Deutschland ist wie sein Fußball: Selbstgefällig und bequem

Deutschland ist wie sein Fußball: Selbstgefällig und bequem

Sie lesen einen Auszug aus dem Newsletter «Der andere Blick» von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer speziell für Leserinnen und Leser in Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.

2022 ist ein Pleitenjahr für die Bundesrepublik: Hohe Energiepreise, gescheiterte Russlandpolitik und jetzt noch das Aus in Katar. Das Land ist wieder mal ziemlich weit unten angekommen. Aber Deutschland hat einen Trumpf.

Die blamable Vorstellung der deutschen Nationalmannschaft in Katar taugt als Parabel für den Zustand des Landes. Typischerweise durchlaufen Politik und Fußball in Deutschland drei Phasen:

  • Phase 1: Erst ist die Bundesrepublik stark, ihre Wirtschaft dominiert die Weltmärkte. Man ist Weltmeister, ob im Export oder im Fußball. Dann wird das Land selbstgefällig.
  • Phase 2: Spätestens wenn sich das Land als «Modell Deutschland» feiert, ist unübersehbar: Es geht bergab. Die Anstrengungen lassen nach, der Abstieg beginnt.
  • Phase 3: Irgendwann wird der Leidensdruck so hoch, dass sich Deutschland auf seine Qualitäten besinnt. Konsequent packt es dann die Probleme an und löst sie mit einer Gründlichkeit, die manchmal schwindlig macht. Dann beginnt der Wiederaufstieg und damit eine neue Runde im ewigen Schweinezyklus.

So war es in den neunziger Jahren, als Deutschland nach der Wiedervereinigung in Schockstarre verfiel. Das Land galt bald als kranker Mann Europas und landete im Wirtschaftsvergleich in der EU auf einem der letzten Plätze. Auch die Nationalmannschaft fuhr nach dem WM-Titel 1990 vor allem Misserfolge ein. Deutschland, ziemlich weit unten.

Quelle: Weltbank

Stellvertretend für den vorausschauenden Teil des Volkes verlangte Bundespräsident Roman Herzog, durch Deutschland müsse ein Ruck gehen. Der Deutsche Fußballbund verbesserte Jugendförderung und Trainingsmethoden. Jürgen Klinsmann ließ modernen Fußball spielen und verzauberte Deutschland schließlich mit dem Sommermärchen.

Zu viele Ausländer erhalten Sozialhilfe

Seither hat das Land allerdings wenig unternommen, um seine Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder sogar zu steigern. Wie der Fußballweltmeister von 2014 ruht es sich auf den Lorbeeren aus. Angela Merkel nutzte die sechzehn Jahre nicht, um auf Schröders Fundament aufzubauen. Stattdessen erhielt jede Gruppe ein Subventiönchen: Rentnerinnen, junge Eltern, Autofahrer, Bauherren und Hoteliers.

Merkel wurde zum Jogi Löw der deutschen Politik. Sie klebte an der Trainerbank in einer endlosen Nachspielzeit. Der Abpfiff war eine Erlösung. Ihr Team, die CDU, stieg ab. Es ist inhaltlich und personell noch weit von einem Aufstieg in die Regierungsliga entfernt.

Der Deutsche Fußballbund ernannte Hansi Flick, Löws früheren Assistenten, zum Bundestrainer. Bloß keine Veränderungen, kein frischer Wind und keine unkonventionellen Ideen.

Die deutschen Wähler waren klüger und schickten vor einem Jahr eine neue Mannschaft aufs Spielfeld. Diese ist allerdings schnell in den alten Trott verfallen. Im Bereich Wirtschaft und Soziales kann sie nach einem Jahr nur eine Reform vorweisen. Das Bürgergeld dient auch dazu, mit dem Hartz-Trauma der SPD fertigzuwerden. Mehrkosten von fünf Milliarden Euro sind recht viel Geld für sozialdemokratische Vergangenheitsbewältigung.

Zugleich kümmert sich die Reform nicht um den Elefanten im Raum des Wohlfahrtsstaats: 40 Prozent der Bezieher von Sozialhilfe sind Migranten. Im Jahr 2010 lag ihr Anteil noch bei 20 Prozent. Ukraine-Flüchtlinge sind dabei nicht eingerechnet.

Sämtliche Regierungen seit dem Ende der Ära Kohl versuchten, den Anteil der Sozialstaats-Einwanderer zu senken und die Zahl qualifizierter Migranten zu erhöhen. Geschehen ist das Gegenteil. In Deutschland erhalten Asylbewerber im Vergleich zu anderen europäischen Ländern frühzeitig umfangreiche Leistungen, auch wenn sie zu einem hohen Prozentsatz keine Aussicht auf Anerkennung haben.

Der Staat dehnt sich immer weiter aus

Der Sozialstaat tut sich mit Veränderungen schwer. «Reformen» beschränken sich wie zu Merkels Zeiten hauptsächlich darauf, mehr Geld ins System zu pumpen.

Echte Strukturreformen wie Schröders Agenda 2010 gibt es ebenso wenig wie ordnungspolitische Reformen. In den null Jahren herrschte Aufbruchstimmung, und der Staat veränderte sich unter dem Eindruck des Zeitgeistes.

Manches gelang dauerhaft, wie die große Reform der Unternehmensbesteuerung, die zur Auflösung der «Deutschland AG» führte. Manches blieb Stückwerk, so die Föderalismusreform und die Reform der Alterssicherung; und manches wird seither sukzessive verwässert, darunter die Agenda 2010.

Anstelle von Dynamik herrschen inzwischen Bequemlichkeit und Stagnation. Man gibt sich mit Durchschnitt zufrieden. Es ist wie im Fußball. Bei der Europameisterschaft 2021 schied Deutschland bereits im Achtelfinale aus. Ein Warnschuss, doch der Ruck blieb aus. Die Quittung ist schmerzhaft. Nach Russland 2018 flog das Team in Katar zum zweiten Mal in Folge bei einer WM in der Vorrunde raus. So etwas gab es in den letzten sechzig Jahren nicht.

Auch in der Politik bewegt sich nicht viel. Das Steuersystem ist nach wie vor eines der kompliziertesten der Welt. Das unflexible Arbeitsrecht lässt es in vielen Fällen attraktiver erscheinen, einen Arbeitnehmer in der Schweiz anzustellen als in Deutschland.

Der Subventionsabbau, vor einigen Jahren noch ein Lieblingsthema in Sonntagsreden, ist nicht nur zum Erliegen gekommen. Mit Pandemie-Hilfen und allen Programmen zur Verbilligung der Energie geht die Entwicklung rasant in die Gegenrichtung.

Weniger Staat und mehr Freiraum für Privatinitiative? Das ist so ausgeschlossen wie zuletzt ein Treffer von Thomas Müller im Nationaltrikot. Im Gegenteil, in der Pandemie verhängten Kanzlerin und Ministerpräsidenten Freiheitsbeschränkungen, wie man sie zuvor nur mit Diktaturen in Verbindung gebracht hätte.

Politiker und Journalisten klopften einander auf die Schulter, weil man die Pandemie zunächst besser bewältigte als Italien und Frankreich. Modell Deutschland. Am Ende lag die Mortalitätsrate jedoch nicht niedriger als in der Schweiz, aber zu wesentlich höheren Kosten und mit erheblich mehr Restriktionen.

Die Politik verbreitete zugleich ein Menschenbild, das im Bürger nur eine Gefahrenquelle sieht: als Virenschleuder, bald einmal als CO₂-Emittent. Es erfordert keine große Fantasie, um sich vorzustellen, dass das in der Pandemie geschaffene Instrumentarium eines Tages dazu dient, die Bürger zu einem klimaschonenden Verhalten zu zwingen.

Strukturreformen sind dringender denn je

Die Ampelkoalition nimmt für sich in Anspruch, sie sei völlig damit ausgelastet, die Folgen von Energiekrise und Inflation abzumildern. Das stimmt, aber die dabei angewandten Mittel verschlimmern die Probleme.

Die Regierung greift zur Gießkanne, um die Bürger zu entlasten. Wieder einmal soll viel Geld richten, dass man zu strukturellen Verbesserungen nicht willens ist.

Es fehlt eine Idee, wie der Exportweltmeister seine Wettbewerbsfähigkeit erhöhen kann in einer Zeit, in der die stärkste Branche, der Automobilbau, unter den Druck der regulierungswütigen EU wie der asiatischen Hersteller von Elektrofahrzeugen kommt.

Deutschland wird zudem vom Ukraine-Krieg wirtschaftlich härter getroffen als andere westeuropäische Länder. Das ist der Preis für seinen faustischen Pakt mit Putin. Energieintensive Unternehmen spielen mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen. Oder sie verzichten auf Investitionen und bauen lieber neue Produktionsstandorte im Ausland. Die BASF errichtet ein riesiges Chemiewerk in China. Zugleich kündigt ihr CEO Martin Brudermüller an, man werde die Aktivitäten in Europa so schnell wie möglich und dauerhaft reduzieren. Das dürfte am stärksten den Stammsitz in Ludwigshafen in Mitleidenschaft ziehen.

Umso wichtiger wären Strukturreformen, um die Position in Europa und in der Welt zu sichern. Das ist anstrengend. Noch steckt man daher lieber den Kopf in den Sand. Deutschland spielt im Moment wirklich den Fußball, der zu seiner Politik passt.

Aber der Leidensdruck nimmt zu, zudem ist die Fähigkeit zur Selbstkritik in Deutschland ausgeprägt. Deshalb wird man irgendwann Reformen in Angriff nehmen. Im Fußball scheint dieser Punkt erreicht, immerhin musste Oliver Bierhoff zurücktreten.

In der Politik dauert es wohl noch, bis es wieder nach oben geht. Dann beginnt auch dort die nächste Runde des Schweinezyklus.

Tags: ,

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Chat beginnen.
1
Haben Sie Fragen?
Hallo,
kann ich helfen? Ich bin immer für Sie da.