Die “Letzte Generation”: Gefahr für Demokratie und Verfassung?
Foto: Anja Lehmann
Betreutes Denken: Weshalb die “Letzte Generation” die offene Debatte verhindert.
Die radikale Klimabewegung entfremdet sich zunehmend von demokratischen Prinzipien. Der mündige Bürger ist nicht das Ziel, sondern wird zum Problem.
Flughafenblockaden, Klebeaktionen und Vandalismus in Museen: Die Letzte Generation hat in den vergangenen Monaten in Deutschland für reichlich Aufregung gesorgt. Nun aber geht die Aktivistengruppe noch einen Schritt weiter: Neuerdings fordert sie zur Bewältigung der Klimakrise die Einrichtung eines «Gesellschaftsrats», was auf die Selbstabschaffung der parlamentarischen Demokratie hinauslaufen würde.
Die bestehenden demokratischen Verfahren reichen für einen «angemessenen Umgang mit der Klimakrise» nach Meinung der Aktivisten nicht aus. Da die Regierung «am Kurs der Klimavernichtung» festhalte, müsse «für die Rettung der Menschheit» eine «Wende» eingeleitet werden. Nicht das Parlament solle fortan die Politik bestimmen, sondern ein durch Losverfahren bestimmter «Gesellschaftsrat». Dieser müsse in einer «Notfallsitzung» Maßnahmen erarbeiten, für die «keinerlei demokratische Zweifel geltend gemacht werden können».
Den Medien die Schlagzeilen einflüstern
Als Abbild der Gesellschaft, so die Aktivisten, müsse dieser Rat nach Kriterien wie Alter, Geschlecht, Bildungsabschluss und Migrationshintergrund besetzt werden. Anders als Bürgerräte, welche die Politik auch heute schon beraten, soll das neue Gremium aber nicht empfehlen, sondern entscheiden. Die Politik müsse sich verpflichten, die Beschlüsse «eins zu eins» umzusetzen.
Auch den Medien kommt eine Rolle zu: «Wenn ein Rat einberufen wird, sollte das schon vor Beginn auf den Titelseiten der Zeitungen stehen», dekretieren die Aktivisten. «Das ganze Land fiebert mit, was der Rat bespricht.»
Trotz des eigentümlichen Verständnisses von Pressefreiheit wird eine solche Abwicklung der parlamentarischen Demokratie in Teilen der deutschen Medien bis anhin mit Wohlwollen betrachtet. Auch in der Wissenschaft mehren sich seit einigen Jahren kritische Stimmen zur repräsentativen Demokratie. Bezeichnend hierfür ist etwa der belgische Politikwissenschaftler David Van Reybrouck, der mit seinem Zwischenruf «Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist» vor einigen Jahren in den Feuilletons gehörig Staub aufwirbelte.
Der Zufall bringt die Entscheider
Sicher: Die Fürsprecher von Losentscheidungen können ihre Position bis in die Antike zurückverfolgen. Schon im klassischen Griechenland wurden Ämter per Los vergeben – etwa der Athener «Rat der 500». Und nicht zuletzt Aristoteles sah es als Krönung der Volksherrschaft, «wenn die Herrschenden durch das Los bestimmt werden». Auch im europäischen Mittelalter wurden Ämter so vergeben – etwa in italienischen Stadtstaaten. Und bis in die Gegenwart haben sich Elemente dieser Zufallsselektion in Geschworenengerichten gehalten.
Kategorischer Widerspruch gegen den Zufall als Instrument der politischen Repräsentation ist angesichts dieser Tradition kaum statthaft. Und tatsächlich belegen gegenwärtige Schieflagen in gewählten Parlamenten ja deutliche Schwächen des Status quo. Frauen, Nichtakademiker, Menschen mit Migrationshintergrund: Keine dieser Gruppen ist in westlichen Parlamenten adäquat vertreten. Und die Frage, ob diese Unwucht eine optimale Problemanalyse behindert, ist zweifellos berechtigt.
Weniger Demokratie wagen?
Ein strukturelles Problem aber mit dem «Gesellschaftsrat» der Klimakleber ist: Seine Einrichtung hätte eine wirklich machtvolle Zufallsaristokratie zur Folge. Zugehörigkeit zu ihr wäre das politische Äquivalent zu einem Sechser im Lotto.
Weniger Demokratie wagen: Das hingegen wäre die Bilanz für die bisher mit Wahlrecht ausgestatteten Staatsbürger. Statt Teilhabe bliebe ihnen tatsächlich nur das «Mitfiebern» vom Seitenrand.
Ganz zu schweigen von den Widersprüchen der Umsetzung. Welche demografischen Gesichtspunkte wären zu berücksichtigen? Geschlecht, Bildungsstand, Alter und Migrationshintergrund, meinen die Aktivisten. Doch was ist mit unzähligen weiteren Kategorien, wie nicht zuletzt der politischen Positionierung? Diese müsste fairerweise analog zu den bestehenden ideologischen Kräfteverhältnissen im Land abgebildet werden. Wenn der «Gesellschaftsrat» am Ende aber doch nur Parlamente spiegelt, wäre erst recht zu fragen, worin sein Mehrwert liegt.
Verantwortung ist an Wahl gebunden
Ebenfalls abgeschafft wäre das Prinzip der Verantwortung. Schließlich können ungewählte Entscheidungsträger nicht per Wahl zur Rechenschaft gezogen werden. Das Fehlen dieses Korrektivs aber ist für die Aktivisten kein Manko, sondern Gewinn. Denn Zufallsentscheider, so die Letzte Generation, könnten weitreichendere Entscheidungen treffen, weil sie sich nicht «bloß Partei- und Lobbyinteressen» verpflichtet fühlen. An diesem Punkt ist es, an dem sich die autoritäre Dimension des Vorhabens ganz ungeschminkt zeigt.
Denn es geht den Fürsprechern tatsächlich nicht um mehr Partizipation, sondern um weniger. Trotz allen Lippenbekenntnissen ist der mündige Bürger nicht das Ziel, sondern das Problem. Es geht darum, fehlende Mehrheiten an der Wahlurne durch den Kunstgriff der vermeintlich legitimeren paritätischen Abbildung zu umgehen, um zu den gewünschten Ergebnissen zu gelangen.
Die Suche nach Parlamentsalternativen fällt ja nicht zufällig in die Zeit der disruptiven Wahlergebnisse vom Brexit-Votum bis zum Trump-Sieg. Wie wohltuend heben sich da die bisherigen Erfahrungen mit mehr oder weniger stark kuratierten Bürgerversammlungen ab! Verfügte ein solches Gremium in Irland nicht die gleichgeschlechtliche Ehe? Und gelangte so nicht der Klimaschutz in die französische Verfassung?
All das mag begrüßenswert sein. Doch objektiv ist eine Institution, die in erster Linie durch das erhoffte Ergebnis legitimiert wird, alles, aber nicht demokratisch. Die exakt ausbuchstabierte Erwartungshaltung gegenüber dem «Gesellschaftsrat» aber lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass eben nicht offene Debatte, sondern betreutes Denken angestrebt wird.
Gezielte Einflussnahme
«Wir glauben daran, dass Menschen dazu in der Lage sind, sich für das Richtige zu entscheiden, wenn sie von Expert:innen informiert werden», bekennt die Letzte Generation. Gibt es eine schlüssigere Definition technokratischen Sendungsbewusstseins?
Für die Aktivisten bringen «Expert:innen» die «Teilnehmenden» auf «einen möglichst gleichen Wissensstand». Dieser aber wird nicht dem Zufall überlassen. Er wird von einem Beirat bestimmt, der «Vertreter:innen aus dem Parlament, der Wissenschaft, Wirtschaft, der Zivilgesellschaft» vereint – nicht zuletzt «von der Klimakatastrophe besonders betroffene Akteur:innen».
An dieser Stelle aber wird die fragwürdige Verschmelzung von Wissenschaft und Aktionismus besonders augenfällig. Die Letzte Generation sieht sich bekanntlich als rationale Stimme «der» Wissenschaft. Die gezielte Einflussnahme durch handverlesene Expertise ist deshalb ein wenig überzeugender Versuch, den vorgeblichen Schulterschluss mit «der» Wissenschaft» nun auch gesamtgesellschaftlich zu erzwingen. Nicht zuletzt die in Aussicht gestellten «professionell moderierten Kleingruppen» des Rats lassen erahnen, wohin die Reise geht.
Ziel ist eine gelenkte Diskussion, die sich durch die Abwesenheit von unterschiedlichen Perspektiven auszeichnen dürfte. Hinter diesen Versuchen aber steht die Befürchtung, ein offener Diskurs könnte die erstrebte klimaasketische Läuterung der Gesellschaft nicht befördern, sondern konterkarieren.
Denn die Ziele des Gesamtunternehmens stehen ja bereits fest: «Nullemissionen, Kreislaufwirtschaft, ein Ende der Verschwendung und eine klimapositive Landwirtschaft». Lediglich über den Weg dorthin darf das «Notfallgremium» noch einen betreuten Diskurs führen.
Verordnete Transformation
Die Vorgaben zeigen: Es geht nicht um eine Wiederbelebung der Demokratie, sondern um das Verordnen einer ökologischen Transformation, die auf demokratischem Weg nicht erreichbar ist.
Diese Entfremdung von parlamentarischen Prinzipien aber ist Teil eines weit größeren, sich Abwendens von demokratischen Werten in immer größeren Teilen der Klimabewegung. Die vermeintliche Alternativlosigkeit der Apokalypse führt zur permanenten Beschwörung des Ausnahmezustands, zum Umgehen der Parlamente und zur Konstruktion pseudodemokratischer Legitimation über häufig rein elitäre «zivilgesellschaftliche Koalitionen».
Dabei ist auch klar: Natürlich haben die Aktivisten recht, wenn sie auf die bestehenden Schwächen demokratischer Institutionen verweisen. Deswegen ist das Hinterfragen auch etablierter Formen der Politik legitim. Das aber bedeutet keinen Freibrief für die Diffamierung und Marginalisierung der einzigen Institutionen, die tatsächlich über demokratische Legitimation und politische Steuerungsmöglichkeiten verfügen: die frei gewählten Parlamente.
Klimaaktivisten verweisen regelmäßig auf die klimatischen Kipppunkte, die nicht nur rasches Handeln, sondern auch Umsicht erforderlich machen. Kipppunkte jedoch gibt es nicht nur im Klima, sondern auch in der Politik. Die Selbstentmachtung gewählter Parlamente jedenfalls wäre mit Kipppunkt noch euphemistisch beschrieben.
Michael Bröning ist Politikwissenschaftler und Mitglied der SPD-Grundwertekommission.
Quelle: NZZ
Eine Antwort
Sowas sinnloses. Die sollten mal zum nächsten Forstamt gehen, oder zum nächsten Förster und freiwillig Bäume pflanzen. Die Jobcenter suchen immer Waldarbeiter. Da wäre der Umwelt mehr geholfen UND der Gemeinschaft. Dann amortisiert sich so ein Flug nach Bali auch nach 1000 gepflanzten Bäumen. 😅