Klassenkampf: Die Cello-Kinder der „Letzten Generation“ gegen die Arbeiterklasse
Oliver Pocher war neulich bei „Stern TV“. Es ging um Klimaschutz. Die „Stern TV“-Redaktion hatte Bilder vorbereitet, auf denen der Entertainer entweder aus einem teuren Auto ausstieg oder lässig an einem lehnte.
Es entspann sich eine Diskussion, ob Pocher ein besonders inniges Verhältnis zu Autos pflege (was er bestritt) und ob solche Fotos auch bei Grünen möglich wären (wie er behauptete). Es war ein Auftritt, weshalb man Talkshows schaut: ein wenig irre, aber auch irre lustig – bis sich Carla Hinrichs von der „Letzten Generation“, die zwei Stühle weiter saß, in die Diskussion einschaltete und mit bebender Stimme sagte: „Ich kann nicht glauben, dass wir in diesen Shows sitzen und 2023 diese Debatten führen. Ich kann es nicht mehr aushalten.“
Normalerweise ist an diesem Punkt die Diskussion vorbei. Wenn ein Klimaaktivist an das Weltende erinnert, herrscht spontan Betroffenheit. Nicht so bei „Stern TV“. Was antwortete Pocher? „Dann musst du gehen.“
Ich bin in dem Moment aus dem Stand zum Pocher-Fan geworden. Ich weiß, dieses Bekenntnis wird mein Ansehen in bestimmten Kreisen noch weiter ruinieren (sofern das überhaupt möglich ist). Aber ich bin an dieser Stelle nun einmal zur Wahrheit verpflichtet.
Schmerzgriffe der Polizei, Beschimpfungen von Autofahrern, Wutattacken
Von Frau Hinrichs war dann erst mal nichts mehr zu vernehmen. Wer Indigniertheit zu seinem Markenzeichen gemacht hat, dem bleibt nur indigniertes Schweigen, wenn ihm pochermäßig in die Parade gefahren wird. Darauf ist man bei der „Letzten Generation“ nicht eingestellt.
Schmerzgriffe der Polizei, Beschimpfungen von Autofahrern, Wutattacken – auf all das werden die Mitglieder in Seminaren vorbereitet. Aber nicht auf Pocher bei „Stern TV“. „Dann musst du gehen“ – ein solcher Satz liegt außerhalb der Vorstellungskraft einer Klimaretterin.
Es ist aus der Mode gekommen, die Welt als Welt von Klassengegensätzen zu sehen. Nicht einmal in der SPD ist davon noch die Rede. Lieber spricht man über die Gendergerechtigkeit, der es zum Sieg zu verhelfen gelte, den Kampf gegen den Rassismus und Kolonialismus in unseren Köpfen, den Weg zum Klimafrieden.
Auch deshalb ist der Disput zwischen Pocher, dem Trash-Comedian, der nie über den Realschulabschluss hinausfand, und der höheren Tochter aus Bremen, die für die Sache ihr Jurastudium (Berufsziel: Richterin) unterbrach, so aufschlussreich.
Der Klassenkampf ist zurück. Wenn sich die „Letzte Generation“ auf die A 100 setzt, um die Verkehrswende zu erzwingen, treffen zwei Welten aufeinander, die normalerweise streng getrennt sind.
Hier die Bürgerkinder, für die das Auto alles verkörpert, was in dieser Gesellschaft falsch läuft – dort das Proletariat, das den in die Jahre gekommenen Volkswagen sofort gegen einen ordentlich motorisierten BMW eintauschen würde, wenn es denn könnte. Man sieht es schon an den Namen. Eine Mandy oder Charlene sucht man unter den Aktivisten vergeblich.
Dafür ist der Raphael dabei und die Aimée und ganz viele Carlas natürlich. Die wenigen Arbeiterkinder, die man im Zweifel bei den Blockaden trifft, finden sich in den Reihen der Polizisten, die mit der Aufgabe betraut sind, die Straße wieder frei zu bekommen, auf die sich Raphael, Aimée und Carla geklebt haben. Vor zwei Monaten war der große Ver.di-Streik in München.
Wer konnte, war im Homeoffice geblieben
Also „Letzte Generation“ plus öffentlicher Dienst im gemeinsamen Bemühen um die Lahmlegung der Stadt. Ich hatte mich auf das Schlimmste eingestellt und war extra eine Stunde früher aufgestanden, um das Kind in die Schule zu fahren. Und dann? Die Straßen waren weitgehend leer, nur an den Bushaltestellen standen mehr Menschen als üblich.
Wer konnte, war einfach im Homeoffice geblieben. So ist es auch bei den Sitzblockaden: Gekniffen sind diejenigen, die aufs Auto angewiesen sind, weil sich ihre Arbeit nicht remote erledigen lässt. Also Verkäufer, Handwerker, Servicepersonal, die moderne „Working Class“ eben, die das alte Proletariat ersetzt hat.
Das erklärt zum Teil auch die Ruppigkeit der Auseinandersetzung. Eines der ersten Videos dokumentierte einen Lastwagenfahrer, der in so unmissverständlicher Form seinen Unmut über die Blockade zum Ausdruck brachte, dass die Flüche anschließend überblendet werden mussten.
Mit der Klimakrise hat sich auch der Blick auf die da unten verändert. In den siebziger Jahren stand die Arbeiterklasse den Vertretern der Intelligenz nicht näher, aber sie war wenigstens als revolutionäres Subjekt anerkannt.
Heute ist sie nur noch ein Residuum verlorener Kämpfe, deren Angehörige für alles stehen, was man in den besseren Kreisen zu verachten gelernt hat: billiges Essen, billige Witze, billigen Sprit. Der Protestantismus des Weniger funktioniert nicht ohne entsprechende Ausstattung.
Um verzichten zu können, braucht es eine materielle Grundlage, die Verzicht erstrebenswert macht. Es ist nicht ganz zufällig, dass mit Luisa Neubauer und Carla Reemtsma zwei Cousinen aus der berühmten Zigarettendynastie an der Spitze der Bewegung stehen.
Leute, die schon mit 19 Jahren Urlaubsbilder vom Machu Picchu verschickt haben, sehen anders auf die Welt als Menschen, für die bereits zwei Wochen Malle Luxus sind. Ist die „Letzte Generation“ eine kriminelle oder gar terroristische Vereinigung, wie manche meinen?
Sie ist jedenfalls eine ziemlich verwöhnte Generation. Mit zwei kleinen Kindern und einem schlecht bezahlten Vollzeitjob hat man schlicht keine Zeit, sich in Angst vor dem Klimatod zu verzehren.
Wortführer der Linken haben sich immer schwer getan mit dem Volk
Manche Obsessionen erledigen sich dadurch, dass man ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenkt. Deshalb empfiehlt der Psychiater ja dem depressiven Patienten auch viel Bewegung, um die Spirale des Grübelns zu durchbrechen.
Die Wortführer der Linken haben sich immer schwergetan mit dem Volk, dem großen Lümmel. Einerseits waren sie lange von einer sentimentalen Hinwendung erfasst. Vor allem der Arbeiter stand bei ihnen im Ansehen, der ehrliche Malocher, der am Hochofen schwitzt und Eisen biegt.
Anderseits waren sie immer wieder erschrocken, wenn sie ihm leibhaftig begegneten. Er ist so roh, so ungelenk, so anders, als man ihn sich vorgestellt hat. Schon in der Französischen Revolution mussten die Revolutionsführer erkennen, dass zwischen dem Volk, wie sie es sich erdachten, und dem Volk, wie es tatsächlich als revolutionäres Subjekt auf die Bühne trat, ein gravierender Unterschied bestand.
„Ich sage nicht, dass sich das Volk schuldig gemacht hat“, erklärte Maximilien de Robespierre im Februar 1793 nach Hungerunruhen und Plünderungen im Pariser Großmarktviertel. „Aber wenn das Volk schon aufsteht, sollte es dann nicht ein seiner Bemühung würdigeres Ziel haben, als es sich nur nach jämmerlichen Nahrungsmitteln gelüsten zu lassen?“
„Es stimmt. Die sind privilegiert“
So ist es seitdem immer gewesen: Die Avantgarde macht hochherzige Pläne, die Menge will sich erst einmal den Bauch vollschlagen. Das ist hochgradig enttäuschend, keine Frage.
Auf LinkedIn äußerte sich ein Professor der Hochschule für Fernsehen und Film München dieser Tage folgendermaßen über die Vertreter der „Letzten Generation“: „Es stimmt. Die sind privilegiert. Privilegierte Familien lernen beim Abendessen, über die Gesellschaft zu reflektieren und zu debattieren.
Danach wird Cello geübt. Ist das schlimm? Nein. Tiefe Erkenntnis kommt durch stundenlanges Philosophieren. Das ist tatsächlich ein Luxus, dafür Zeit zu haben. Das kann man den KlimaaktivistInnen aber nicht zum Vorwurf machen.
Sie werden sich ihrer Verantwortung einfach bewusst. Ich habe größten Respekt für diesen Mut.“ Lässt sich Klassenbewusstsein von oben schöner formulieren? Dank an alle Carlas, dass sie den Luxus ihrer freien Zeit nicht für sich behalten, sondern mit der Gesellschaft teilen!
Die Leser lieben oder hassen ihn, gleichgültig ist Jan Fleischhauer den wenigsten. Man muss sich nur die Kommentare zu seinen Kolumnen ansehen, um einen Eindruck zu bekommen, wie sehr das, was er schreibt, Menschen bewegt. 30 Jahre war er beim SPIEGEL, Anfang August 2019 wechselte er als Kolumnist zum FOCUS.
Fleischhauer selbst sieht seine Aufgabe darin, einer Weltsicht Stimme zu verleihen, von der er meint, dass sie in den deutschen Medien unterrepräsentiert ist. Also im Zweifel gegen Herdentrieb, Gemeinplätze und Denkschablonen. Vergnüglich sind seine Texte allemal – vielleicht ist es dieser Umstand, der seine Gegner am meisten provoziert.
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