicht mehr akzeptiert, sondern sanktioniert. Wirtschaftssanktionen füllen zunehmend den diplomatischen Raum zwischen Protestnote und Krieg.
Die USA hatten zu Zeiten der Trump Administration knapp 4000 Sanktionen gegen Firmen, Organisationen und Einzelpersonen erlassen. Vier Sanktionen pro Werktag, wie Agathe Demarais in ihrem Buch „Backfire. How sanctions reshape the world against US-Interest“ notiert.
Clinton: „Wir sind in Gefahr, dass wir alles sanktionieren, was uns nicht gefällt“
Bill Clinton war für sie der letzte Präsident, der sich gegen die Sanktionitis zur Wehr setzte. Er sagte 1998: „Wir sind in Gefahr, dass wir alles sanktionieren, was uns nicht gefällt.“ Genau da sind wir heute gelandet.
Aus den 40 Sanktionsprogrammen zu Zeiten von Donald Trump sind mittlerweile 70 Sanktionsprogramme gegen 9000 Personen, Institutionen und Staaten geworden. Die USA haben sich – aus dem Finanzministerium heraus – auf die ökonomische Kriegsführung verlegt.
Die Autorin, die früher als Wirtschaftsberaterin für das diplomatische Korps des französischen Finanzministeriums selbst am Design und der Exekution von Sanktionen mitgearbeitet hat, bezeichnet das Erlassen und Überwachen von Sanktionen als „low cost policy“. Denn kein Militärgerät kommt zum Einsatz, kein Soldat lässt sein Leben und die Kosten der Umsetzung liegen bei den privaten Unternehmen und beim Verbraucher.
Permanente ökonomische Bestrafung führt zum „Sanction Overkill“
Interessant: Die Expertin warnt vor der Überstrapazierung dieses Instruments. Die permanente ökonomische Bestrafung führe zum „Sanction Overkill“, weil am Ende alle ökonomischen Beziehungen politisiert würden. Viele Handelspartner verschwinden von der Landkarte. Die Lieferketten werden disruptiert. Die Preise steigen.
Und: Wirtschaftssanktionen treffen die normale Bevölkerung in den sogenannten Schurkenstaaten. Die Medikamentenversorgung ist betroffen, die Nahrungsmittellieferung stockt, Arbeitsplätze gehen verloren. Agathe Demarais sagt: „Langfristig wird so der amerikanische Traum in den sanktionierten Ländern zerstört und der Antiamerikanismus gezüchtet.“
Fazit: Henry Kissinger, der in dieser Woche nach Davos fliegt, ist der wortgewaltigste Advokat der friedlichen Koexistenz. Aber er spürt, dass er Boden verliert: „Alle wichtigen Mächte stützten sich bisher auf die Prinzipien der westfälischen Ordnung, aber keiner sieht sich als natürlicher Verteidiger des Systems.“
Die Weltelite sollte dem 99-Jährigen zuhören. Es gibt gute Gründe, die Rationalität der neuen „wertebasierten“ Außenpolitik zu bezweifeln.
Quelle: Focus.de