Wie Minderheiten sich in die Sackgasse manövrieren

Wie Minderheiten sich in die Sackgasse manövrieren

«Alte weiße Männer», «Boomer», «Genderunwillige»

Henning Beck. Wir leben im Zeitalter der Sichtbarkeit von Minderheiten. Was früher mediale Randnotizen waren, ist heutzutage im Zentrum der Berichterstattung – und der gesellschaftlichen Debatte. Ob es sich auf der Straße festklebende Klimademonstranten sind, protestierende Impfgegner oder sich für Multigeschlechtlichkeit aussprechende Trans-Verbände: Der öffentliche Fokus liegt auf dem, was früher mit Nichtbeachtung gestraft wurde.

Allen Bewegungen ist gemein: Sie sind in der Minderheit und wollen gehört werden. Sie treten selbstbewusst, mitunter radikal auf, um ihre Anliegen zu verbreiten – und reagieren empört, wenn ihre Meinung nicht die notwendige Aufmerksamkeit erfährt. Die Frage ist: Ist es für eine Demokratie gefährlich, wenn das Momentum einer Minderheit medial wichtiger wird als die Meinung der Mehrheit?

Zunehmend schaffen es Minderheiten, Mehrheitsmeinungen zum Kippen zu bringen. Entgegen der landläufigen Vorstellung, dass es dafür eine leitmediale Unterstützung braucht, setzen sich solche Minderheiten oftmals organisch gegen die vorherrschenden Medien durch. In der Sozialpsychologie ist dieses Phänomen als «Theorie der kritischen Masse» bekannt.

Hartnäckig, was die Rollen von Frauen anbelangt

Es existieren Kipppunkte, an denen eine Minderheit so groß geworden ist, dass sich die Mehrheitsmeinung plötzlich ändert. Diese kritische Größe ist in der Praxis immer unterschiedlich. So haben schon Einzelpersonen ein gesamtes Gesellschaftsbild verändern können. Man denke nur an Rosa Parks, die sich 1955 in Montgomery/Alabama weigerte, ihren Sitzplatz für einen weißen Fahrgast zu räumen, und mit diesem Busboykott den Grundstein für die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA legte. Üblicherweise liegen Meinungskipppunkte bei etwas über 25 Prozent.

Sobald eine Minderheitenmeinung mehr als ein gutes Viertel der Leute erreicht, schließen sich so viele weitere Personen an, bis die Meinung zur Mehrheitsauffassung geworden ist. Was Geschlechterfragen angeht, sind Gesellschaften allerdings besonders hartnäckig: Eine Minderheit muss beispielsweise auf fast 40 Prozent anwachsen, bis sich die Sichtweise über die Rolle von Frauen in Führungspositionen wandelt.

Eine Voraussetzung für den Meinungsumschwung ist, dass die Minderheit geduldig und beharrlich auftritt. In einem der berühmtesten Sozialexperimente der 1970er Jahre ließ der französische Psychologe Serge Moscovici Probanden in Sechsergruppen die Farbe von Dias beurteilen. Alle Dias waren in unterschiedlichen Blautönen gehalten, doch zwei vom Versuchsleiter in die Gruppen geschmuggelte Komplizen behaupteten steif und fest, es handle sich um grüne Dias. Das Ergebnis: Knapp ein Drittel der Versuchsteilnehmer gab daraufhin an, ebenfalls grüne Dias gesehen zu haben. Allerdings nur dann, wenn die Minderheit selbstbewusst auftrat. Je deutlicher eine Minderheit erkennbar ist, desto klarer auch das Angebot für potenzielle Gruppenmitglieder.

Jeder wird zum Mittelpunkt der Welt

Seit etwa zwanzig Jahren setzt sich der Prozess der Individualisierung der Medienlandschaft auch digital durch. Menschen werden persönlich angesprochen. Es gibt nicht «Facebook», es gibt «dein persönliches Facebook». Jeder sieht ein anderes Amazon, bekommt andere Ergebnisse von Google angezeigt. So wird jeder zum Mittelpunkt der Welt. Kein Wunder, wenn sie sich permanent um einen dreht. Mit diesem Geschäftsmodell zersplittert man eine Gesellschaft – und ihre Meinungsbildung.

Während vor dreißig Jahren das Geschäftsmodell in den Medien noch darin bestand, jeden Menschen mit Nachrichten und Informationen zu versorgen, ist diese mediale Vollversorgung auf dem Rückzug. Wer hört sich schon das an, was alle anderen auch hören? Stattdessen lassen wir uns, siehe Spotify, so individuell wie möglich bedienen.

Der «Querdenker» und seine gesellschaftliche Relevanz

Aus sozialpsychologischer Sicht ist diese Entwicklung genial, denn sie bedient genau jene psychologischen Effekte, die für die sozialen Kipppunkte entscheidend sind: Minderheiten verbünden sich zu konsistenten Gruppen, die viel klarer abgrenzbar werden. Je robuster und überzeugender eine Minderheit ist, desto kleiner kann sie sein, um sich gegen eine Mehrheit durchzusetzen. Zum ersten Mal in der Mediengeschichte wird auf diese Weise die Dynamik von Minderheitenbewegungen in Echtzeit sichtbar. Und wer interessiert sich schon für die Mehrheitsmeinung, wenn man auch über eine radikale Minderheit berichten kann? Es wird über das berichtet, was «trendet», die Minderheitengruppe ist selbst zum Ereignis geworden – und bekommt dadurch gesellschaftliche Relevanz.

Man erinnere sich, mit welcher Mischung aus Verwunderung, Abscheu und Faszination über die «Querdenker»-Demonstrationen während der Corona-Pandemie berichtet wurde. Dabei sympathisierten nur etwa 12 Prozent mit den Ideen der «Querdenker».

Direkt in die Sackgasse

Diese Aufmerksamkeit kommt für Minderheiten einem Pyrrhussieg gleich. Denn so wichtig ein konsistentes und geduldiges Auftreten ist, so sehr opfert man seine Anschlussfähigkeit. Das ist die Ironie: Die Methoden, die Minderheiten heute ihre Aufmerksamkeit bescheren, sorgen gleichzeitig auch dafür, dass sie eben nicht sofort die Mehrheitsmeinung ins Wanken bringen. Wenn Aktionismus gegen andere Gruppen, gegen «alte weiße Männer», «Boomer», «Genderunwillige», gemacht wird, schaffen sich Minderheiten ihre eigene Sackgasse: Sie sind als Gruppe zwar sehr homogen – aber zu abgegrenzt, als dass sie mehrheitsfähig wären. Menschen lehnen das übertriebene Gendern ab, auch wenn die Mehrheit zustimmt, dass mehr für Gleichberechtigung getan werden sollte.

Konkret erlebbar ist das ebenfalls bei den Klebeprotesten für besseren Klimaschutz. 86 Prozent der Deutschen lehnen es ab, dass man sich für besseren Klimaschutz auf die Straße klebt. Die Klimaaktivisten der «Letzten Generation» betonen: «Es ist nicht nötig, dass wir die Mehrheit hinter uns haben in den Aktionsformen. Es ist unser Vorhaben, etwas zu bewegen.» Da fragt man sich schon, wie jemand in einer Demokratie etwas bewegen will, wenn er explizit nicht die Mehrheit hinter sich hat.

Wer sich politisch unter diesen Bedingungen auf eine Minderheitenmeinung einlässt, verlässt den Boden eines demokratischen Willensbildungsprozesses. Es wäre die Tyrannei der Minderheit. Wir brauchten dann auch keine Wahlen mehr, sondern könnten Expertengremien entscheiden lassen. Es wäre das Ende von Demokratie.

Martin Luther King und Nelson Mandela

Das alles bedeutet nicht, dass wir in einer Demokratie Minderheiten nicht schützen müssen. Es ist das unbedingte Ziel einer pluralistischen Gesellschaft. Ob sich gesellschaftliche Umdenkprozesse in den Köpfen der Menschen durchsetzen, entscheidet jedoch nicht die Ideologie.

Wer wissen will, welche wichtige Zutat Minderheitenbewegungen oftmals vergessen, wenn sie in einer Demokratie mehrheitsfähig werden wollen, sollte auf historische Figuren wie Martin Luther King oder Nelson Mandela blicken. Diesen war bewusst, dass sie nur dann die Gesellschaft verändern werden, wenn sie ein einendes Narrativ und eben nicht Konfrontation anbieten. In seiner berühmten Rede («I have a dream») betonte Martin Luther King explizit das gemeinsame Schicksal der amerikanischen Nation, Schwarz und Weiß verbunden auf dem Weg zur gemeinsamen Identität.

Nelson Mandela vermied bewusst den Konflikt mit der weißen Bevölkerung, verband hingegen ebenfalls das Schicksal der Weißen mit dem der Schwarzen – unter der einenden Identität eines gemeinsamen Landes.

Jede Minderheit muss sich, will sie nicht dauerhaft marginalisiert werden, folgende Fragen stellen: Welche gemeinsame Identität kann man der Mehrheit anbieten? Was ist unsere gemeinsame Erzählung für Veränderung? Für mehr Gleichberechtigung? Für mehr Klimaschutz? Für weniger Rassismus?

Wir rühmen uns dafür, in fortschrittlichen Zeiten zu leben – stattdessen stehen sich wieder einmal gesellschaftliche Fronten gegenüber. «Ich mag diesen Mann nicht, ich muss ihn noch besser kennenlernen», soll Abraham Lincoln gesagt haben. Immerhin derjenige amerikanische Politiker, der die Sklaverei beendete.

Henning Beck, Neurowissenschaftler, Autor und Science-Slammer, ist am Scene Grammar Lab der Universität Frankfurt tätig.

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