Russlands Selbstverstümmelung
GASTKOMMENTAR
Riesiges Land, wenige Einwohner: Der Krieg gegen die Ukraine besiegelt Russlands Selbstverstümmelung
Russland ist das grösste Land der Erde, weist aber eine geringe Bevölkerungszahl auf, die den riesigen Raum zumal in Fernost nicht zu füllen vermag. Der Krieg gegen die Ukraine erscheint daher auch als demografischer Raubzug. Nun besiegelt er die Selbstverstümmelung.
Ist Demografie Schicksal? Glaubt man dem amerikanischen Politökonomen Nicholas Eberstadt, lassen sich Bevölkerungsgröße und Geopolitik nicht voneinander trennen: Eine Großmacht könne nur ein Land werden, das über eine «große Demografie» verfüge, so Eberstadt. Reichte die UdSSR mit einer Bevölkerung von 286 Millionen den USA demografisch noch das Wasser, so spielte Russland, das 1991 ein unabhängiger Staat wurde, mit der halbierten Bevölkerungszahl von 148 Millionen – bis 2020 sank sie auf 144 Millionen – in einer anderen Liga.
Barack Obama nannte Russland verächtlich «Regionalmacht», und diese Erniedrigung soll Putin dem ehemaligen amerikanischen Präsidenten nie verziehen haben. Ein dahinsiechendes Volk zu sein, ist ein russisches Trauma und ein Albtraum des Kreml. Eine geopolitische Vormachtstellung beansprucht Russland trotzdem.
Lebensfeindliche Klimazonen
An sich liegt Russland mit einer Geburtenrate von 1,5 Kindern pro Frau und einer schrumpfenden Bevölkerung im gesamteuropäischen Trend. Dennoch weist es Merkmale auf, die eher bei armen Entwicklungsländern vorkommen, wie etwa eine niedrige Lebenserwartung und eine hohe Mortalitätsrate, besonders bei den Männern im arbeitsfähigen Alter.
Während nach dem Zweiten Weltkrieg das Verhältnis zwischen den Geschlechtern infolge enormer Kriegsverluste auf 77 Männer zu 100 Frauen fiel, sieht es 2022 in der Altersgruppe über 35 Jahren nicht viel anders aus: 87 zu 100 – da steht sogar Simbabwe besser da. Die Ursache dafür ist im exzessiven Alkoholkonsum zu suchen, der das Sterben durch Leberschädigung und Kreislaufkrankheiten, Vergiftungen und Unfälle in die Höhe treibt. Es war kein Zufall, dass Michail Gorbatschow Mitte der achtziger Jahre versuchte, den Sozialismus durch ein Verbot der Spirituosen zu retten. Bekanntlich hatte er damit keinen Erfolg.
Im Grenzland zu China, wo sich 6,5 Millionen Russen 102,4 Millionen Chinesen gegenübersehen, ist das Gefühl vom «Raum ohne Volk» am schmerzhaftesten zu spüren.
Vor diesem Hintergrund mutet die Leere des unermesslichen Raumes, der seit Peter dem Grossen das russische Selbstverständnis prägte und der ganze Stolz der Sowjetmenschen war, besonders bedrückend an. Während zur Sowjetzeit Menschen, grösstenteils Männer, zu Millionen in den Gulag verfrachtet worden waren, um im hohen Norden Bodenschätze zu fördern und mit blossen Händen Kanäle und Eisenbahnlinien zu bauen, wurden sie in den politisch weniger repressiven Zeiten nach Stalins Tod nach Sibirien auf sozialistische Baustellen beordert oder mit überdurchschnittlichen Löhnen hinter den Polarkreis gelockt.
Lebensfeindliche Klimazonen waren in der Sowjetunion, verglichen mit denselben Breitengraden in Kanada und den USA, stark überbevölkert. Abgesehen von der Förderung der Bodenschätze war die dort angesiedelte Industrie unrentabel. Kein Wunder, kam nach dem Zusammenbruch der Planwirtschaft und mit der Vollbeschäftigung nach 1991 eine Abwanderung aus den wirtschaftlich depressiven Gebieten in Sibirien und Fernost in die Grossstädte des europäischen Russland in Gang. Doch auch der europäische Norden und Zentralrussland entvölkerten sich zusehends. Moskau und die Moskauer Region mit ihren 20 Millionen Einwohnern wurden zum wichtigsten Ziel der binnenrussischen Migration.
Mendelejew contra Malthus
Das Unbehagen an der demografischen Entwicklung trat jüngst beim Treffen von Präsident Putin mit handverlesenen Schülern im Rahmen des Marathons «Neues Wissen» am 1. September 2021 in Wladiwostok zutage, dessen Name wörtlich «Beherrsche den Osten» bedeutet. Bis 1860 hatte das Gebiet zu China gehört. Putin erzählte den Jugendlichen, dass Russland heute viel reicher an Menschen wäre, wenn die «russische Staatlichkeit» im 20. Jahrhundert nicht zweimal zerfallen wäre. Das erste Mal nach dem bolschewistischen Umsturz 1917, als der Staat grosse Gebietsverluste habe hinnehmen müssen, und das zweite Mal, als die Sowjetunion 1991 zerfallen sei. Fachleute glaubten, fügte er hinzu, dass die russische Bevölkerung heute über 500 Millionen Menschen zählen könnte. «Erkennt ihr den Unterschied?», fuhr er fort. «Die Macht des Staates wächst in geometrischer Weise . . . Es entstehen immer mächtigere Grundlagen für Entwicklung, Dasein, Wohlstand.»
Der «Fachmann», den Putin nicht nennen wollte, war der Universalgelehrte und weltberühmte Chemiker und Entdecker des Periodensystems chemischer Elemente Dmitri Mendelejew (1834–1907), der sich in seinen späten Jahren mit demografischen Prognosen beschäftigt hat. Anders als der britische Ökonom Thomas Malthus glaubte er, dass Bevölkerungswachstum nicht Erschöpfung der Ressourcen, Armut und Krieg aller gegen alle mit sich bringe, sondern Fortschritt und wachsenden Wohlstand bedeute. Darum sollte «die Ausarbeitung der Bedingungen für die Vermehrung der Menschen» höchstes Ziel der Politik sein.
In seiner Hochrechnung für das Russische Reich in den damaligen Grenzen (ohne Polen und Finnland) ging Mendelejew von einer ungebrochenen Fortsetzung des Bevölkerungswachstums zwischen 1,44 und 1,8 Prozent jährlich aus. Selbst bei einem bescheideneren Tempo «menschlicher Vermehrung» von 1,5 Prozent könnte demnach Russlands Bevölkerungszahl im Jahr 2000 auf 594 Millionen gestiegen sein – ein Wert, der jede Vorstellung sprengt.
Freilich konnte der Gelehrte nicht voraussehen, dass das Russische Reich bald schon von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, dann von Revolution, Bürgerkrieg und dem stalinistischen Terror und schliesslich vom Zweiten Weltkrieg mit seinen 27 Millionen Toten heimgesucht werden würde. Auch der Wandel von einer Agrar- zur Industriegesellschaft, mit dem ein Rückgang der Geburtenrate einhergeht, und nicht zuletzt die Möglichkeiten der Geburtenkontrolle lagen noch jenseits der damaligen Vorstellungen.
Die Ukrainer als Beute
Es erstaunt wenig, dass Mendelejews Prognose ab den neunziger Jahren vor allem in national-patriotischen Kreisen zur Bestätigung des «Genozids» am russischen Volk angeführt wurde, den die Oligarchen und der Westen zu verantworten hätten. Dass sie in Putins Rede auftaucht, ist kein Zufall. Dabei muten diese phantastischen Zahlen für die Gebiete in Fernost, welche von der Entvölkerung am stärksten betroffen sind und als Paradebeispiel für die demografische Krise in Russland gelten, besonders realitätsfremd an. An der Grenze zu China, wo sich 6,5 Millionen Russen 102,4 Millionen Chinesen gegenübersehen, ist das Gefühl vom «Raum ohne Volk» am schmerzhaftesten zu spüren.
Um Russlands Geltungsansprüche als Grossmacht legitimieren zu können, will Putin die russische Bevölkerungszahl mit allen Mitteln anheben. Vor diesem Hintergrund hätte die Ukraine, mit 41 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste postsowjetische Staat, im Krieg zur riesigen demografischen Beute werden sollen. Der Anschluss freilich sollte, wie im Fall der Krim 2014, möglichst schnell und verlustarm ablaufen. Nachdem sich dieser Plan als Illusion entpuppt hatte, ging Putin dazu über, das widerspenstige Land dem Erdboden gleichzumachen sowie dessen so begehrte demografische Ressource abzugreifen und zu zerstören. Fast ein Viertel der Ukrainer, überwiegend Frauen und Kinder, sind bis September 2022 in den Westen geflohen. In den umkämpften und besetzten Gebieten des Donbass blieben vor allem ältere Menschen zurück.
Dennoch gelang es dem russischen Militär, schätzungsweise 1,2 Millionen Flüchtlinge, unter ihnen rund 200 000 Kinder, aus den zerstörten und besetzten Gebieten ins Landesinnere zu verbringen oder zu verschleppen. Im Zuge dieser Operation wurden Tausende von Waisenkindern an russische Familien zur Adoption freigegeben.
Diese Beute erscheint jedoch im Vergleich zur geplanten «Entukrainisierung» der ganzen Ukraine nicht besonders hoch. Eine Million traumatisierter und in abgelegene Winkel des menschenleeren Territoriums der Grossmacht zwangsdeportierte «Neurussen» können dem anhaltenden eigenen Bevölkerungsschwund kaum Einhalt gebieten.
Eine demografische Katastrophe
Was absurderweise hinzukommt: Die Verschleppung von Ukrainern nach Russland wird die Zahl der seit Anfang der Invasion panisch ins Ausland geflüchteten Russen nicht kompensieren können. Nach der Gründung des unabhängigen Russland 1991 hatten schätzungsweise 4 bis 5 Millionen Menschen das Land auf Dauer verlassen; nach Beginn der «Spezialoperation» stieg die Zahl der Auswanderer zwischen März und Juni sprunghaft auf mehr als 450 000 an.
Russlands wichtigste Ressource, so Mendelejews Glaube, sollte der Reichtum an Menschen werden. Doch bis auf den heutigen Tag besitzt in Russland die «Ressource Mensch» im Unterschied zu Öl und Gas keinen Wert und darf ungestraft verheizt werden, diesmal als Kanonenfutter im Vernichtungskrieg gegen die Ukraine.
Nachdem Putin am 21. September eine Teilmobilisierung von 300 000 Reservisten verkündet hatte, schwoll an den Grenzübergängen zu den östlichen und südlichen Nachbarstaaten der Strom fliehender Männer und junger Familien fast um die gleiche Zahl an.
Wenn der Krieg weitere sechs Monate dauere, schrieb der Finanzexperte Maxim Mironow in der «Nowaja Gazeta», könnte die Zahl der Rekruten auf 700 000 bis zu 1 Million ansteigen. Die gesamten Verluste in der Generation der 20- bis 35-Jährigen würden sich dann auf 500 000 Getötete und Schwerverletzte summieren. Zudem würde eine weitere Million junger und gebildeter Männer Russland den Rücken kehren. Zusammen würde das mehr als 1o Prozent aller Männer dieser Altersgruppe ausmachen. Der demografische Schaden wäre gravierender als in der Wirtschaftskrise der neunziger Jahre und in der Corona-Krise zusammen.
Der Krieg ist das Gegenteil «menschlicher Vermehrung». Russland mit seiner niedrigen Geburtenrate, wo Männer ohnehin Mangelware sind und das unselige demografische Echo des Zweiten Weltkriegs bereits in der vierten Generation widerhallt, könnte mit dem Krieg in der Ukraine sein Potenzial an Human- und Wirtschaftskraft unwiederbringlich verspielen. Es ist einfach nur erschütternd, hier und heute der willenlos willigen Selbstzerstörung Russlands beizuwohnen.
Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin.