Neue deutsche Achtsamkeit, oder: Wie die politische Dauerberieselung die ganze Gesellschaft lähmt

Neue deutsche Achtsamkeit, oder: Wie die politische Dauerberieselung die ganze Gesellschaft lähmt

In Deutschland reicht die woke Community derzeit bis tief in Regierungskreise und verengt den öffentlichen Raum der Vernunft systematisch. Zur Wort Akrobatik der politischen Debatte.

Es hat sich herumgesprochen in Europa: Es läuft nicht rund in Deutschland: ökonomisch, gesellschaftlich und politisch. Zu den Krisensymptomen hinzu kommt der Aufstieg der rechtspopulistischen, in Teilen rechtsextremen AfD. Wenn in diesen Wochen Bundestagswahl wäre, würde sie mit rund 20 Prozent zur zweitstärksten Partei.

Eine verfehlte Energie- und Migrationspolitik, massive Defizite bei Digitalisierung, Wohnungsbau und Bildung, dazu ein Sozialstaat, der längst an der Grenze seiner Möglichkeiten angelangt ist – der einstige Exportweltmeister ist zum Abstiegskandidaten geworden.

Auf einem Gebiet aber bleibt Deutschland unschlagbar, einzigartig, auf Weltniveau: In Sachen Moral und politischer Rhetorik macht den Deutschen so schnell keiner was vor. Egal, wie die graue Realität aussieht: Deutschland ist Vorbild für den Rest der Welt. Das bleibt der eherne Anspruch, dessen historische Begründung komplex ist, sich aber dennoch in einem Satz zusammenfassen lässt: Wer früher das absolut Böse verkörperte, muss heute für das absolut Gute stehen.

Gefühle von Peinlichkeit

Die stärkste Waffe dieser Selbstsuggestion ist die Sprache, die offensive Kommunikation mit der Bürgerin und dem Bürger, die vollmundigen Absichtserklärungen, tollkühnen Versprechungen und semantischen Girlanden aus dem «Phrasenschrank» (Sascha Lehnartz), die sich zu riesigen inhaltsleeren Wortwirbeln vereinigen. Da wird «niemand zurückgelassen» und jede Menge «Geld in die Hand genommen», um die «strukturellen Defizite», wo auch immer sie sich befinden, «sozial gerecht auszugleichen».

So wird das private Dasein mehr und mehr in die Sphäre einer kirchentagsähnlichen Achtsamkeit hineingezogen, die der amerikanischen Wokeness entspricht. Auch das Alltagsleben unterliegt jetzt einer gesellschaftspolitischen Oberaufsicht, die inzwischen sogar über offizielle Petz-Portale verfügt wie die «Meldestelle Antifeminismus», eine Art TÜV für die richtige Gesinnung.

Das hat auch Kanzler Olaf Scholz, bekennender Feminist, begriffen, der in seinem letzten Wahlkampf das Wort «Respekt» so oft in den Mund nahm wie der Pastor das Amen in der Kirche, auch wenn nicht immer ganz klar wurde, wer eigentlich genau vor wem Respekt haben sollte. Die der englischen Fußballfan-Kultur entlehnte Kanzler-Prophezeiung «You’ll never walk alone!» erzeugte jedoch eher ein Gefühl von Peinlichkeit. Man könnte es auch als Bedrohung auffassen, von dem Mann nie mehr allein gelassen zu werden. Olaf is watching you?

Immer mehr Menschen wollen einfach nur ihre Ruhe haben vor der politischen Dauerberieselung, all den Ermahnungen und Appellen zur Weltrettung von morgens bis abends. Der moralisch-pädagogische Komplex reicht inzwischen von der Zwangs gegenderten Seminararbeit an der Uni über die komatösen, eher einschläfernd politisch korrekten denn informativen «Heute»-Nachrichten im ZDF bis in den Heizungskeller des frisch geerbten Elternhauses.

«Brandmauer» und «Brandbrief»

Derweil hat ein Begriff Karriere gemacht, der eigentlich aus der Bauwirtschaft kommt: die «Brandmauer». Sie ist, so kann man nachschlagen, eine Wand, die das «Übergreifen von Feuer und Rauch von einem Gebäude oder Gebäudeteil zu einem anderen verhindern» soll. Die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die Nachkriegszeit, als aus den Trümmerlandschaften in Berlin, Köln, Hamburg, Dresden und Frankfurt immer wieder Mauern emporragten, die den Bomben auf wundersame Weise widerstanden haben. Es waren Brandmauern.

In der politischen Rhetorik werden sie nun rituell verwendet, um jede Art der Zusammenarbeit mit der AfD auszuschließen und zum Tabu zu erklären. So löblich die Absicht dieses Unterfangens ist, so sehr suggeriert sie, dass man auf diese Weise einen messerscharfen «Trennungsstrich zwischen uns und dem Feind ziehen» kann, wie es in den siebziger Jahren die terroristische RAF formulierte.

Mao Zedong, der Spiritus Rector, dessen revolutionäres Motto lautete: «Einen bestrafen und hundert erziehen», sprach auch von einer «klaren Linie», wie mit dem Rasiermesser gezogen. Was damals der Klassenfeind war, ist heute eine rechtsnationalistische Partei, die in Teilen Ostdeutschlands auf Zustimmungswerte von über 30 Prozent kommt, in Thüringen die stärkste politische Kraft ist und jüngst die ersten Bürgermeister- und Landratsposten erobert hat.

Die neue deutsche Gretchenfrage – «Steht die Brandmauer noch, oder bröckelt sie schon?» – arbeitet mit einem vor allem in den Medien äußerst beliebten und sehr schlichten Sprachbild, das die Vorstellung erzeugt, damit sei alles gesagt und getan, ganz so, als gäbe es dies- und jenseits von diesem imaginären Mauerwerk nicht die geringsten Gemeinsamkeiten – als könne man Gut und Böse so säuberlich voneinander trennen wie Eiweiß und Eigelb.

Schon ein kurzer Blick in Dörfer, kleine Gemeinden und mittelgroße Städte zeigt, dass das Unsinn ist. Ob im Gemeinderat, wo über die neue Feuerwache gestritten wird, im Wirtshaus, in der Kirche oder im Fußballverein – selbstverständlich gibt es unzählige Berührungspunkte, die auch zu innerfamiliären Verwicklungen führen können. Dass Parteien eine offizielle Zusammenarbeit mit der AfD verweigern und sich klar gegen sie positionieren, ist ihr gutes Recht.

Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass erhebliche Teile der Bevölkerung sich ganz anders verhalten, ambivalent reagieren, zum Teil mit Zustimmung und Sympathie, dabei auch auf Freundschaften oder geschäftliche Beziehungen Rücksicht nehmen. Eine schwierige Gemengelage, an der aber, und das ist dann doch wieder des Pudels Kern, die Liebhaber der Brandmauer-Metapher, die sonst gegen jede «Ausgrenzung» kämpfen und «niemanden zurücklassen» wollen, eine Mitschuld tragen.

Denn genau sie sind es, die auf den anderen Pol der buchstäblich verrückten deutschen Debatte einfach nicht angemessen reagieren: auf den inzwischen auch schon sprichwörtlich gewordenen «Brandbrief», der meistens, man ahnt es, von Bürgermeistern und Landräten kommt. Unter ihnen Mitglieder von Grünen und SPD, die in teilweise dramatischen Worten vor der Überforderung durch weiter wachsenden Zustrom von Flüchtlingen und Migranten warnen und eben nicht nur mehr Geld, sondern eine Begrenzung der Zuwanderung insgesamt fordern.

Je stärker die Realitätsverweigerung, desto höher müssen die Brandmauern gezogen werden. Je mehr die drängenden Probleme klein- und schöngeredet werden, desto mehr Beton und Spachtelmasse müssen angerührt werden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, man könne in der liberalen, demokratischen Gesellschaft dauerhaft Mauern errichten, und sei es gegen noch so unangenehme Auffassungen und unschöne Probleme.

Böhmermann und die wahre Gesinnung

Hier kommt ein drittes B-Wort ins Spiel: der Brandstifter als Biedermann. Seine propagandistische Leitfigur heißt Jan Böhmermann. Er kassiert Millionen Gebührengelder vom öffentlich rechtlichen ZDF, um sein Geschäftsmodell als Blockwart der einzig wahren Gesinnung zu betreiben: als Abschnittsbevollmächtigter des politischen Diskurses und oberster Nazijäger. Satire ist das schon lange nicht mehr. Böhmermann repräsentiert exakt jene diffus links-grüne Arroganz und Selbstgerechtigkeit, in der jeder Andersdenkende als «Nazi» verunglimpft wird – so wie jüngst der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, der, wie taktisch geschickt auch immer, Banalitäten über die Realität in der Kommunalpolitik äußerte.

Es ist genau dieser aalglatte, realitätsblinde Hochmut einer vermeintlich kritischen, klimabewussten, woken Community, der bis tief in Regierungskreise reicht und den öffentlichen Raum der Vernunft systematisch verengt. Wenn die politische Mitte, ob liberal, konservativ oder schlicht gut bildungsbürgerlich, bei jedem neuen Vorschlag, etwa zur Änderung des europäischen Asyl- und Einwanderungsrechts, per inszenierter Empörungswelle in die Nähe der AfD gerückt und damit delegitimiert wird, ist die Brandmauer schon zum Brett vor dem Kopf geworden.

Das lähmt die ganze Gesellschaft und fördert die politischen Extreme. Wie das zu ändern wäre? Mit mehr Mut in der Mitte der Gesellschaft. Die jüngst panikartige Reaktion der CDU lässt da leider nicht viel Hoffnung aufkommen.

Reinhard Mohr ist ein deutscher Publizist. Gerade ist von ihm (gemeinsam mit Henryk M. Broder) erschienen: Durchs irre Germanistan – Notizen aus der Ampel-Republik. Europa-Verlag, München 2023. 224 S.

Quelle: NZZ

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