„Kleine Paschas“: Große Teile der Medien blenden die Realität einfach aus
Die gute Nachricht vorneweg: In Berlin werden die Schulzeugnisse demnächst gegendert. So hat es die Schulsenatorin verfügt. Die Schulleitungen sind angehalten, auf „adressatenbezogene Formulierungen, die zur Festlegung des Geschlechts auffordern“, zu verzichten, wie es in einer Mitteilung heißt.
Ab Sommer also: „Der/Die Lernende Hassan hat sich bemüht.“ Oder besser noch: „Ens Hassan hat am Unterricht teilgenommen.“ „Ens” ist das neue, inklusive Personalpronomen.
„Gehsdu Kotti?“ als Ersatz für „Wollen wir uns am Kottbusser Tor treffen?“
Ob Hassan weiß, wovon beim Gendern die Rede ist? Einer der weniger beachteten Aspekte in der Diskussion über die neuen Sprachregeln ist, dass sie eine ungemein komplizierte Angelegenheit wie die deutsche Sprache noch komplizierter machen. Viele sind schon aufgeschmissen, wenn der Lehrer „Gehsdu Kotti?“ nicht als Ersatz für „Wollen wir uns am Kottbusser Tor treffen?“ akzeptieren will und stur auf Subjekt, Prädikat und Objekt besteht.
Andererseits: Im Zweifel ist der Grundschüler Hassan beim Sprachverständnis ohnehin noch auf dem Niveau eines Vorschulkinds – so wie ein Drittel seines Jahrgangs. Da spielt es auch keine große Rolle mehr, ob er alles in seinem Zeugnis versteht oder nicht.
Wir haben es schwarz auf weiß: Rund 30 Prozent der Viertklässler verfehlen beim Schreiben die sogenannten Mindeststandards, also die Minimalanforderungen, die nicht von ungefähr ganz unten angesetzt sind. Nicht einmal die Hälfte erreicht den Regelstandard und damit das, was im Schnitt von Schülerinnen und Schülern in diesem Alter erwartet wird. Beim Rechnen sieht es nur geringfügig besser aus, wie eine Studie im Auftrag der Kultusministerkonferenz ergab. Bei Mathe beträgt der Anteil derjenigen, die am Ende der Grundschulzeit nicht einmal einfachste Aufgaben bewältigen können, 22 Prozent.
Darf man Probleme offen ansprechen?
Wir wissen auch, wer sich besonders schwertut. Es sind vor allem Kinder aus Familien mit einem sogenannten Migrationshintergrund. Der Abstand zu den Mitschülern aus Familien ohne unmittelbare Migrationsgeschichte ist allen Integrationsbemühungen zum Trotz nicht geschrumpft – er hat sich im Gegenteil seit 2017, dem Zeitpunkt der Publikation der letzten Erhebung, noch einmal deutlich vergrößert.
Aber darf man das überhaupt sagen? Oder verstößt das bereits gegen das Antidiskriminierungsgebot?
CDU-Chef Friedrich Merz hat sich gründlich in die Nesseln gesetzt, als er bei einem Auftritt bei „Markus Lanz“ darauf hinwies, dass es unter Einwandererfamilien einen Kern aufsässiger Schüler gebe, dem es an jedem Respekt gegenüber den Lehrkräften fehlen lasse und der sich über alle Regeln hinwegsetze. Merz sprach von „kleinen Paschas“. Die Äußerung wurde als so skandalös empfunden, dass die Diskussion darüber immer noch nicht ganz abgeebbt ist.
Surftipps:
Ich habe mir den Auftritt von Merz angesehen. Ich bin oft anderer Meinung als der CDU-Vorsitzende. Ich fand seine Bemerkung zum „Sozialtourismus“ zum Beispiel etwas töricht. Wenn etwas die Vorzüge einer touristischen Reise vermissen lässt, dann die Flucht aus Syrien, Afghanistan oder der Ukraine.
Merz gilt jetzt als Rassist
Aber im Fall der kleinen Paschas kann ich die Aufregung nicht nachvollziehen. Merz hat ausdrücklich hinzugefügt, dass die große Mehrheit der Leute, die von außerhalb nach Deutschland gekommen sind, eine Bereicherung darstelle, ja, dass es gerade in der migrantischen Community viele gebe, die sich über die jungen Tunichtgute besonders ärgerten. Es half nichts. Merz gilt jetzt als Rassist.
Was ist da los? Ich kann mir das Getobe nur so erklären, dass man eine Diskussion über Bildungsdefizite um jeden Preis vermeiden will. Teile der politischen Klasse haben offenbar beschlossen, die Realität einfach nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen.
Ich komme qua Heirat aus einem Lehrerhaushalt. Meine Schwiegermutter war bis vor Kurzem Realschullehrerin. Ich nenne hier aus Rücksicht auf sie nicht den Namen der Schule, an der sie tätig war. Ich will nicht, dass sie auch noch Schwierigkeiten bekommt. Aber die kleinen Paschas, die keinerlei Respekt zeigen, die kennt sie gut. Sie hat auch ihre Erfahrungen mit Vätern gemacht, die plötzlich in der Schule auftauchen, wenn ihre Söhne gemaßregelt wurden, und zwar um die Lehrerin zur Rede zu stellen.
Merkwürdige Wanderungsbewegung in Berlin
Wir reden hier wohlgemerkt von einer Realschule in einer Kleinstadt in Bayern. Sprechen Sie mal mit Lehrern aus Berlin oder Frankfurt: Es ist abenteuerlich, was man da zu hören bekommt. Es hat seinen Grund, warum sich kaum noch Pädagogen finden, die bereit sind, an Gesamtschulen zu unterrichten, wo der Anteil arabisch oder türkischstämmiger Schüler besonders hoch ist.
Auch das grüne Stammpublikum weiß selbstverständlich, wovon die Rede ist. Die Leute sind ja nicht blöd. Zu Beginn des neuen Schuljahrs kann man deshalb in Städten wie Berlin eine merkwürdige Wanderungsbewegung beobachten. Pünktlich zum Einschreibetermin gibt es eine auffällig hohe Zahl von Ummeldungen aus Vierteln wie Kreuzberg oder Neukölln nach Charlottenburg und Dahlem.
Es lebt sich super in Kreuzberg: toller Altbaubestand, jede Menge hippe Kneipen und Restaurants. Aber sein Kind auf eine Schule geben, wo der Migrantenanteil bei 80 Prozent liegt? Um Gottes willen! Also melden sich Papa oder Mama um, damit sich Lisa und Jonas im Einzugsbereich einer Schule befinden, an der die einzigen Ausländer, auf die man trifft, die Kinder von Diplomaten oder russischen Millionären sind.
Ich kenne einen Journalistenkollegen, der sich jeden Tag 40 Minuten von Kreuzberg ins Westend quält, damit der Sohn eine ordentliche Schule besucht. Vier Fahrten am Tag macht drei Stunden im Auto. Natürlich arbeitet der Vater für eine renommierte Zeitung, die auf das Engagement gegen Rassismus und Diskriminierung viel Wert legt.
Erklärung für die Aufregung über die Äußerungen von Merz
Wer will es den Eltern verdenken? Meinen Segen haben sie, ich würde nicht anders handeln. Ich halte allerdings auch keine Vorträge, warum das Wort „Pascha“ rassistische Vorurteile bediene. Möglicherweise liegt hier eine Erklärung für die Aufregung über die Äußerungen von Merz. Wenn Lebenspraxis und politisches Bekenntnis zu weit auseinanderklaffen, hat man nur die Möglichkeit, das Bekenntnis der Lebenspraxis anzupassen – oder die Wirklichkeit zu leugnen.
Die Zahlen sind, wie gesagt, eindeutig. Und die Lage wird nicht besser. Die stärksten Kompetenzrückgänge seien fast durchgängig für Schüler zu verzeichnen, die im Ausland geboren sind, heißt es in der Studie der Kultusminister. Bei Kindern, die mit ihren Eltern nach Deutschland kamen, liegt der Rückstand zwischen einem Dreivierteljahr und mehr als zwei Schuljahren. Bei Kindern der zweiten Generation, also Kindern, die bereits in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, beträgt er noch immer bis zu eineinhalb Schuljahren.
Das ist gewaltig. Es bedeutet, dass viele Schüler beim Übertritt auf eine weiterführende Schule gerade mal das Niveau eines Zweitklässlers erreicht haben.
Wir dürfen nicht jeden einen Rassisten nennen
Eine Erklärung ist die soziale Lage. Wer aus einer Familie stammt, in der bislang niemand Abitur oder Hochschulabschluss besitzt, hat schlechtere Voraussetzungen als sein Banknachbar aus dem Bildungsbürgerhaushalt. Aber das kann nicht alles sein. Auch Einwanderer aus Vietnam oder Korea sind nicht auf Rosen gebettet, dennoch verläuft ihre Bildungskarriere schon in der zweiten Generation unauffällig. Außerdem: Läge es allein an der sozialen Herkunft, dürfte es bei hier Geborenen keinen Unterschied zu Kindern aus deutschen Unterschichthaushalten geben. Den gibt es aber.
Man kann es so weiterlaufen lassen. Es wird halt ziemlich teuer. 44 Milliarden Euro geben wir jetzt schon jedes Jahr für die Unterstützung von Leuten aus, die entweder nicht arbeiten können oder nicht arbeiten wollen, weil das, was sie als Ungelernte verdienen würden, nicht so wahnsinnig von dem entfernt ist, was sie an Sozialhilfe bekommen.
Oder wir entscheiden uns, mal genauer hinzusehen, was schiefläuft. Das würde allerdings voraussetzen, dass man aufhört, jeden einen Rassisten zu nennen, der auf Integrationsprobleme hinweist. Ob wir dazu die Kraft haben? Ich bin mir nicht sicher.
Die Leser lieben oder hassen ihn, gleichgültig ist Jan Fleischhauer den wenigsten. Man muss sich nur die Kommentare zu seinen Kolumnen ansehen, um einen Eindruck zu bekommen, wie sehr das, was er schreibt, Menschen bewegt. 30 Jahre war er beim SPIEGEL, Anfang August 2019 wechselte er als Kolumnist zum FOCUS.
Fleischhauer selbst sieht seine Aufgabe darin, einer Weltsicht Stimme zu verleihen, von der er meint, dass sie in den deutschen Medien unterrepräsentiert ist. Also im Zweifel gegen Herdentrieb, Gemeinplätze und Denkschablonen. Vergnüglich sind seine Texte allemal – vielleicht ist es dieser Umstand, der seine Gegner am meisten provoziert.
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Quelle: Focus.de