Über den (Un-)Sinn von CO₂-Zertifikaten
Emissionen produzieren und andere den Klimaschaden beheben lassen: Die Idee wird seit ihrer Einführung kritisiert. Zurecht, wie mehrere Enthüllungen zeigen. Trotzdem ist der Emissionshandel eine Chance – er muss nur neu gedacht werden.
Das Konzept Ablasshandel ist Jahrhunderte alt, funktioniert heute aber ebenso gut wie zu Zeiten Martin Luthers. Nur, dass an die Stelle persönlicher Verfehlungen klimaschädliche Emissionen erfolgreicher Konzerne getreten sind. Den Platz der Katholischen Kirche als Moralapostel und Kassenwart haben (Klimaschutz-)Organisationen eingenommen. Und aus den Ablassbriefen sind CO₂-Zertifikate geworden. Gleich geblieben ist das Konzept: (Umwelt-)Sünder kaufen sich frei. Unternehmen, die das Klima stark mit CO₂ belasten, können dafür bezahlen, dass andernorts ein Klimaschutzprojekt die Emissionen ausgleicht. NGOs, die Vereinten Nationen, aber auch die EU stellen sicher, dass die Projekte den verursachten Klimaschaden eins zu eins kompensieren. Dafür gibt es ein Zertifikat, mit dem Konzerne ihre Produkte dann als “klimaneutral” labeln dürfen.
Darauf hatten sich die Unterzeichner des Kyoto-Protokolls 1997 geeinigt. Der Emissionshandel ist eine Maßnahme, die keinen wirtschaftlichen Schaden verursachen sollte und ein Beispiel dafür sein könnte, wie wirtschaftliches Wachstum zusammen mit Klimaschutz funktioniert. Doch wie zu Zeiten Luthers geht die Rechnung auch heute nicht auf.
Als sich die UN Ende der 1990er für diesen Ablasshandel einsetzte, strich sie Waldschutzprogramme aus ihrem Programm. Viel zu kompliziert die Kontrolle, ob solche Projekte wirklich zur Kompensation taugen. Knapp zehn Jahre später setzten sich Ökonomen vom Weltwirtschaftsforum in Davos, die Climate Group (ein Zusammenschluss von Politikern und Unternehmern), mit dem internationalen Wirtschaftsrat und der IETA, der größten Lobbygruppe für den Emissionshandel zusammen und gründeten Verra. Verra ist eine Organisation, die den internationalen Ablasshandel im Namen des Klimaschutzes organisiert. Von Washington D.C. aus überwacht sie Umweltprojekte und verteilt Klimazertifikate an Umweltsünder. Unter anderem Volkswagen, Gucci, Apple und Gazprom profitierten von den vermittelten Waldschutzprojekten, die den Ausgleich garantieren sollen. Projekte, denen die UN misstraute.
Forscher fordern Verbot von CO₂-Zertifikaten
Wie Recherchen der “Zeit” und des britischen “Guardian” nun zeigen, hatte die Organisation gute Gründe dafür. Über 90 Prozent aller ausgestellten Zertifikate der Organisation Verra sollen wertlos sein. Damit hätten die beteiligten Unternehmen 89 Millionen Tonnen CO₂ in die Atmosphäre gepustet, ohne dass Gegenmaßnahmen ergriffen wurden. Laut “Zeit” entspricht das dem jährlichen Ausstoß von Griechenland und der Schweiz zusammen. Ähnliches enthüllte ein Rechercheteam der “Wirtschaftswoche” und des Onlinemagazins “Flip”. Demnach sollen fast 90 Prozent aller Uno-Projekte dem Klima nicht so helfen, wie vorgegeben. Die dafür ausgegebenen Klimazertifikate dürfte es nicht geben.
Forscher wie Kevin Anderson, Professor für Energie und Klimawandel an der Universität in Manchester, halten den gesamten Emissionshandel für gefährlich. “Wenn Menschen glauben, dass ihre CO₂-emittierenden Aktivitäten durch Kompensation abgedeckt sind, haben sie im Wesentlichen keinen Anreiz, ihre Emissionen wirklich zu reduzieren”, sagte er dem “Guardian”. Im schlimmsten Fall könnte der Handel die Emissionen erhöhen, weil Unternehmen davon ausgehen, dass der Klimaschaden mit Zertifikaten und Projekten sofort ausgeglichen wird.
Matthew Brander von der Universität im schottischen Edinburgh fordert, die Klimazertifikate zu verbieten. Brander ist Autor einer kanadischen Studie, die zeigt, wie Industriebetriebe tricksen und am Ende nur auf dem Papier grün werden. Für die Untersuchung, deren Ergebnisse im Fachmagazin “Nature Climate Change” erschienen, hatte sich das Forscherteam den Stromverbrauch verschiedener Unternehmen angesehen. Das Fazit: Die Emissionen gehen in zwei Drittel aller Fälle nicht zurück, weil die Unternehmen nicht auf Ökostromanbieter wechseln. Stattdessen kaufen sie Erneuerbare-Energien-Zertifikate, die belegen sollen, dass der Strom für die Produktion aus Solar- und Windparks stammt. Verkauft werden die Zertifikate von Ökostrom-Produzenten. Auf dem Papier sieht es so aus, als würden Unternehmen den Ausbau der Erneuerbaren fördern, was sie laut Studie in Wahrheit aber nicht tun.
“Der Zeitrahmen für die CO₂-Reduzierung (…) ist jetzt so eng, dass Unternehmen keinen Ermessensspielraum mehr haben, um den Emissionsausgleich als Mittel auf hohem Niveau zu nutzen”, kritisiert Anderson. Zumindest so wie bisher kann es nicht weitergehen. Schon gar nicht, wenn Wälder als Kompensationsprojekte herhalten. Denn dann müssen Bäume in Lateinamerika und andernorts unter allen Umständen stehen bleiben. Abholzungen sind dabei das geringste Problem, die können mit rechtlichen Regelungen gestoppt werden. Weitaus problematischer ist der Klimawandel selbst. Zunehmende Hitze und Dürren begünstigen Waldbrände. Bei einem Waldbrand am Lionshead Canyon in Oregon im August 2020 gingen vorläufigen Schätzungen zufolge Zertifikate mit 6,8 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid in Rauch auf.
Zertifikate können trotzdem zum Klimaschutz beitragen
Um das Klima zu retten, müssen Ökosysteme wie Ozeane und Wälder aber geschützt werden. Der Direktor vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, Johan Rockström, bestreitet zwar das Missbrauchspotenzial der Klimazertifikate nicht, glaubt aber, dass der Emissionshandel auch nützlich sein kann. Die CO₂-Kompensation biete Anreize, um “dringend benötigte Investitionen zu generieren, beispielsweise in Naturklimalösungen (wie Wälder)”, sagt der dem “Guardian”. Als wirtschaftliche Investition, um die Wälder zu erhalten, seien die CO₂-Zertifikate sinnvoll. Die Debatte um den Emissionshandel sollte sich mehr darum drehen, wie Waldschutz und Aufforstung über solche Zahlungen finanziert werden könnte, findet auch Simon Lewis, Professor für Global Change Science vom University College London. “Das Problem mit den Kohlenstoffmärkten ist, dass sie ein wider Westen sind, sie sind unreguliert.” Der Emissionshandel sei zwar berechtigt, “weil wir keine anderen Mechanismen haben, aber er muss stark reguliert werden, sonst kaufen die Leute heiße Luft”.
Was muss sich ändern, damit Klimazertifikate noch ihrem Zweck dienen?
- Als reines Kompensationsmittel kann der Emissionshandel nicht funktionieren. Klimaforscher sind sich einig, dass Länder und Unternehmen bis 2050 klimaneutral sein müssen – also keine bzw. kaum Emissionen mehr ausstoßen dürfen. Damit müssen sie ihren CO₂-Ausstoß verringern und nicht auslagern.
- Dafür müssten Gesetze geändert werden. Artikel 6 des Pariser Vertrages erlaubt es Ländern wie der Schweiz, Verträge mit emissionsarmen Staaten abzuschließen und deren Emissionsbudget aufzukaufen. Auch die EU hat ihre Klimaschäden laut einer Studie ausgelagert. Das Umweltbundesamt schlägt in einem Bericht vor, dass Kompensationen erst eingesetzt werden, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft sind.
- Neue Gesetze gegen Greenwashing könnten eingeführt werden. Ein Beispiel hierfür ist Frankreich.
- CO₂-Zertifikate können zusätzlich Umweltprojekte finanzieren und fördern, die sonst nicht umgesetzt werden könnten.
- Die Kosten für die CO₂-Kompensationen müssen nach Experteneinschätzung steigen. Klimaschäden pro Tonne Kohlenstoffdioxid kosten um die 200 Euro, bisher zahlen Unternehmen für die Zertifikate Cent oder niedrige Eurobeträge pro Tonne – teils im einstelligen Bereich. Laut einem Bericht des University College in London müsste der Preis zum Ausgleich bis 2030 um das Zehnfache steigen.
Nach dem Skandal um die wertlosen Klimapapiere will sich der Drogeriekonzern Rossmann von seinem Label “klimaneutral” verabschieden. Man habe “den Glauben” an das “tote Label” verloren, sagte Geschäftsführer Raoul Rossmann in einem Interview mit der “Zeit”. Die Drogeriekette sei zwar nicht von dem Skandal betroffen, trotzdem wird das Label nur noch bis Jahresende in den Regalen zu sehen sein – so lange, bis die letzte Verpackung verkauft ist. Das Klima-Budget von einer Million Euro solle dann woanders hinfließen. Für die Kunden macht der ganze Klima-Ablass keinen Unterschied: “Wir haben ohnehin festgestellt, dass das “Klimaneutral”-Label für die Kunden letztlich gar nicht entscheidend ist. Den meisten scheint das egal zu sein.”
Auch einige Unternehmen könnten sich insgeheim über den Skandal freuen, weil sie das investierte Geld nun anderweitig nutzen können. Zumindest liefern die Recherchen eine willkommene Begründung, glaubt der Rossmann-Chef. Er hat den Glauben an den Klimaschutz indes nicht aufgegeben. Zumindest verliert er kein Wort darüber, dass der Rossman-Konzern sein Aufforstungsprojekt in Nicaragua aufgeben wird.
Quellen: Universität Stuttgart, University College London,Bericht zu künftigen Klimakompensationszahlungen, Umweltbundesamt, Verra, “Zeit“, “Guardian“, Deutschlandfunk, “Süddeutsche Zeitung“, “Stern“