Der Mensch, ein Verbrecher an der Natur? – Prometheus in uns selbst
Krieg und Corona, Klimaerwärmung und Inflation – weltweit jagen sich die Krisen, und man zweifelt, dass einer weiß, wie sich die Dinge zum Besseren wenden können. Den Weltuntergang beschwörend, stellen viele die Menschheit an den Pranger. Ein fundamentaler Irrtum.
Nie, scheint es, war es um den Menschen so schlecht bestellt wie in dem Zeitalter, das nach ihm benannt ist. Im Anthropozän hat der «anthropos» einen denkbar schlechten Stand. Einerseits wird dem Menschen jede Transzendenz radikal abgesprochen. In der progressiven westlichen Ideologie des 21. Jahrhunderts ist er ein rein kontingentes Wesen oder eher Nichtwesen ohne jeden überweltlichen, heilsgeschichtlichen Bezug, im Grunde nur ein aus der Art geschlagenes Tier. Andererseits aber ist der Mensch der «dieu trompeur», der böse Geist der Schöpfung, der gleich einem widernatürlichen Monster das globale Ökosystem zerstört hat – und es nun unter Aufbietung ebenso übernatürlicher Anstrengungen vor dem Zusammenbruch retten soll.
Dieses negativistische Menschenbild folgt einer extremen Stereotypisierung. Dabei stehen zwei einander diametral widersprechende Wertungen nebeneinander: radikale Abwertung und überzogene Grössenerwartung. An das als minderwertigst verschriene Wesen wird die höchste aller Anforderungen gestellt, nämlich «die Rettung der Welt». Wie das zusammengehen soll, weiss keiner.
Die Stellung des Menschen in der Welt
Doch mit welchem Selbstbewusstsein soll denn der Mensch heute das Klima und sich selbst retten, wenn ihm das Recht auf ein partikulares Selbstbewusstsein, also die Berechtigung, sich als etwas Besonderes zu fühlen, zugleich abgesprochen wird? Diese Frage leitet hin auf die vielleicht entscheidende, verschämt verschwiegene Frage des Anthropozäns: Was ist das Wesen des Menschen, wenn die Religion darauf offenbar keine Antwort weiss? Was ist die Stellung des Menschen in der Natur und zur Natur?
In seinem Hauptwerk «Die Antiquiertheit des Menschen», das als Urschrift der Kritik am Anthropozän gelesen werden kann, benannte der Philosoph Günther Anders vor fast siebzig Jahren als Archetyp des Homo sapiens die Figur des Prometheus. Prometheus, wörtlich der Vorausdenkende, hatte die Götter überlistet und den Menschen das Feuer gebracht. Dafür bestraften ihn die Götter zwar äusserst grausam; die Menschen aber waren nun im Besitz des Feuers – der Prozess der Kultivierung und damit der Zivilisation konnte beginnen.
Der Mensch steht über der Natur; aber nicht aus Hochmut oder Anmassung, sondern weil dies seine Disposition ist.
Günther Anders war geprägt durch die philosophische Anthropologie, die sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte. Ihr gemäss ist der Mensch, anders als das Tier, nicht in eine Lebenswelt eingebettet, die ihm wie eine zweite Haut ansitzt, sondern er muss sich je eine spezifische Umwelt bauen. Diese Umwelt ist nie rein-natürlich, sondern immer schon überformt durch den Willen des Menschen, sich sicher zu fühlen. Umwelt ist stets auch etwas ideologisch Vorgestelltes und sodann auch etwas technisch Hergestelltes.
Anders als das Tier besitzt der Mensch nicht nur ein dumpfes Selbstgefühl, sondern ein reflexives Selbstbewusstsein. Der Philosoph Alexandre Kojève, ein Zeitgenosse von Anders, macht das daran fest, dass der Mensch anders als das Tier in der Lage sei, Selbstmord zu begehen. Ein Tier kann wohl leiden, so wie es auch Mitleid empfinden und zeigen kann; aber es kann nicht am Dasein verzweifeln. Der Mensch aber zweifelt im Grunde beständig am Dasein, weil das Gefühl, in dieses Dasein nicht eingebettet, nicht «eingeweltet» zu sein, jenes Gefühl ist, mit dem er auf die Welt kommt und das ihn später nie mehr verlässt.
Fluch und Segen zugleich
Die Existenzphilosophie, die nicht zufällig kurz nach der Anthropologie als philosophische Disziplin etabliert wurde, prägte für diese fundamentale menschliche Verfasstheit den Begriff des «Existierens», des Herausstehens. Der Mensch ist das Wesen, das immer schon aus seiner natürlichen Lebenswelt heraussteht; das sich von Anfang an aufgerufen fühlt, sich aus seinem nackten biologischen Dasein heraus ein höheres, qualifiziertes Sein zu schaffen. Der Mensch steht über der Natur; aber nicht aus Hochmut oder Anmassung, sondern weil dies seine vorgegebene Disposition ist. Diese Zwitterstellung des Menschen ist sein Schicksal, sein Fluch und Segen zugleich – für ihn selbst wie eben für seine nahe wie seine globale Umwelt, die Erde.
Indem er aus der Schöpfung heraussteht und ihn dieses Herausstehen bewusstseinsmässig vom Rest der Schöpfung isoliert, kämpft der Mensch von Anfang an zwar nicht gegen die Natur, aber um eine Natur, die ihm weniger bedrohlich und weniger geheimnisvoll gegenübersteht. Deshalb malen schon die Steinzeitmenschen an die Wände der von ihnen bewohnten Höhlen Naturwesen, um sie im Bild zu bändigen. Und auf der Jagd erfinden sie ausgefeilte Strategien.
Von Beginn an also ist der Mensch Naturbearbeiter, Techniker, Klimawandler. Sein Zeitbewusstsein zwingt ihn geradewegs dazu, vorauszudenken, «historisch» zu leben und damit auch die Natur in eine Geschichtlichkeit hineinzuzwingen. Entsprechend hat er sein Klimawandeln weiter vorangetrieben als jede andere Spezies. In seinem Verlangen, sich eine sichere und komfortable Lebenswelt zu schaffen, hat der Mensch die Erde an den Rand der Zerstörung gebracht. Kann man ihm daraus moralisch einen Strick drehen?
In den letzten fünfhundert Jahren hat das klimawandlerische Tun des Menschen überschiessende Züge angenommen. Auf die europäische globale Expansion zur Zeit der Renaissance folgte ab dem 18. Jahrhundert die Industrialisierung mit der massenhaften Verfeuerung fossiler Brennstoffe; weiter ging es mit der grossflächigen Verschiebung und Verunreinigung des Erdreichs seit Mitte des 20. Jahrhunderts sowie mit der Erzeugung anthropogener radioaktiver Strahlung durch Atomwaffentests und Atomunfälle. Mit der wachsenden Weltbevölkerung und der globalisierten Konsumgesellschaft geht eine chronische Übernutzung der Ressourcen einher. Das Feuer, das Prometheus einst den Menschen gebracht hat, ist nun dabei, die Erde selbst zu verzehren.
Der Fortschritt nimmt Fahrt auf
Dass es so weit kam, war weder Leichtsinn noch böser Wille. Der Mensch sah sich immer wieder Katastrophen ausgesetzt, die seinen Überlebenswillen bestärkten und seine Erfindungsgabe befeuerten. Vor fünfhundert Jahren zu Beginn der Renaissance erlebte Europa Hungersnot und Pest; von Anfang des 16. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert hinein machte dem Kontinent die Kleine Eiszeit zu schaffen, woraus die Naturwissenschaften und die Industrialisierung den Ausweg wiesen.
Es ist sinnlos, in diesem Tun ein sakrilegisches Freiheitsverständnis und eine naturgeschichtliche Schuld des Menschen zu suchen. Der Mensch ist kein Tier, er ist etwas Exzeptionelles, Besonderes. Wenn aber heute vom Menschen als von einem verrückt gewordenen Teil der Schöpfung gesprochen wird, der – wie es sich der Posthumanismus wünscht – am besten wieder in die Natur zurückgegliedert werden müsse: Dann offenbart sich in diesem Plan genau jenes technizistische Verständnis vom Menschen, das eigentlich zurückgewiesen wird.
Denn ein Mensch, der zurück in den «Urwald» ginge, wäre eben kein Mensch, sondern ein künstliches Tier. Die Natur «auszubeuten», sie zu formen und zu erschaffen – eben darin zeigt sich, im Guten wie im Schlechten, der Mensch in seiner «natürlichen» Form.
Wer solches offen ausspricht, sieht sich heute gern dem Vorwurf der Hybris ausgesetzt. Dabei handelt es sich in Wahrheit um grundlegende anthropologische Tatsachen. Den Menschen zum Verräter und Verbrecher an der Natur zu stempeln, mag Ausdruck einer ehrlichen tiefen Traurigkeit darüber sein, aus der Natur herauszustehen. Der Philosoph Hans Blumenberg schrieb einmal, Melancholie sei die Grundform des extramarinen Lebens.
Zum Ziel aber, die Erderwärmung zu stoppen, das Ökosystem auf dem präanthropozänen Stand zu halten und damit auch den Fortbestand des Menschengeschlechts zu sichern, trägt diese Selbstbezichtigung und Selbstabwertung nichts bei. Weder ist der Mensch nur ein Tier unter anderen, noch ist er der böse Geist der Schöpfung.
Tragischer Heroismus
Wenn immer von der prometheischen Seite des Menschseins die Rede ist, dann zumeist naserümpfend und vorwurfsvoll. Heroismus gilt als gleichbedeutend mit Egoismus, Gewalt, Brutalität. Doch das ist falsch. Heroismus ist etwas Tragisches, Gebrochenes. Der seine Welt der Natur abringende Mensch ein unglücklicher, trauriger Held, wie der zur Strafe an den Felsen gekettete Prometheus oder wie der an die Klippen geschleuderte zerschundene Odysseus.
Der Mensch ragt aus der Natur heraus und steht über der Natur, ob uns das gefällt oder nicht. Der Mensch ist Prometheus, der Vorausdenkende, und Odysseus, der Listenreiche; beide mussten, um sich zu retten, der Natur – und sich selbst – Gewalt antun. Darin liegt die ontologische Auszeichnung, darin liegt die spezifische Würde des Menschen. Wollte die Menschheit hinter diesen prometheischen Stand zurück, müsste sie nicht nur ihre industrielle Lebensweise aufgeben, sondern auch ihr handwerkliches und sprachliches Vermögen. Wir müssten aufhören, ein «zôon lógon échon» zu sein – ein Tier, das über Vernunft verfügt.
Dass solches unmöglich ist, liegt auf der Hand. Es ist sinnlos, uns für eine Verfasstheit zu verurteilen, die uns «von der Natur» (oder von den Göttern) zugeteilt ist. Vielmehr gilt es, unsere natürliche Bestimmung, über die Natur hinaus zu handeln und in sie einzugreifen, tiefer zu reflektieren. Bis zum Anthropozän taten wir alles, um uns selbst vor der feindlichen Natur zu schützen; nun muss es darum gehen, um unseres eigenen Überlebens willen zusätzlich auch «die Natur» zu retten.
Konstantin Sakkas lebt als Philosoph und Historiker in Berlin und arbeitet als Sachbuchkritiker und Essayist unter anderem für den SWR 2 und für Deutschlandfunk Kultur.